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Persönlichkeit: Wie Offenheit unsere Wahrnehmung verändert

Weltoffene Menschen sind kreativ, kulturbegeistert und lernbegierig. Dahinter stecken nicht allein andere Ansichten oder Freizeitinteressen. Wer offen für Neues ist, nimmt die Welt differenzierter wahr: Der Filter des Bewusstseins lässt unwichtige Informationen und widerstreitende Gefühle eher zu.
Ein aufgeschlagenes Buch mit Windrose, Gras und Baum vor weitem Horizont.

Was bedeutet es, »offen für Neues zu sein«? Denken manche Menschen einfach umfassender, verarbeiten sie eine größere Bandbreite von Informationen? Experimente von Persönlichkeitspsychologen zeigen, dass offene Menschen Dinge tatsächlich auf andere Weise verarbeiten und die Welt buchstäblich anders sehen als der Durchschnitt.

Die Eigenschaft entspricht am ehesten dem, was man landläufig unter Aufgeschlossenheit oder Weltoffenheit versteht. Fachleute sprechen jedoch von Offenheit für (neue) Erfahrungen oder einfach von Offenheit. Offene Menschen sind lernbegierig, kreativ und fantasievoll. Sie interessieren sich für Kunst, sind unersättliche Leser, hören leidenschaftlich Musik oder widmen sich anderen kulturellen Aktivitäten.

Politisch sind sie eher liberal eingestellt. Experten zufolge spiegelt sich darin eine größere »Breite, Tiefe und Durchlässigkeit des Bewusstseins« sowie die Freude daran, sich sowohl abstrakten Gedanken und Argumenten als auch sensorischen Eindrücken zu widmen. Mit anderen Worten: Offene Menschen beschäftigen sich mit den verschiedenartigsten Dingen – Wahrnehmungen, Empfindungen und Ansichten, die unseren Geist bevölkern. Information ist für sie Nahrung fürs Gehirn.

Diese abstrakten Überlegungen mögen akademisch wirken, aber sie fußen auf den konkreten Beobachtungen vieler Studien. Beispielsweise schneiden offene Menschen in Kreativitätstests besser ab, die das so genannte divergente Denken erfassen. Dabei müssen die Probanden eine Vielzahl unterschiedlicher Lösungen für ein einfaches Problem finden, etwa wozu man einen Ziegelstein alles verwenden kann.

Weniger offene Menschen kommen in der Regel auf weniger und auf offensichtlichere Antworten, wie Mauern, Häuser oder andere Dinge zu bauen. Hochgradig offenen Menschen drängen sich noch andere Verwendungsmöglichkeiten auf: Ein Ziegelstein kann als Waffe dienen, als Briefbeschwerer oder als Stütze für ein Sofa, dem ein Fuß abgebrochen ist. Oder er kann zerschlagen und zu Farbe verarbeitet werden. Selbst für die alltäglichsten Gegenstände fällt ihnen mehr als das Naheliegende ein.

Selbst für die alltäglichsten Gegenstände fällt offenen Menschen mehr als das Naheliegende ein

Etwas Ähnliches beobachten wir bei Studien zur »latenten Hemmung«. Dahinter steckt ein universelles Prinzip: Damit Menschen effektiv denken und handeln können, lernen sie, was sie nicht weiter zu beachten brauchen. Es wäre einfach zu viel, wenn wir sämtliche für unsere Sinne verfügbaren Information die ganze Zeit vollständig verarbeiten würden. Deswegen konzentrieren wir uns auf relevante Details und sortieren den Rest aus. Das Problem dabei ist, dass die aussortierte Information zu einem anderen Zeitpunkt noch nützlich sein könnte, aber dann ist es zu spät, um noch zu lernen, dass sie eben doch nicht so unwichtig war.

Ein umfassenderer Denkmodus?

Diesen Prozess können wir im Labor nachstellen, indem wir Probanden offensichtlich unwichtige Reize präsentieren, die später jedoch für eine neue Aufgabe von Belang sind. Bei den meisten Menschen führt die vorangehende Kategorisierung des Reizes dazu, dass sie dessen Bedeutung später schlechter lernen. Der kritische Reiz war für irrelevant befunden worden und ist nicht ins Bewusstsein gedrungen. Das gilt aber nicht für jene, die für diese »latente Hemmung« weniger anfällig sind. Das offenbart einen umfassenderen Denkmodus, ein »undichtes« Auswahlsystem, das Informationen durchlässt, die andere herausfiltern.

Diese Experimente zeigen, dass offene Menschen weniger zu so genannten blinden Flecken (»blind spots«) neigen, die uns dabei helfen, die komplexe Welt um uns herum auf das Notwendigste zu beschränken. Wie die Forschung zeigt, handelt es sich bei den blinden Flecken nicht nur um eine Metapher: Das visuelle System offener Menschen arbeitet anders.

Betrachten wir das Ausblenden von visuellen Informationen außerhalb unseres Aufmerksamkeitsfokus. Jeder hat das schon einmal erlebt, wenn man sich sehr auf eine Sache konzentriert und dabei etwas anderes übersieht, was sich eigentlich direkt vor den eigenen Augen abspielt – beispielsweise Fußgänger, die auf ihr Smartphone gucken und dabei den Radweg blockieren.

Die Pforten der Wahrnehmung klaffen weit auf

In einem klassischen Experiment zeigten Forscher Teilnehmern ein einminütiges Video von einem Basketballspiel und baten sie, die Pässe zwischen den Spielern in den weißen Trikots zu zählen. Während dieser Minute wanderte jemand in einem Gorillakostüm über das Spielfeld. Er guckte Richtung Kamera, schlug sich auf die Brust und verschwand wieder. Verblüffenderweise gaben die meisten Zuschauer an, nichts Ungewöhnliches oder Überraschendes beobachtet zu haben. Hochgradig offene Menschen hingegen zeigen diese »Blindheit« seltener: Sie bemerken Dinge, die andere ausblenden.

Meine Kollegen von der University of Melbourne und ich wollten an diese Beobachtungen anschließen. In einem kürzlich veröffentlichten Experiment untersuchten wir, wie eine offene Persönlichkeit mit einem visuellen Phänomen zusammenhängt: der binokularen Rivalität. Sie tritt dann auf, wenn man dem linken und dem rechten Auge unterschiedliche Bilder präsentiert. Das Gehirn kann dann kein kohärentes Bild erzeugen, weshalb die beiden Bilder vor unserem inneren Auge hin- und herwechseln – sie rivalisieren um den dominanten visuellen Eindruck. Doch manchmal brechen beide Bilder gleichzeitig durch das Tor unseres Bewusstseins und vermischen sich. Offene Menschen, so zeigte unsere Studie, sehen solche Mixbilder für längere Dauer als ein durchschnittlicher Betrachter. Es scheint, als ob die Pforten der Wahrnehmung bei ihnen weiter aufklaffen und mehr Informationen Einlass gewähren.

Widersprüche und gemischte Gefühle erlaubt

Wir haben auch untersucht, ob sich diese Befunde auf gemischte Gefühle übertragen lassen: die gleichzeitige Erfahrung widersprüchlicher Emotionen wie bittersüße Erinnerungen, nervöse Vorfreude und so weiter. Durchbrechen solche unvereinbaren Gefühle bei ihnen ebenfalls häufiger die Grenzen des bewussten Erlebens? Tatsächlich berichten sie häufiger davon, solche Gefühle zu erleben – ein weiteres Beispiel für die erhöhte Durchlässigkeit ihres Bewusstseins für komplexe Erfahrungen.

Was genau spielt sich im Gehirn offener Menschen ab, wenn sie dergleichen erleben? Darüber weiß man noch weit weniger. Einiges deutet darauf hin, dass der Botenstoff Dopamin neben einer Vielzahl anderer Funktionen auch den möglichen Wert einer Information signalisiert. Das könnte erklären, warum offene Menschen feinere Antennen dafür haben, alle möglichen Sinneseindrücke und Ideen zu entdecken und zu verarbeiten.

Ist Offenheit grundsätzlich ein Vorteil, oder gibt es auch Nachteile? Können wir den Grad unserer Offenheit verändern, und wenn ja, wie?

Einen anderen Hinweis liefert der Zusammenhang zwischen Offenheit und dem so genannten Default-Netzwerk, der Aktivität unseres Gehirns, während wir absichtslos die Gedanken schweifen lassen. Aber es bedarf weiterer Forschung, um herauszufinden, ob diese neuronalen Prozesse wirklich die Wurzel der flexiblen und umfassenden, »offenen« Informationsverarbeitung sind.

Während Persönlichkeitspsychologen dieses Merkmal immer besser verstehen, bleiben doch noch einige Fragen ungeklärt: Ist Offenheit grundsätzlich ein Vorteil, oder gibt es auch Nachteile? Können wir den Grad unserer Offenheit verändern, und wenn ja, wie? Ist das Merkmal allein Menschen vorbehalten, oder sind auch Tiere mehr oder weniger offen? Wie ist diese Eigenschaft entstanden? Wenn wir die Antworten auf diese Fragen kennen, werden wir noch besser verstehen, was Offenheit bedeutet und wie sie unsere Erfahrungen prägt und formt.

Der Text ist im Original am 15. August 2017 unter dem Titel »Openness to Experience: The Gates of the Mind« bei »Scientific American« erschienen.

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