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Teilchenphysik: Neutrinojagd am Ende der Welt

Mit dem IceCube-Experiment am Südpol haben Forscher flüchtige Elementarteilchen aus den Tiefen des Alls eingefangen. Sie wollen damit noch ungelöste kosmische Rätsel entschlüsseln.
Mitten im antarktischen Eis sucht der Detektor IceCube nach rätselhaften Teilchen aus dem All.

Seit 2010 steht am Südpol eines der ambitioniertesten Experimente der Physik: Tief eingelassen in das antarktische Eis fängt dort der Teilchendetektor IceCube flüchtige, hochenergetische Neutrinos aus dem Weltall ein. Auf diese Weise wollen wir ferne kosmische Phänomene untersuchen – insbesondere jene rätselhaften, energiereichen Vorgänge, die vermutlich die so genannte kosmische Strahlung erzeugen.

Neutrinos hinterlassen nur sehr selten Spuren im IceCube-Detektor. Ihre Masse ist verschwindend gering, und sie besitzen keine elektrische Ladung. Deshalb treten sie kaum mit Materie in Wechselwirkung und bewegen sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit. Die meisten Neutrinos aus dem All sausen geradewegs durch unseren Planeten hindurch. So waren mein Team und ich auch nicht überrascht, dass die Detektoren während der ersten Jahre der Messungen nichts Ungewöhnliches aufzeichneten. Das änderte sich jedoch 2012.

Eines Tages leuchtete plötzlich während einer Teambesprechung unser Bildschirm auf und zeigte in den Daten Signaturen, wie wir sie nie zuvor gesehen hatten: Sie deuteten auf zwei Neutrinos hin, und zwar mit mehr als der 1000-fachen Energie des energiereichsten Neutrinos, das jemals in einem irdischen Beschleuniger produziert worden war. Im Vergleich zu jenen Neutrinos, die uns stetig von der Sonne erreichen, waren sie sogar fast um das Milliardenfache energiereicher.

Botschaft aus dem Neutrino-Universum

Die beiden Neutrinos mussten in einem turbulenten kosmischen Prozess weit draußen im Universum entstanden sein. Als wir begriffen, dass wir da gerade ein bahnbrechendes Ereignis beobachteten, breitete sich allgemeine Euphorie im Raum aus. Aus der Laune des Augenblicks heraus taufte einer unserer Doktoranden die beiden Teilchen Ernie und Bert, nach den bekannten Figuren der Sesamstraße. Das war viel einfacher zu merken als die langen Zahlenreihen, die wir gewöhnlich jedem Neutrino-Ereignis zuordnen.

Doch bis wir uns sicher waren, dass Ernie und Bert tatsächlich das waren, wofür wir sie hielten, sollte ein Jahr vergehen. Denn wir mussten erst eine völlig neue Datenanalyse entwickeln. Was wir auf dem Bildschirm gesehen hatten, waren tatsächlich die ersten Abbilder eines fernen Neutrino-Universums. Seither haben wir 54 weitere Neutrinos mit ähnlichen Energien nachgewiesen – eines darunter sogar mit der doppelten von Ernie und Bert, das wir als "Big Bird" bezeichneten.

Jetzt versuchen wir herauszufinden, woher solche Neutrinos tatsächlich stammen und wie sie entstehen. Als Ursprung kommen kosmische Ereignisse wie Supernovae und Gammastrahlungsausbrüche in Frage. Beide Phänomene gelten auch als Ursache für die Entstehung der kosmischen Strahlung, die in Form von geladenen Teilchen beständig die Erde bombardiert. Sollten wir die hochenergetischen Neutrinos tatsächlich zu diesen Quellen der kosmischen Strahlung zurückverfolgen können, würde uns das einen neuen Zugang zum Verständnis solcher außergewöhnlich energiereichen Vorgänge eröffnen.

Im Inneren von IceCube | Neutrinos huschen beinahe unbehelligt durch das Universum. Es gibt drei Arten von ihnen: Myon-, Tau- und Elektron-Neutrinos. Alle drei sind elektrisch neutral – und so leicht und schnell, dass sie kaum mit anderen Teilchen wechselwirken. In jeder Sekunde sausen Billionen von ihnen durch unseren Körper. Die meisten durchqueren die Erde, als handle es sich um leeren Raum. Sehr selten trifft jedoch ein einzelnes Neutrino auf einen Atomkern, erzeugt eine Kaskade subatomarer Teilchen und einen kurzen Lichtblitz. Diese seltenen Ereignisse erlauben es Forschern, die flüchtigen Partikel zu untersuchen.

Die kosmische Strahlung besteht aus extrem hochenergetischen Protonen und anderen geladenen Teilchen. Welche Prozesse diese erzeugen, ist auch über ein Jahrhundert nach ihrer Entdeckung noch nicht zufrieden stellend geklärt. Da die Partikel elektrisch geladen sind, lenken galaktische und intergalaktische Magnetfelder sie ab. Wir können aus ihrer Ankunftsrichtung auf der Erde deshalb keine Schlüsse darauf ziehen, woher sie stammen.

Doch theoretische Modelle sagen voraus, dass die kosmische Strahlung an ihrem Ursprungsort mit Photonen wechselwirkt und dabei Neutrinos entstehen. Im Gegensatz zu den Teilchen der kosmischen Strahlung lassen sich Letztere nicht durch Magnetfelder von ihrer Bahn abbringen. Und da sie auch kaum mit Materie wechselwirken, bewegen sie sich geradlinig und ungehindert durch den Kosmos. Sie könnten uns also die Richtung zu den Quellen der kosmischen Strahlung weisen.

Wenn etwa ein massereicher Stern am Ende seines Lebens den Kernbrennstoff in seinem Zentrum aufgebraucht hat und keine Energie mehr erzeugen kann, reicht der Druck in seinem Inneren nicht mehr aus, um der Eigengravitation standzuhalten. Dann kollabiert er zu einem Neutronenstern oder gar zu einem Schwarzen Loch. Damit geht eine helle Explosion – eine Supernova – einher, die vermutlich durch Stoßwellen große Mengen Gravitationsenergie an Teilchen überträgt und sie damit stark beschleunigt.

Bereits 1934 schlugen die Astronomen Walter Baade und Fritz Zwicky Supernova-Überreste als plausible Quellen für die kosmische Strahlung vor. Aber auch heute, 80 Jahre später, streiten die Forscher noch darüber. Um den stetigen Fluss an kosmischer Strahlung in der Milchstraße zu erklären, würden dort im Mittel drei Supernovae pro Jahrhundert ausreichen.

Kosmische Strahlung, die von weit außerhalb unserer Galaxis stammt, ist jedoch meist noch energiereicher. Entsprechend mehr Energie muss auch bei den Prozessen, die sie erzeugen, freigesetzt werden. Zu den besten Kandidaten zählen Gammastrahlungsausbrüche. Diese Ereignisse sind leuchtkräftiger als gewöhnliche Supernovae und für Astronomen noch ein Rätsel. Möglicherweise zeugen sie von einer ungewöhnlichen Art von Kollaps besonders massereicher Sterne.

Daneben kommen aber auch aktive Galaxienkerne als Quelle für extragalaktische kosmische Strahlung in Frage. Im Zentrum dieser Objekte vermuten Astronomen äußerst massereiche Schwarze Löcher, in die große Mengen an Materie hineinstürzen. Ein Teil davon wird nach außen abgelenkt, bevor er das Schwarze Loch erreichen kann, und auf hohe Geschwindigkeiten beschleunigt.

Nachweis im Eis

Um von kosmischen Strahlen erzeugte Neutrinos nachzuweisen, verwendet IceCube einen Kubikkilometer des 100 000 Jahre alten Eises 1,5 Kilometer unter der Oberfläche der Antarktis. Wenn dort ein Neutrino mit einem Atomkern des gefrorenen Wassers wechselwirkt, entsteht ein ganzer Schauer neuer, elektrisch geladener Teilchen. Diese sind so energiereich, dass sie sich schneller als die Lichtgeschwindigkeit in Eis bewegen. Dabei senden sie blaue Lichtblitze aus, so genannte Tscherenkow-Strahlung. In dem reinen, äußerst transparenten Eis kann das Tscherenkow-Licht mehrere hundert Meter zurücklegen.

Neutrinoexperimente in aller Welt | In gleich mehreren Zentren sind Forscher auf der Suche nach den Geisterteilchen. Hier ein Überblick.

Mit seinen 5160 optischen Sensoren vermisst IceCube die von den nuklearen Trümmern erzeugten Lichtkegel in allen Einzelheiten. Die von Ernie und Bert verursachten bestanden jeweils aus rund 100 000 Photonen und reichten 500 Meter weit. Form und Ausdehnung der Lichtblitze verraten, ob es sich ursprünglich um Elektron-, Myon- oder Tau-Neutrinos handelte, welche Energien sie besaßen und aus welcher Richtung sie kamen. Ernie, Bert und Konsorten weisen Energien von rund einem Petaelektronvolt (1015 Elektronvolt; Ernie: 1,07 PeV, Bert: 1,24 PeV) auf. Zum Vergleich: Die Teilchenstrahlen im Large Hadron Collider (LHC) am CERN bei Genf, dem leistungsfähigsten Teilchenbeschleuniger der Welt, erreichen lediglich Energien im Teraelektronvolt-Bereich – das sind drei Größenordnungen weniger. Die Neutrinos vom Kaliber Ernie und Bert sind die mit Abstand energiereichsten, die bislang beobachtet wurden. Sie müssen aus großer Entfernung stammen, denn in unserer kosmischen Nachbarschaft gibt es keine Prozesse, die so hohe Energien freisetzen.

Aber es gibt auch so genannte lokale Neutrinos, und diese sogar zuhauf. Sie entstehen, wenn die geladenen Teilchen der kosmischen Strahlung auf Wasserstoff- oder Sauerstoffkerne in der irdischen Atmosphäre treffen. Alle sechs Minuten registriert IceCube ein solches Partikel. Von ihnen erfahren wir jedoch nichts über den Ursprung der kosmischen Strahlung oder die zu Grunde liegenden astrophysikalischen Phänomene. Denn die geladenen Teilchen wurden ja auf ihrem Weg zu uns abgelenkt. Bei unseren Analysen müssen wir also die Spuren der lokalen Neutrinos aus den Daten herausfiltern, um die kosmischen Exemplare aufzuspüren. Dank unserer bisherigen Erfahrungen kennen wir die Lichtmuster die lokalen Neutrinos mittlerweile sehr gut und können sie daher einfach ignorieren.

DOM-Sensor in IceCube-Bohrloch | In einer Tiefe von 1,5 Kilometern im antarktischen Eisschild überwacht IceCube mit 86 Strängen voller Sensoren einen Kubikkilometer Eis. Jeder dieser Stränge wurde in ein von einem Heißwasserbohrer erzeugtes Loch herabgelassen.

Es ist nun durchaus möglich, dass die kosmischen Neutrinos von denselben Quellen stammen wie die kosmische Strahlung. Allerdings wäre es auch denkbar, dass sie von Dunkler Materie herrühren – jener unsichtbaren Substanz, die mehr als 80 Prozent der Materie im Universum ausmacht. Das wäre dann plausibel, wenn diese mysteriöse Substanz aus sehr schweren Teilchen bestünde, deren mittlere Lebensdauer länger ist als das gegenwärtige Alter des Kosmos. In einem solchen Szenario würden gelegentlich Partikel der Dunklen Materie zerfallen und dabei Neutrinos mit entsprechend hohen Energien produzieren.

Auch wenn alle drei Neutrinoarten etwa in gleicher Anzahl auf der Erde eintreffen sollten, lassen sie sich unterschiedlich leicht aufspüren, da ihre Signale deutlich voneinander abweichen. Am besten funktioniert das mit Myon-Neutrinos. Die Lichtkegel der von ihnen produzierten

Sekundärteilchen sind kilometerlang und damit größer als das eigentliche Detektorvolumen. Selbst wenn sie außerhalb der Detektorgrenzen auf ein Atom treffen, durchlaufen die Lichtblitze das Experiment. So haben wir das effektive Volumen des Detektors über sein eigentliches hinaus erweitert. Daher hatten wir IceCube anfangs entsprechend für Myon-Neutrinos optimiert. Zugleich haben wir damit aber auch die Tür für Störsignale durch andere Teilchen geöffnet und mussten diese aus den Messdaten herauszufiltern. Zum einen nutzen wir die Erde selbst als Filter, indem wir uns auf solche Myon-Neutrinos konzentrieren, die den Globus bereits passiert haben, bevor sie im Eis wechselwirken. Aus dieser Richtung sind keine anderen Teilchen zu erwarten, denn nur Neutrinos können ja Materie so ungehindert durchdringen.

Zum anderen suchen wir gezielt nach Teilchen mit Energien oberhalb von einem Teraelektronvolt. Denn Störsignale etwa durch solche Neutrinos, die die kosmische Strahlung in der Atmosphäre erzeugt, liegen bei weitaus niedrigeren Energien.

Die komplizierte Suche geht weiter

Daneben haben wir außerdem nach besonderen, extrem hochenergetischen Neutrinos gesucht, den so genannten Greisen-Sazepin-Kusmin-Neutrinos. Sie entstehen, wenn Partikel der kosmischen Strahlung mit Photonen der Hintergrundstrahlung, die noch vom Urknall übrig ist, wechselwirken, und können alle drei Neutrinoarten umfassen. Die Energien dieser GSP-Neutrinos dürften jene von Ernie und Bert um das 1000-Fache übersteigen. Für diese zweite Suche nutzten wir einen kleineren Teil des Detektors, ungefähr die zentrale Hälfte seines Volumens. Das machte sie weniger anfällig für störende Hintergrundereignisse.

Eine solche Beschränkung des Detektors hat außerdem den großen Vorteil, dass sich die gesamte Energie, die das Neutrino an das Eis abgibt, mit einer Genauigkeit von 10 bis 15 Prozent bestimmen lässt – eine erhebliche Verbesserung gegenüber Messungen von Neutrinos, die außerhalb des Detektorvolumens reagieren. Zwar haben wir mit dieser Technik noch keine Greisen-Sazepin-Kusmin-Neutrinos aufgespürt.

Aber es ließen sich auf diese Weise viele Neutrinos aller drei Arten detektieren. Seit der Entdeckung von Ernie und Bert haben wir mit beiden Methoden viele weitere kosmische Neutrinos gefunden. Allein die Daten des ersten Jahrs mit erfolgreichen Messungen lieferten uns insgesamt 28 Neutrinos mit Energien zwischen 30 und 1200 Teraelektronvolt. Diese Ergebnisse divergieren um vier Standardabweichungen von dem erwarteten Hintergrund an atmosphärischen Neutrinos. Ein Jahr darauf betrug die Anzahl der kosmischen Neutrinos 54. Damit steigerte sich die Signifikanz auf weit über fünf Standardabweichungen, der statistischen Schwelle für eine zuverlässige wissenschaftliche Entdeckung.

Woher im Kosmos stammen nun all diese Neutrinos? Die Anzahl der bislang gesammelten Ereignisse reicht noch nicht aus, um darauf eine schlüssige Antwort zu geben. Ihre Quellen scheinen sich nicht auf die Milchstraße zu beschränken – nur wenige stimmen in ihrer Position mit der galaktischen Ebene überein. Die meisten haben ihren Ursprung weit außerhalb und sind höchstwahrscheinlich extragalaktischer Natur. Eine Ausnahme bildet die Umgebung des galaktischen Zentrums, aus der eine beträchtliche Anzahl zu kommen scheint. Zu diesen Neutrinos zählt auch Bert, dessen Ursprungsort nicht weiter als eine Bogenminute vom galaktischen Zentrum entfernt ist. Wir wissen zwar nicht, warum diese Region so viele energiereiche Neutrinos ausspuckt. Aber es gibt dort viele Supernova-Überreste sowie ein gigantisches Schwarzes Loch – also viele mögliche Kandidaten für Neutrinoquellen.

Wir hoffen, dass die stetig wachsende Anzahl gerade von energiereichen Myon-Neutrinos, die ins Netz gehen, nachdem sie die Erde durchquert haben, weitere Informationen über ihren Ursprung liefert. Denn aus deren kilometerlangen Lichtspuren lässt sich die Herkunftsrichtung auf 0,5 Grad genau bestimmen. Wenn diese mit den Positionen bekannter Objekte – etwa heller Galaxien mit aktiven Kernen oder Gammastrahlungsausbrüchen – überlappt, dann können wir vielleicht erste Aussagen über einige Quellen der kosmischen Strahlung treffen.

IceCube hat gerade erst begonnen, an der Oberfläche dessen zu kratzen, was es alles entdecken kann. Das Experiment soll 20 Jahre laufen – vielleicht sogar länger. Unterdessen denken wir bereits an ein Nachfolgeprojekt: einen Detektor, der zehn Kubikkilometer Eis umfasst. Mit einem auf das Zehnfache erhöhten Volumen könnten wir endlich ausreichend Neutrinos registrieren, um ihren Ursprung und den der kosmischen Strahlung zuverlässig zu bestimmen.

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