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Teilchenphysik: Neutrinos: Die Stiefkinder des Standardmodells

Die Jagd nach den rätselhaften Geisterteilchen ist zugleich die Suche nach einer neuen Physik.
Ein heller Fleck mit einem unrealistischen Sternenhimmel im Hintergrund

Neutrinos sind die durchdringendsten Teilchen, die man sich vorstellen kann. In jeder Sekunde strömen hundert Billionen Neutrinos durch den menschlichen Körper, ohne irgendeine Wechselwirkung einzugehen. Über die ganze Lebensspanne eines Menschen reagieren nur wenige Neutrinos mit den Atomen in dessen Körper. Um ein Neutrino mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent zu stoppen, bräuchte man einen Block Eisen mit einer Länge von 1000 Lichtjahren.

Diese Dimensionen veranschaulichen, mit welchen Problemen die Neutrinoforscher zu kämpfen haben. Man braucht sehr große und empfindliche Detektoren mit geeigneten Materialien, um überhaupt ein paar wenige Neutrinos einfangen und vermessen zu können. Es locken jedoch einzigartige wissenschaftliche Erkenntnisse: Denn Neutrinos besitzen Eigenschaften, die nicht so recht in das Standardmodell der Teilchenphysik passen, dem alle sonst bekannten Elementarteilchen gehorchen. Durch die Erforschung der Neutrinos erhoffen sich viele Physiker deshalb Hinweise auf neue Physik – vielleicht auch einen verstohlenen Blick auf die Dunkle Materie, die in unserem Universum häufiger als normale Materie vorkommt.

Die Neutrinoforscher hatten in den letzten Jahren etliche bedeutende Fortschritte zu verzeichnen. "Der wichtigste Durchbruch war die Entdeckung, dass Neutrinos oszillieren können", sagt Werner Rodejohann vom Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg. Für diese Entdeckung erhielten der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald den Nobelpreis für Physik im Jahr 2015. Diese beiden Forscher waren die wissenschaftlichen Leiter der Neutrinodetektoren Super-Kamiokande in einem japanischen Untergrundlabor und SNO (Sudbury Neutrino Observatory) in einer alten kanadischen Nickelmine.

Das Rätsel der Sonnenneutrinos

Bei früheren Messungen hatten Neutrinoforscher sich gewundert, warum aus der Sonne deutlich weniger Neutrinos zu uns gelangen als erwartet. Die Kernfusionsprozesse in der Sonne sind theoretisch eigentlich gut verstanden – man kann also berechnen, wie viele Neutrinos dort entstehen und bei der Erde ankommen sollten. Auch in der Erdatmosphäre resultieren aus dem Beschuss mit Teilchen der kosmischen Strahlung laufend Neutrinos – und auch hier stimmten die Verhältnisse nicht. Die einzige Erklärung, die dank Super-Kamiokande und SNO schließlich zur Gewissheit wurde und die mittlerweile auch von anderen Experimenten bestätigt worden ist: Neutrinos oszillieren, sie wandeln sich in andere Neutrinoarten um.

Es gibt drei Arten von Neutrinos – genauso, wie es von allen bekannten Elementarteilchen drei Geschwister mit unterschiedlicher Masse gibt. Bei geladenen leichten Teilchen gibt es etwa das Elektron mit seinen schweren Geschwistern Myon und Tauon. Die beiden Letzteren sind jedoch instabil und zerfallen innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder in Elektronen. Dabei werden auch Neutrinos frei, die Elektron-Neutrinos beziehungsweise Myon- oder Tau-Neutrinos genannt werden. Genau wie bei allen anderen Elementarteilchen gibt es auch bei Neutrinos zu jedem Teilchen ein Antiteilchen, also etwa ein Antielektron-Neutrino.

Fliegen nun etwa zehn Elektron-Neutrinos einige Kilometer weit, so verwandeln sich einige von ihnen in Myon- oder Tau-Neutrinos – und wieder zurück. Diese Oszillation verstärkt sich, wenn Neutrinos durch Materie sausen. Das sieht man an Neutrinos, die aus der Sonne zu uns kommen, oder an solchen, die erst die Erde durchquert haben, bevor sie auf einen Detektor treffen. Dieses seltsame Oszillationsverhalten ist eine typische Quanteneigenschaft: Nach den eigenartigen Regeln der Quantenphysik können Teilchen sich in gemischten Zuständen befinden.

Mit dem nobelpreisgekrönten Nachweis der Oszillation hatten die Forscher auch bewiesen, dass Neutrinos eine Masse besitzen müssen. Denn nach der einsteinschen Relativitätstheorie bewegen sich masselose Teilchen mit Lichtgeschwindigkeit. Für sie vergeht keine Zeit, also können sie auch nicht oszillieren. Laut dem Standardmodell besitzen Neutrinos eigentlich keine Masse. Diese Entdeckung weist also bereits über das Standardmodell hinaus.

Nur fast masselos

"Leider wissen wir noch nicht, woher die Masse der Neutrinos stammt", sagt Michael Wurm, der an der Universität Mainz zu Neutrinos forscht. Laut dem Standardmodell verleiht das Higgs-Teilchen allen Teilchen ihre Masse. Bei Neutrinos könnte das anders sein. Es gibt verschiedene Theorien hierzu. Einige Forscher favorisieren die Idee, dass Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen seien. Nach dem legendenumwobenen italienischen Theoretiker Ettore Majorana nennt man solche – bislang hypothetischen – Partikel Majorana-Teilchen.

Falls Neutrinos Majorana-Teilchen sind, dann können zwei Neutrinos sich quasi in reine Energie verwandeln – sie sind ja ihre eigenen Antiteilchen. Bei bestimmten Kernreaktionen, bei denen zwei Neutrinos auftreten sollten, wäre es also möglich, dass diese einfach fehlen. Die Experimente hierzu laufen unter dem technischen Titel "Neutrinoloser Doppel-Beta-Zerfall". Bislang liefern sie keine positiven Ergebnisse. Sollten Neutrinos Majorana-Teilchen sein, tritt dieser Effekt auf jeden Fall nur sehr selten auf. Der Nachweis wäre eine Sensation und würde ein neues Kapitel der Elementarteilchentheorie aufschlagen. "Bislang ist nur klar, dass ein einzelner solcher Zerfall im Schnitt deutlich mehr Zeit bräuchte, als das Universum alt ist", so Rodejohann.

Es ist aber immer noch nicht einmal bekannt, welche Masse Neutrinos eigentlich haben. Bislang weiß man nur, dass diese Masse sehr klein sein muss. Da unglaublich viele Neutrinos ständig durch das Weltall flitzen, kann ihre Masse nicht allzu groß sein, sonst würde sie sich durch ihre Schwerkraft bemerkbar machen. Es ist sogar unklar, ob Elektron-Neutrinos leichter oder schwerer sind als Myon- oder Tau-Neutrinos. Physiker bezeichnen dies als das Problem der Neutrino-Massenhierarchie.

Derzeit sind einige Experimente in Vorbereitung, um die Neutrinomasse genauer zu bestimmen. In Deutschland soll KATRIN (KArlsruhe TRItium Neutrino Experiment) die Genauigkeit bisheriger Messungen deutlich übertreffen. "Wir warten gespannt auf die Ergebnisse von KATRIN", sagt Rodejohann. KATRIN ist ein haushoher Detektor, der eine abenteuerliche Reise hinter sich hat. Wegen seiner Dimensionen ließ sich KATRIN nicht auf dem Landweg von der Produktionsstätte im bayerischen Deggendorf ins badische Karlsruhe transportieren, sondern musste den Seeweg antreten. Mit mehrfachem Umladen ging es über die Stationen Donau, Schwarzes Meer, Bosporus, Ägäis, Ionisches Meer, Mittelmeer, Gibraltar, Atlantik, Ärmelkanal, Nordsee und Antwerpen dann den Rhein hinauf nach Eggenstein-Leopoldshafen und die letzten Kilometer per Tieflader nach Karlsruhe. Die Messungen, die sich über die nächsten Jahre erstrecken werden, könnten vielleicht die lange gesuchten Neutrinomassen liefern. Aber auch, wenn es nur gelingt, eine neue Obergrenze zu bestimmen, wäre dies ein wichtiger Fortschritt – denn dann könnten Theoretiker ihre Modelle mit stichhaltigen Daten weiterentwickeln.

Neutrinos aus dem Herzen der Sonne

Man kann mit Neutrinos aber auch handfeste Astrophysik betreiben. Einige Experimente untersuchen die Neutrinos, die aus dem Zentrum der Sonne stammen. Indem Astrophysiker die Energieverteilung der Neutrinos möglichst exakt zu bestimmen versuchen, können sie die Fusionsprozesse tief im Innern unseres Zentralgestirns analysieren. Neutrinos dienen hier als Boten, die dank ihrer durchdringenden Eigenschaften ein Fenster in den Kern der Sonne auftun.

Am Südpol hat eine große internationale Kollaboration namens IceCube über 5000 Sensoren bis zu mehrere Kilometer tief im Eis der Antarktis versenkt. Alles, was von unten durch die Erde geflogen kommt und einen Lichtblitz auslöst, kann nur von Neutrinos verursacht sein. "Wir nutzen bei IceCube also die Erde quasi als Filter und schauen vom Südpol Richtung Norden", erläutert Janet Conrad, Wissenschaftlerin bei IceCube. Dabei sind IceCube auch einige der höchstenergetischen Neutrinos ins Netz gegangen, die je vermessen wurden. Diese seltenen Ereignisse mit Namen wie "Ernie", "Bert" oder "BigBird" weisen auf extrem hochenergetische Prozesse in den Tiefen des Alls hin – wahrscheinlich auf gigantische Teilchenstrahlen aus supermassereichen Schwarzen Löchern im Zentrum von Galaxien.

Daya-Bay-Detektor | Im Daya-Bay-Detektor sind zahlreiche Photomultiplikatoren angebracht. Sie registrieren Lichtblitze, die beim Zusammenstoß von Antineutrinos und Protonen entstehen.

Aber IceCube eignet sich auch dazu, Grundlagenforschung an Neutrinos zu betreiben. "Wir sehen deutlich, wie die aus atmosphärischen Prozessen stammenden Neutrinos oszillieren", sagt Conrad. Ein möglichst gutes Verständnis dieser Oszillationen ist auch deshalb vonnöten, weil einige Neutrinos anscheinend komplett verschwinden.

Je besser die Physiker die Neutrino-Oszillationen verstehen, desto mehr deuten einige Experimente darauf hin, dass manche Neutrinos sozusagen wegoszillieren. Diese Ergebnisse sind noch umstritten und Gegenstand aktueller Forschung. "Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass es noch einen vierten Typ von Neutrinos gibt, so genannte sterile Neutrinos", betont Michael Wurm. Diese würden überhaupt keine Wechselwirkung mit normaler Materie eingehen und sich nur durch ihre Oszillationen zu den anderen drei Neutrinotypen bemerkbar machen. "Der Nachweis steriler Neutrinos wäre eine sensationelle Überraschung", so Wurm. Allerdings schließen die meisten Theoretiker dieses Modell inzwischen wegen aktueller Resultate der IceCube-Kollaboration praktisch aus.

Eine andere heiß diskutierte Frage in der Neutrinoforschung besteht darin, ob Neutrinos die so genannte CP-Symmetrie verletzen. Diese Symmetrie bedeutet: Wenn man ein Teilchen gegen sein Antiteilchen austauscht und zudem seine Bewegung im Spiegelbild betrachtet, sollte sein Verhalten nicht von dem Ausgangsteilchen zu unterscheiden sein. Ein Elektron, das etwa in einem Magnetfeld nach rechts fliegt und dabei abgelenkt wird, sollte exakt dieselbe Kraft erfahren wie ein Positron (das Antiteilchen des Elektrons), das nach links durch dieses Magnetfeld fliegt. Physikalisch sollte zwischen diesen beiden Situationen kein Unterschied bestehen.

Warum existieren wir?

Nun ist bekannt, dass diese CP-Symmetrie zwar für fast alle Prozesse in unserem Universum gültig ist, nicht aber für alle. Man kann sogar theoretisch beweisen, dass es in der Frühzeit unseres Universums Vorgänge gegeben haben muss, die die CP-Symmetrie spürbar verletzt haben. Wäre dies nicht geschehen, würden wir nicht existieren. Denn nach dem Urknall muss ein wenig mehr Materie als Antimaterie entstanden sein. Die Antimaterie hat sich dann bei Kollisionen mit normaler Materie vollständig in Strahlung aufgelöst, so dass nur unsere normale Materie übrig geblieben ist. Warum ursprünglich etwas mehr Materie als Antimaterie entstanden ist, ist derzeit aber noch unklar. Irgendetwas muss die Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie verletzt haben – und vielleicht waren dabei Neutrinos im Spiel.

Da die Suche nach einer CP-Verletzung durch Neutrinos helfen könnte, unsere Existenz zu erklären, gilt sie als eines der wichtigsten Probleme der Neutrinoforschung. Zur Untersuchung dieser Fragen bieten sich Methoden aus der Hochenergiephysik an. Der Plan: Man schießt abwechselnd einen Strahl aus Neutrinos und aus Antineutrinos auf einen Neutrinodetektor und sieht sich an, ob sich beide identisch verhalten. Den Strahl erzeugt man, indem man einen Teilchenstrahl auf ein Ziel schießt. Dort entstehen – je nachdem, welche Teilchen man benutzt – bevorzugt Neutrinos oder Antineutrinos. Wenn man den Teilchenstrahl in Richtung eines Detektors ausrichtet, fliegen die Neutrinos unterirdisch weiter bis dorthin. Man benötigt dafür natürlich einen sehr starken Strahl, damit wenigstens einige Neutrinos im Detektor hängen bleiben und eine Spur hinterlassen. Im NOvA-Experiment in den USA und im T2K-Experiment (Tokai to Kamioka) in Japan werden Neutrinostrahlen durch hunderte Kilometer Gestein geschickt. Den neuesten Daten zufolge scheint eine leichte CP-Verletzung vorzuliegen – allerdings werden noch deutlich mehr Daten nötig sein, um diesen Effekt sicher nachzuweisen.

Neutrinos, diese gespenstischen, allgegenwärtigen und doch praktisch unsichtbaren Teilchen, werfen also eine ganze Reihe von Fragen auf, die die Experimentierkunst auf das Äußerste herausfordern und zugleich auf tiefe theoretische Probleme hinweisen. Man darf den Entwicklungen der kommenden Jahre gespannt entgegenblicken. "Es ist auf jeden Fall sehr weise, auf Überraschungen gefasst zu sein", so Janet Conrad. Denn seit ihrer Entdeckung haben Neutrinos immer wieder Dinge getan, mit denen niemand gerechnet hatte.

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