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Neurobiologie: Reizbare Jugend

Warum in der Gedächtniszentrale des Gehirns ständig neue Zellen wachsen, ist nach wie vor rätselhaft. Die unreifen und besonders schnell erregbaren Zellen stören doch nur, glaubte man - bis Wissenschaftler per Computersimulation eine neue Aufgabe für sie fanden.
Nervengeflecht
Dass Neuronen nicht nachwachsen können, ist eine gut abgehangene Lehrbuchweisheit – eine, der zusehends das Fundament wegbricht: In Hirnbereichen wie dem Gyrus dentatus reifen massenhaft frische Nervenzellen heran. Jeden Tag entstehen dort Tausende so genannter Körnerzellen. Aber warum sie das tun, weiß niemand so genau.

Es darf also spekuliert werden: Weil der Gyrus dentatus ein Teil des Hippokampus und damit der Gedächtniszentrale des Gehirns ist, gilt ein Zusammenhang mit unserem Erinnerungsvermögen als gesichert. Vielleicht bekommt das Gedächtnis im Gyrus dentatus eine Art Frischzellenkur verabreicht? Immer neue Zellen könnten die Speicherkapazität erhöhen.

Auch eine Gruppe um James Aimone vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla hat sich Gedanken gemacht. Die Forscher pickten eine eigentlich nachteilige Eigenart dieses Nachwachsprozesses heraus, machten aus der Not eine Tugend und präsentierten vor ein paar Jahren eine ungewöhnliche Hypothese: Die Körnerzellen, schrieben sie, verknüpfe Erinnerungen an zeitgleiche Ereignisse untereinander. Jetzt wollen sie das in einer Computersimulation belegt haben. Insgesamt über eintausend Neuronen verschiedener Typen bildeten sie dazu detailgenau nach.

Wenn im Rahmen einer solchen Simulation "Erinnerungen" abgerufen werden sollen, prüfen die Forscher, ob ihr künstliches Netzwerk ein zuvor erlerntes Muster von Nervenaktivitäten später korrekt wiedergeben kann. Insbesondere sollten zwei oder mehr solcher Muster auch zu genau unterscheidbaren Ausgaben führen, ohne sich gegenseitig zu überlappen. Die dazu notwendige Information steckt wie auch beim biologischen Gyrus dentatus in der Art und Weise, wie sich die Zellen untereinander verknüpfen.

Während ihrer Reifungsphase sind die Körnerzellen allerdings so hyperaktiv, dass sie bei allen möglichen Eingaben Verbindungen anlegen – in der Simulation, die auch den Reifegrad der Neuronen nachvollzog, war das nicht anders. "Immer kommt rund ein Prozent der Zellen dem Prozess in die Quere und verschmiert das Bild", sagt Aimone. Gelernte Muster konnte das Netz nicht sonderlich gut auseinanderhalten: Je unterschiedlicher die Eingabe, desto ähnlicher war die Ausgabe. Erst wenn Tage später die Entwicklung einer Körnerzelle abgeschlossen war, würde sie zwischen Mustern zuverlässig unterscheide können.

Ein hypothetisches Netz ganz ohne unreife Zellen wäre demnach dem natürlichen gegenüber im Vorteil – zumindest, was das Unterscheiden von Eingaben angeht. Was aber, wenn der Gyrus dentatus nicht die Aufgabe hat, Ereignisse voneinander zu trennen, sondern sie im Gegenteil zu bündeln?

Aimone glaubt, dass die unreifen Körnerzellen eben genau dies leisten. Die Einmischung der pubertären Hitzköpfe in neu abzuspeichernde Erinnerungen diene damit einem höheren Zweck. Denn, wenn sie dann einmal zur Ruhe gekommen sind, haben sie all diejenigen Ereignisse zusammengefasst, die sich im Zeitraum ihrer Reifungsphase abgespielt haben. So könnte eine Art "Hyperlink" zwischen Erinnerungen entstehen, die als Gemeinsamkeit nur haben, in einem bestimmten Zeitraum aufgetreten zu sein, wie Fred Gage, Co-Autor der Studie erläutert.

In ihrer Simulation konnten die Wissenschaftler diesen Effekt tatsächlich beobachten und die Nützlichkeit der unterschiedlichen Reifestufen sogar noch einen Schritt weiter treiben: Die voll entwickelten Zellen setzten ihre hinzugewonnene Unterscheidungskraft ein, um die zusammengefassten Gedächtnisinhalte weiter zu verfeinern.

Laurenz Wiskott von der Ruhr-Universität Bochum, der als Neuroinformatiker selbst das mysteriöse Zellwachstum im Gyrus dentatus untersucht, hält das Szenario von Aimone und Co für durchaus plausibel. "Allerdings kann man viel simulieren, was später einer empirischen Überprüfung nicht standhält", sagt Wiskott. Möglicherweise überlebten die Körnerzellen das Ende ihres Reifungsprozesses nicht sehr lange, dann wäre ein solcher Nutzen nur von sehr kurzer Dauer.

Und auch die Wissenschaftler um Aimone wollen ihre Simulation mit der Realität konfrontiert sehen. Einschlägige Experimente zum Nervenwachstum hätten allerdings bislang in reinem Herumprobieren bestanden. Jetzt wisse man immerhin, wonach sich zu suchen lohne.

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  • Quellen
Aimone, J. et al.: Computational Influence of Adult Neurogenesis on Memory Encoding. In: Neuron 61, S. 187–202, 2009.

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