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Hinter den Schlagzeilen: Revival der "Panzerschokolade"

Lange galt Crystal Meth als Randproblem – inzwischen schnellt die Zahl der Konsumenten nach oben. Ist die Droge auf dem Weg in die Mitte der Gesellschaft? Das fragten wir den Psychiater Leo Hermle.

Früher sah man Crystal Meth eher als Droge der Armen und Außenseiter. Im Juli 2014 gab der Bundestagsabgeordnete Michael Hartmann (SPD) zu, den Stoff konsumiert zu haben. Herr Doktor Hermle, wandelt sich die Zielgruppe?

Die Gründe für den Konsum waren schon immer sehr unterschiedlich. Menschen wie Michael Hartmann sind für uns so genannte Gelegenheitskonsumenten. Sie verwenden Amphetamine eher zur Überwindung von privaten oder beruflichen Krisen, manchmal auch zum Abnehmen. Diese Menschen werden in der Regel nicht abhängig. Daneben gibt es eine große Gruppe chronischer Konsumenten, die exzessives Suchtverhalten an den Tag legen und den Stoff in hohen Dosen zu sich nehmen, teilweise sogar täglich.

Seit wann konsumieren Menschen überhaupt schon Amphetamine?

Das US-Pharmaunternehmen Smith, Kline and French vertrieb Amphetamin ab 1932. Unter dem Markennamen »Benzedrin« verschrieb man den Stoff gegen verschiedene Gebrechen: beispielsweise bei Schnupfen, Asthma, Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und bei depressiven Verstimmungen.

Die 6 Synthesewege für Methamphetamin

Wie kam die Vorsilbe »Meth« hinzu?

In den 1930er Jahren fügten Chemiker der Berliner Temmler-Werke dem Amphetamin eine zusätzliche Methylgruppe an und verkauften den neuen Wirkstoff in Tablettenform. Diese neue Substanz, Methamphetamin, war wirkungsvoller, aber auch gefährlicher. In der Nazizeit wurde sie als »Pervitin« in millionenfachen Dosen an die deutsche Wehrmacht verteilt – zur Steigerung von Leistungsfähigkeit und Konzentration. Die psychostimulatorische Wirkung brachte dem Stoff Spitznamen wie »Panzerschokolade « oder »Hermann-Göring-Pille« ein. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Temmler- Werke das Medikament noch vertrieben – und das, obwohl die Nebenwirkungen schon seit den 1940er Jahren bekannt waren. Erst 1988 wurde Pervitin vom Markt genommen.

Amphetamin und Methamphetamin unterscheiden sich chemisch also kaum. Warum wirkt Letzteres trotzdem intensiver?

Durch die zusätzliche Methylgruppe wird die Substanz besser fettlöslich. So kann der Stoff leicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Im Hirn sorgt er dann für eine schnelle Freisetzung der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin.

Mit welchen Folgen?

Wer Methamphetamin schluckt, ist euphorisiert, hellwach und glaubt, die Welt aus den Angeln heben zu können. Hunger- und Durstgefühle gehen zurück, man hält sich für unbesiegbar. Oft meinen die Konsumenten, jetzt alle Probleme ihres Lebens lösen zu können. Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass sich die kognitiven Fähigkeiten durch die Einnahme der Droge nicht verbessern. Ähnlich sieht es übrigens mit der Potenz aus: Die Lust wird zwar gesteigert, die sexuelle Leistungsfähigkeit sinkt aber eher.

Die Wirkung ist also von Anfang an nicht nur positiv.

Herstellung, Wirkung, Gesundheitsschäden: Die wichtigsten Fakten aus der wissenschaftlichen Literatur rund um Crystal Meth finden Sie hier.

Richtig. Zu den akuten Nebenwirkungen gehören auch erweiterte Pupillen, erhöhter Blutdruck, Herzrasen, Schwitzen. Häufig geht der Konsum mit einer starken Unruhe und Angstgefühlen einher. Wesentlich schlimmer sind allerdings die langfristigen Folgen: Stärker als das klassische Amphetamin zerstört Methamphetamin die Nervenzellen im Gehirn. Es kann auch häufiger psychotische Störungen auslösen – Paranoia und Halluzinationen, die über Wochen bis Monate anhalten.

Wie behandeln Sie diese Störungen?

Das Wichtigste ist Abstinenz. Die Patienten müssen sofort entgiftet werden, sie brauchen eine behutsame psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung, damit die Psychose möglichst rasch zurückgeht. Die Aussichten sind recht gut. Langfristig zahlt sich eine sorgsame Aufklärung aus: Wir bringen den Patienten bei, dass ihr Gehirn durch die häufige Einnahme der Droge immer sensibler geworden ist. Es genügen kleinste Mengen, um erneut psychotische Episoden auszulösen – das so genannte »Kindling«.

Welche Probleme bringen die Drogenpatienten zusätzlich in die Therapie mit?

Crystal-Meth-Konsumenten kommen oft mit starken Erregungszuständen in die Klinik. Teilsführt das zu schweren Aggressionen: Einige Betroffene haben bei uns die halbe Station zerlegt und bedrohten Mitarbeiter. Wir mussten schon mehrfach die Polizei zu Hilfe holen.

Welche körperlichen Folgeschäden treten auf?

Meth zehrt den Körper aus: Die Betroffenen magern ab, werden anfälliger für Infektionen – ihr Immunsystem spielt nicht mehr mit. Dazu kommen Hautgeschwüre und Abszesse, die mit zwanghaftem Kratzen einhergehen. Früher ist mir das in der Psychiatrie nur selten begegnet, inzwischen sehe ich solche Patienten häufiger.

Gibt es auch Spätfolgen?

Bei starkem, lang anhaltendem Konsum steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme um ein Vielfaches: Es kann zu Schlaganfällen oder plötzlichen Halbseitenlähmungen kommen. In den USA, wo die Droge wesentlich verbreiteter ist als bei uns, weiß das jeder erfahrene Notarzt. Zum Teil ähneln die Nebenwirkungen denen des Kokains, allerdings wird Methamphetamin vier bis fünfmal langsamer abgebaut. Es wirkt also deutlich länger und führt entsprechend zu schwereren Komplikationen.

Welche Rolle spielt die Art der Einnahme?

Hier zu Lande wird Methamphetamin vor allem über die Nase eingenommen. Wer die Droge über lange Zeit snifft, riskiert eine Zersetzung der Nasenscheidewand. Die wenigen Patienten, die sich Crystal Meth spritzen, laufen Gefahr, sich über die Nadel zu infizieren – etwa mit HIV oder Hepatitis C. Das ist vor allem in Japan ein Problem, wo viele junge Leute die Droge spritzen. Ein weiteres Risiko lauert in Zusatzstoffen und Streckmitteln. Weder Konsumenten noch Kleindealer wissen ja wirklich, was »drin ist«. Einige Drogenküchen fügen Batteriesäure, Frostschutzmittel oder Abflussreiniger bei, um die Wirkung zu verstärken. Auch für die Hersteller kann das Hantieren mit gefährlichen Chemikalien zum Problem werden – für die Synthese von Crystal Meth werden Stoffe wie Jod, Jodwasserstoff und Phosphor benötigt. Bei falschen Handgriffen kann das ganze Labor explodieren.

In Österreich und der Schweiz gibt es Drugchecking-Initiativen, die eine chemische Analyse von Straßendrogen anbieten – kostenlos und anonym. Was halten Sie davon?

Wenn diese Angebote dazu beitragen, Konsumenten von der Einnahme von Drogen mit giftigen Zusatzstoffen abzuhalten, finde ich sie sehr sinnvoll. Im Einzelfall kann das Leben retten. Aber: Auch wenn der Stoff noch so rein ist, bleibt er gefährlich. Da müssen wir Jugendliche noch viel besser aufklären.

Wieso lässt sich der Konsum so schwer eindämmen?

Leo Hermle | Leo Hermle (Jahrgang 1950) studierte Medizin in Hohenheim und Freiburg. Der Psychiater, Neurologe und Verhaltenstherapeut ist Ärztlicher Direktor des Klinikums Christophsbad in Göppingen und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. 1997 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Wirkung verschiedener Amphetamine auf gesunde Probanden. Schwerpunkte seiner Forschung sind Schizophrenie, Depressionen und durch Drogen ausgelöste Psychosen.

Die einfache Herstellung macht den Stoff unkontrollierbar. Er muss nicht von weither importiert werden, sondern kommt aus kleinen Laboren, von denen immer noch hunderte existieren – viele im benachbarten Ausland, etwa in Tschechien. Inzwischen arbeitet die Polizei hier vermehrt grenzüberschreitend zusammen.

Warum lässt sich Crystal Meth so viel leichter herstellen als andere Drogen?

Die Syntheseschritte stehen im Internet, im Prinzip kann jeder in seinem Bad ein Labor anlegen. Die Substanzen Ephedrin und Pseudoephedrin, die in vielen Hustenmitteln enthalten sind, können mit einfachen Methoden in Methamphetamin überführt werden. Vor einigen Jahren ließen sich die Ausgangsstoffe sogar legal über die Apotheke besorgen, auch in größeren Mengen. Inzwischen geht das zum Glück nicht mehr – seit April 2006 bekommt man ephedrinhaltige Medikamente nur noch auf Rezept.

In den 1990er Jahren verabreichten Sie studienhalber gesunden Freiwilligen das Amphetaminderivat MDE. Hatten Sie keine Bedenken?

Überhaupt nicht. Die Studie habe ich in Freiburg und Tübingen durchgeführt, um den Stoffwechselweg der Droge zu rekonstruieren. Wir verwendeten aber nur extrem niedrige, einmalige Dosen, von denen keine Gefahr ausging. Im Übrigen: Unter dem Handelsnamen »Desoxyn« ist Methamphetamin in den USA heute noch zur Behandlung von ADHS zugelassen.

Und hierzulande?

In Deutschland ist das Medikament nicht zugelassen – Gott sei Dank, wenn man bedenkt, wie viel Leid Methamphetamin verursacht! Die Gabe von Desoxyn steht in den USA natürlich unter ärztlicher Aufsicht. Es lässt sich aber nicht ausschließen, dass Patienten durch das Medikament auf den Geschmack kommen und sich die Substanz dann illegal besorgen.

Wer ist der »typische« Meth-Nutzer?

Laut epidemiologischen Studien sind 80 bis 90 Prozent der Konsumenten in Deutschland Männer, die meisten Anfang 20. Andererseits gibt es ein großes Dunkelfeld. Die neue Welle wird erst dann wirklich sichtbar, wenn immer mehr in eine Abhängigkeit geraten und in die Kliniken kommen.

Die Tageszeitung »Die Welt« titelte im Juli 2014: »Crystal hat die Mitte der Gesellschaft erreicht«. Eine realistische Einschätzung?

Es gibt aktuell viele Probierer, von denen ein gewisser Teil wohl früher oder später in eine Abhängigkeit geraten wird. Aber: »Mitte der Gesellschaft«? So weit würde ich nicht gehen.

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  • Quellen

Callaghan, C. et al.: Methamphetamine Use and Schizophrenia: A Population-Based Cohort Study in California. In: American Journal of Psychiatry 169, S. 389 – 396, 2012

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung: Drogen- und Suchtbericht 2014. Bundesministerium für Gesundheit, Berlin 2014

Panenka, W. J. et al.: Methamphetamine Use: A Comprehensive Review of Molecular, Preclinical and Clinical Findings. In: Drug and Alcohol Dependence 129, S. 167 – 179, 2013

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