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Neo-Geozentrismus: Hängt das Universum von uns ab?

Prominente Wissenschaftler propagieren neue Versionen der alten Idee, die Menschheit stehe im Mittelpunkt der Realität. Aber keine Theorie kann dem Mysterium unserer Existenz gerecht werden.
Sonnenaufgang über der Erde vom All aus

Sie sind ein geborener Narzisst. Sie sind sich Ihrer eigenen Existenz bewusst – ob das auch auf andere zutrifft, ist Ihnen gleich, denn für Sie zählt nur, was Sie selbst erfahren und erleben. Die Welt ist die Bühne für das Drama Ihres Lebens. Sie sind der Mittelpunkt der Realität. Wenn Sie erwachsen werden, erkennen Sie, dass auch andere Menschen zählen. Ihr Narzissmus beginnt, auch Ihre Familie, Ihren Stamm, schließlich die ganze Menschheit zu umfassen. Möglicherweise existiert die Realität nicht für Sie ganz persönlich, aber sicherlich doch für Ihre Spezies.

Diese Annahmen sind so natürlich, dass wir sie im Verlauf unserer Vorgeschichte und Geschichte kaum in Frage gestellt haben. Religionen spiegeln diese Selbstzentriertheit wider, und zunächst traf das auch auf die Wissenschaften zu. Sonne, Mond, Planeten, Sterne, der gesamte Kosmos drehte sich um die Erde, unsere Heimat. Zeigen unsere Augen uns das nicht jeden Tag und jede Nacht? Mut war nötig und Vorstellungskraft, sorgfältige Beobachtungen und rationale Analyse – nur so konnten Kopernikus, Kepler und Galilei das geozentrische Weltbild herausfordern. Ihre Einsichten, denen anfangs Unglaube und Feindseligkeit entgegenschlug, halfen uns dabei, unserer ursprünglichen Selbstzentriertheit zu entkommen.

Heute wissen wir, dass die Erde nur einer von neun Planeten ist, die die Sonne umkreisen – ich weigere mich, Pluto herabzusetzen  –, dass unsere Sonne nur einer von Milliarden Sternen in der Galaxis ist, die wiederum nur eine von unzähligen Galaxien im Universum ist, dessen Existenz vor 14 Milliarden Jahren explosiv im Urknall begann. Unser Planet entstand vor 4,5 Milliarden Jahren, eine Milliarde Jahre später tauchten die ersten einzelligen Organismen auf. Vor wenigen hunderttausend Jahren, nur ein Sekundenbruchteil der kosmischen Zeit, tauchten wir auf – und nahmen an, der ganze Kosmos sei nur für uns gemacht. Wir sollten uns Homo narcissus nennen. Als wir schließlich erkennen mussten, wie unbedeutend wir im Vergleich zur unermesslichen Größe von Raum und Zeit sind, war das eine Demütigung für uns. Doch diese Erkenntnis sollte auch eine Quelle des Stolzes sein. Wir hatten die Intelligenz und die Reife, unserer wahnhaften Selbstüberschätzung und dem Aberglauben des finsteren Mittelalters zu entkommen. Wir hatten uns die Bezeichnung Homo sapiens verdient.

Bewusstsein als Katalysator des Urknalls?

Doch in jüngster Zeit propagieren angesehene Wissenschaftler und Philosophen Ideen, die uns – genauer: unseren Verstand, unser Bewusstsein – wieder in den Mittelpunkt rücken. Ich nenne diese Sichtweise »Neo-Geozentrismus«. Soweit wir heute wissen, ist Bewusstsein eine Eigenschaft einer besonders bizarren Form von Materie, die erst in kosmisch gesehen jüngster Zeit auf der Erde entstanden ist: Gehirne. Neo-Geozentriker behaupten trotzdem, der gesamte Kosmos sei von Bewusstsein durchdrungen – und Bewusstsein sei möglicherweise sogar der Funke, der den Urknall ausgelöst hat.

Neo-geozentrisches Denken hat immer am Rande der Wissenschaften gelauert, doch jetzt ist es zu einem allgemeinen Trend geworden. Das zeigte sich beispielsweise im September 2016 bei dem von Deepak Chopra, einem bekannten Guru der ganzheitlichen Gesundheitsszene, initiierten Treffen »Weise & Wissenschaftler«. Dort erklang der Ruf nach einer »neuen Wissenschaft«, die »Bewusstsein als grundlegend akzeptieren kann und nicht nur als Nebenprodukt des Gehirns«. Von Chopra erwartet man diese Sichtweise, gehörte er doch einst zur Bewegung der Transzendentalen Meditation und zeigt er doch immer noch Sympathien für die hinduistische Metaphysik. Aber unter den Anhängern neo-geozentrischer Auffassungen fanden sich auch der Neurowissenschaftler Rudolph Tanzi von der Harvard University, Koautor zweier Bücher Chopras, der Psychologe Donald Hoffman von der University of California in Irvine und der Psychiater Daniel Siegel von der University of California in Los Angeles.

Neo-geozentrisches Denken wucherte auch bei Zusammenkünften zum Thema Bewusstsein im Frühjahr 2016 in Tucson im US-Bundesstaat Arizona sowie im Herbst 2015 an der New York University, an denen ich teilgenommen habe. Dort äußerten ordentliche Professoren großer Institutionen die Ansicht, Bewusstsein sei mindestens von ebenso großer Bedeutung wie Materie. Hier einige ausgewählte Beispiel für den Neo-Geozentrismus:

Haben Dämonen die Welt als Illusion erzeugt?

Informationstheoretische Modelle des Bewusstseins: Claude Shannon erfand in den 1940er Jahren die Informationstheorie, mit der sich die Leistungsfähigkeit von Kommunikationssystemen beschreiben und verbessern lässt. Seither versuchen Wissenschaftler und Philosophen immer wieder, daraus eine Theorie für Alles zu machen. Auf dem Begriff der Information basierende Theorien sind grundsätzlich neo-geozentrisch, weil Information – definiert als Vermögen eines Systems, einen Beobachter zu überraschen – die Existenz von Bewusstsein voraussetzt.

Integrierte Informationstheorie: Die integrierte Informationstheorie geht auf den Neurowissenschaftler Guilio Tononi zurück, zu ihren Verfechtern gehören der Neurowissenschaftler Christof Koch und der Physiker Max Tegmark. Die Theorie postuliert, dass jedes System aus interagierenden Teilen – also zum Beispiel auch ein Proton, das aus drei Quarks besteht – Information verarbeitet und daher Bewusstsein besitzt. Die integrierte Informationstheorie ist damit eine neue Version des mystischen Panpsychismus, dem zufolge jeder Form von Materie Bewusstsein innewohnt.

Die Leistungen des Gehirns | Ist Bewusstsein mehr als nur ein Nebenprodukt des Gehirns? Ordentliche Professoren großer Institutionen äußern verstärkt die Ansicht, Bewusstsein sei mindestens von ebenso großer Bedeutung wie Materie.

Quantentheorien des Bewusstseins: Die Quantenmechanik hat schon immer neo-geozentrische Ansichten provoziert. Ist die Katze in der Kiste tot oder lebendig? Ist ein Photon eine Welle oder ein Teilchen? Nun, die Antwort hängt davon ab, wie – und ob – wir nachschauen. Die Quantenmechanik erfordert daher, so äußerte der Physiker John Wheeler schon vor Jahrzehnten, ein »partizipatorisches Universum«, dessen Existenz auf irgendeine Weise von uns abhängt.

Orchestrierte objektive Reduktion: Einige Interpretationen der Quantenmechanik besagen, dass die bewusste Beobachtung zum Kollaps probabilistischer, überlagerter Quantenzustände in einen klassischen Zustand führt. Die von Roger Penrose und dem Anästhesisten Stuart Hameroff eingeführte orchestrierte objektive Reduktion dreht diese Aussage um: Es ist danach der Kollaps der Wellenfunktion, der Bewusstsein verursacht. Da ein solcher Kollaps in jeder Form von Materie auftritt, nicht nur in Gehirnen, kommen Penrose und Hameroff zu dem Schluss, dass Bewusstsein »eng mit den Gesetzen verbunden ist, die das Universum regieren«.

Die Realität als Simulation: Schon Descartes grübelte darüber nach, ob die Welt nicht nur eine von Dämonen für uns erzeugte Illusion sei. Der Philosoph Nick Bostrom entwarf eine neue Version dieser Idee: Danach »leben wir in einer Computersimulation«, erzeugt von einer hochtechnisierten Zivilisation. Der Physiker Neil de Grasse Tyson, der Philosoph David Chalmers und der Technologie-Titan Elon Musk zählen zu den Anhängern der Simulationshypothese – bei der es sich letztendlich um Kreationismus in neuer Verpackung handelt.

Katholizismus und Buddhismus unterstützen übernatürliche Metaphysik

Das anthropische Prinzip: Als die Physiker die Hoffnung verloren, jemals zu erklären, warum unser Universum gerade so ist, wie es ist, begannen sie sich immer stärker für das anthropische Prinzip zu begeistern. Dieses Prinzip besagt, unser Universum müsse gerade so sein, wie wir es beobachten, weil wir sonst nicht da wären, um es zu beobachten. Zu den modernen Unterstützern dieser neo-geozentrischen Tautologie zählen Stephen Hawking, Sean Carroll und Brian Greene.

Buddhismus: Er ist zwar schon 2500 Jahre alt, aber der Buddhismus gehört trotzdem auf diese Liste, weil er sich unter westlichen Intellektuellen einer erstaunlichen Beliebtheit erfreut. Sie betonen häufig, der Buddhismus sei keine Religion, sondern ein Weg, um den Geist zu verstehen und zu entspannen. Doch genau wie der Katholizismus, die Religion meiner Kindheit, unterstützt der Buddhismus eine übernatürliche Metaphysik, in der der Kosmos als Bühne für meine spirituelle Reise ins Nirwana dient.

»Im Jahr 1981 überzeugte mich ein Trip sogar für lange Zeit davon, dass wir von einem Gott erschaffen wurden, der unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet«John Horgan

Ich verstehe durchaus die Anziehungskraft des Neo-Geozentrismus. Obwohl ich den Katholizismus schon in meiner frühen Jugend abgelegt habe, weckten psychedelische Drogen in mir den Verdacht, das Universum könnte für uns geschaffen sein. Im Jahr 1981 überzeugte mich ein Trip sogar für lange Zeit davon, dass wir von einem Gott erschaffen wurden, der unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet. Als ich schließlich widerstrebend auch diese verrückte Theologie ablegte, klammerte ich mich an neo-geozentrische Ideen wie Wheelers partizipatorisches Universum oder »It from bit«, eine Kombination aus Informationstheorie und Quantenmechanik. Wheeler und sein neo-geozentrischer Kumpan Freeman Dyson zählten zu meinen bevorzugten Denkern.

Der kühle, harte Skeptiker in mir lehnt jedoch den Neo-Geozentrismus als genau die Art von geistig verschwommenem Mystizismus ab, von dem uns die Wissenschaft befreit hat. Der Neo-Geozentrismus verkörpert die Projektion unserer Ängste und Hoffnungen, unsere Sehnsucht nach Bedeutung. Seine wachsende Popularität ist vielleicht auch ein Symptom für die durch soziale Medien verursachte Selbstverliebtheit unserer Zeit. Aber nicht allein der Neo-Geozentrismus geht mir auf die Nerven. Ich lehne auch militanten Materialismus und Atheismus ab, die unser Verlangen nach transzendenter Bedeutung herabsetzen und das außergewöhnlich Unwahrscheinliche unserer Existenz nicht wahrzunehmen scheinen. Denn letztlich: Ohne einen bewussten Geist, der nachdenkt, könnte unser Universum ebenso gut nicht existieren.

Wofür also spreche ich mich aus? Für die einfache Anerkennung der Tatsache, dass keine Theorie oder Theologie dem Mysterium unserer Existenz gerecht werden kann. Ein solcher moderater Agnostizismus ist, so scheint es mir, das, was ein Homo sapiens wählen würde.

Der Artikel ist unter dem Titel »The Rise of Neo-Geocentrism« in »Scientific American« erschienen.

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