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Gehirnfunktion: Schneller als die Evolution erlaubt

Als der erste moderne Mensch entstand, konnte niemand vorhersehen, was er einmal alles können sollte - und vor allem, wie schnell. Statt aber irgendwann zwischen Feuerstein und Internet rein anatomisch überfordert zu sein, bildet das Gehirn immer wieder rechtzeitig Spezialisten aus. Etwa zur Entzifferung von Buchstaben.
Das aktive VWFA-Hirnareal beim Lesen
6000 Jahre? Eine lange Zeit für einen einzelnen Menschen, nicht mehr als ein Wimpernschlag aber für die Evolution – so wahnsinnig viel kann sie per Selektion und Mutation in derart kurzer Zeit eigentlich nicht erledigen. Und weil Homo sapiens gerade erst vor sechs Jahrtausenden – wohl in Mesopotamien, vielleicht etwas früher in China – erstmals auf die Idee kam, Informationen per Schriftzeichen untereinander auszutauschen und so Wissen zu konservieren, sollte die Verarbeitung des gerade neu erfundenen Buchstabensalats im Gehirn des Menschen eher ein kunstvoll-provisorisches Stückwerk der Natur sein. Etwas, was in kurzer Zeit aus für andere Aufgaben konzipierten Regionen des formbaren Gehirns zusammengeschustert wird und erstmal einfach funktioniert. Ein hoch spezialisiertes, ausgereiftes Schrifterkennungs-Zentrum jedenfalls – so etwas kann derart schnell nicht evolvieren.

Und deshalb mussten sich Jules Déjerine und seine Anhänger über die Jahre von so manchen Vertretern der Wissenschaftswelt schon einiges gefallen lassen – im harmlosesten Fall hielt man ihre Meinung, die mit Déjerines Wirken im späten 19. Jahrhundert entstand, einfach für falsch. Er postulierte 1862 erstmals eine Region im Gehirn des Menschen, die ausschließlich für die Erkennung der Schrift zuständig ist. Kann aber, siehe oben, wegen des Entwicklungs-Tempolimits evolutiver Prozesse ja gar nicht sein.

Blöd nur, dass immer mehr Ergebnisse mit immer modernen Methoden Déjerine zu bestätigen scheinen. In der linken Hirnhemisphäre erkannten Gehirnscans die so genannte visual word form area (VWFA) in und um die occipito-temporale Furche der Großhirnrinde. Sie ist tatsächlich stets aktiv, sobald ein Mensch liest.

Andererseits regt sich hier auch einiges, wenn ein Mensch Gesichter ansieht, analysiert und erkennt: Hier im Schläfenlappen, genauer auf dem Gyrus fusiformis, ist auch die fusiform face area (FFA) für die Erkennung des Menschenantlitz zuständig. Unnötiger Buchstabensalat also, meinten einige Neurowissenschaftler: die vermeintliche Worterkennungsregion VWFA ist nichts wirklich anderes als die mit anderen Aufgaben betraute, evolutiv altbekannte FFA-Abteilung zur Erkennung von Gesichtern eines Gegenübers. Das Hirn mache eben nur das, was zu erwarten war: Die zweckmäßige Umwidmung einer für andere Aufgaben konzipierten Region.

Einwände haben nun Laurent Cohen von der Universität Paris VI und Kollegen – sie entdeckten weitere Hinweise darauf, dass die VWFA tatsächlich eine nur für die Erkennung von Schrift zuständige Region ist. Ihr Beleg findet sich im Gehirn eines 47-jährigen Epilepsie-Patienten. Um ihm zu helfen, sollte ein kleiner, mit der VWFA grob überlappender Bereich gehirnoperativ entfernt werden – gute Gelegenheit für die Neurologen, davor und danach noch ein paar Experimente zu machen [1].

Der Patient – er nahm freiwillig teil – konnte präoperativ Drei- bis Sechs-Buchstaben-Wörter innerhalb von 6006nbsp;Millisekunden erlesen, lange genauso schnell wie kurze. Erwartungsgemäß erledigte die VWFA dabei die Hauptarbeit, wie Scans mit dem Magnettomografen enthüllten. Nach der Operation tat der Patient sich aber mit genau derselben Aufgabe deutlich schwerer: Pro Drei-Buchstabenwort benötigte er eine Sekunde Lesezeit, mit jedem weiteren Letter noch einmal je 0,3 Sekunden länger. Die VWFA-Reste seines Gehirns blieben während seiner Anstrengung zudem stumm.

"Erstaunliche, dramatische Belege für eine 100 Jahre alte Vermutung"
(Alex Martin)
Tatsächlich enträtselte der postoperativ alexische Patient auch sechs Monate nach dem Eingriff Zusatzbuchstaben noch ähnlich langsam. Völlig unbeeinträchtigt blieb dagegen auch schon kurz nach der OP die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen und Bilder von Objekten korrekt zu benennen. Schreiben konnte er ebenso weiterhin – ein klassischer Fall der "Alexie ohne Agrafie", für die schon Déjerine lokale Verletzungen des Schläfenlappens eben im Bereich eines "Worterkennungs-Areals" verantwortlich gemacht hatte.

Vielleicht, so die Autoren abschließend, spiele die VWFA auch eine gewisse Rolle bei bestimmten visuellen Prozessen – ihre Hauptaufgabe aber sei eben die Verarbeitung und Weiterleitung von als Buchstaben erkannten Formen: also die Schrifterkennung. Nur dafür sei sie unersetzlich.

Erstaunlich genug, kommentiert Alex Martin von den National Institutes of Mental Health in Bethesda: Die Arbeit von Cohen und Co liefere "überzeugende und dramatische Belege dafür, das die Ahnungen von Déjerine vor mehr als hundert Jahren richtig waren" [2]. Wie sich in der kurzen Zeit seit Aufkommen der Schrift ein Bündel Neurone eines Gehirnareals derart spezialisieren konnte, verblüfft. Zu klären sei nun aber noch, wie die verbliebene, mühsame und buchstabenweise Lesefähigkeit des Patienten mit ausgeschaltetem VWFA zu erklären ist.

Hier springen, wie Magnetresonanzexperimente zeigen, offenbar eigentlich nachgeschaltete, höhere Gehirnfunktionen in die Bresche – und zwar gleich eine ganze Reihe im Frontal- und Scheitellappen beheimatete Areale, die nachweislich etwa für visuelle Verarbeitung, lexikalische Sprachverarbeitung und komplexere Denkaufgaben zuständig sind. Sie speisen vielleicht Informationen in jene Bereiche der vorderen occipito-temporalen Hirnwindung, aus der sie im Normalfall schon verarbeitete Daten empfangen. Das allerdings wäre dann auch wieder ein Beweis dafür, dass ein Gehirn sehr findig auch mit misslichen Gegebenheiten umzugehen weiß. Oder mit neuen Herausforderungen.

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