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Angewandte Mathematik: Schwankender Gleichtakt

Es war hochgradig peinlich: Am 10. Juni 2000 wurde Londons erste neue Themse-Brücke seit über hundert Jahren eröffnet - und musste bereits zwei Tage später wieder geschlossen werden. Die futuristisch anmutende Struktur fing bedenklich an zu schwanken, sobald Fußgänger auf ihr den Fluss überqueren wollten. Erst mit Konzepten aus der Biologie wird klar, wieso es zu den Schwingungen kam.
Millennium Bridge: Blick auf die Tower Bridge
Das Prinzip ist Jahrtausende alt: Man spanne Seile von einem Ufer zum anderen und übertrage mit weiteren Seilen darauf die Gewichtskraft einer tiefer gelegenen Geh- und Fahrbahn – fertig ist die Hängebrücke. Ob das Material nun kurz zuvor im Dschungel geschlagen wurde oder aus speziellem Hightech-Stahl besteht, Brücken dieser Art sind ästhetisch anzusehen und haben ein gemeinsames Problem: Sie neigen dazu, seitlich zu schwanken. Unter Umständen sogar so heftig, dass die Belastungen zu groß werden und die gesamte Konstruktion schließlich einstürzt. Im Jahre 1940 hielt ein Hobbyfilmer eine solche Katastrophe sogar im Bild fest: Die "galoppierende Gertie" genannte Tacoma Narrows Bridge in den USA zerbrach bei Winden, denen eine Brücke normalerweise die Stirn bieten sollte. Ein klarer Konstruktionsfehler.

Millennium Bridge | Londons Millennium Bridge, eine Fußgänger-Hängebrücke, verbindet die Gegend um die St.-Pauls-Kathedrale mit der Tate-Galerie für Moderne Kunst am anderen Themse-Ufer. Sie musste wenige Tage nach der Eröffnung wegen heftiger Schwingungen vorübergehend geschlossen werden. Inzwischen sorgen Dämpfer für freien – doch immer noch leicht schwingenden – Übergang.
Den vermutete man zunächst auch bei der Londoner Millennium Bridge, die als einzige reine Fußgangerbrücke der Millionenstadt die Gegend um die St.-Pauls-Kathedrale über die Themse mit der Umgebung der Tate-Galerie für Moderne Kunst verbindet. Zwar stürzte diese Brücke nicht ein, doch schwankfreudig war sie allemal. So sehr, dass sie bereits am 12. Juni 2000 – zwei Tage nach der feierlichen Einweihung – aus Sicherheitsgründen geschlossen werden musste. Englands Brücke ins dritte Jahrtausend durfte zwanzig Monate nicht betreten werden – ein klassischer Fehlstart.

Schuld an der Misere war jedoch weniger ein spezielles Problem der Millenniumsbrücke, sondern vielmehr ein grundlegendes Manko von Hängebrücken, wie ein Team von Ingenieuren um Steven Strogatz von der Cornell-Universität in Ithaca nun bestätigt. Befinden sich nur wenige Fußgänger auf der Brücke, ist noch alles in schönster Ordnung. Ab einer kritischen Anzahl verstärken ihre Schritte aber die normalen Schwankungen des Laufstegs. Als unbewusste Reaktion darauf passen die Passanten ihre Schritte den Bewegungen an und – verstärken sie damit weiter. Es entsteht ein sich selbst aufschaukelnder Kreislauf von induzierter Schwingung der Brücke und zunehmendem Gleichschritt der Fußgänger. Ein Regelkreis, wie er in der Biologie häufiger vorkommt: Nervenzellen organisieren ihre Signale mit ähnlich aufgebauten Oszillationen, und Glühwürmchen synchronisieren ihr Leuchten auf diese Weise.

Strogatz und seine Kollegen übernahmen darum mathematische Modelle aus der Biologie und simulierten damit das Verhalten der Brücke in Testläufen, mit denen neu angebrachte Puffer überprüft wurden. Tatsächlich entsprachen die theoretischen Ergebnisse genau den experimentellen Daten. Damit ermöglicht die Simulation erstmals, das Schwingungsverhalten von Hängebrücken auch bei Beanspruchung durch große Fußgängermengen vorherzusehen.

Die Milleniumbrücke wurde jedenfalls am 22. Februar 2002 zum zweiten Mal eröffnet. Diesmal gedämpft durch 37 Stopper zum Ableiten der horizontalen Energie und 52 eingestellte Puffer zum Auffangen der vertikalen Stöße. Seitdem geht es mit dem Gehen. Und Großbritannien ist endlich auch zu Fuß im 3. Jahrtausend angekommen.

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