Direkt zum Inhalt

News: Schwindende Gletscher lassen Meeresspiegel sinken

Es klingt absurd: Die Gletscher Grönlands schmelzen und führen im hohen Norden zu sinkenden Meeresspiegeln. Doch so könnte es kommen, und die Erklärung ist einfach. Die Gletscher üben auf die Meere nämlich eine gravitative Anziehung aus. Je mächtiger sie sind, umso mehr Wasser strömt in ihre Nähe - das Meer steigt an. Verschwinden die Gletscher, zieht sich auch das Wasser zurück.
Eigentlich sollte man meinen, dass das Abschmelzen der Polkappen zu einem gleichmäßigen Anstieg des Meeresspiegels führt. Doch schon seit langem zeigen Aufzeichnungen, dass es ganz darauf ankommt, an welcher Küste die Messstelle steht. Dabei gibt es durchaus eine Reihe von Faktoren, die dazu führen, dass das Wasser hier schneller ansteigt als dort. So kommt es je nach Klimazone oder Meeresströmung zu Dichteunterschieden aufgrund variierender Salzgehalte und schwankender Temperaturen. Die Weltmeere sind komplizierter als eine sich gleichmäßig füllende Badewanne, doch selbst nach Berücksichtigung dieser Einflussgrößen blieben deutliche regionale Unterschiede, von denen niemand wusste, wie sie zu erklären sind.

Jerry Mitrovica vom Department of Physics der University of Toronto und seine Kollegen gehen sogar davon aus, dass sich die Briten und Neufundländer kaum um das Abschmelzen des grönländischen Inlandeises sorgen müssen. Jedenfalls nicht in naher Zukunft. An ihren Gestaden zöge sich das Meer zunächst sogar zurück. Ganz genauso hätten auch die Australier durch den Rückzug antarktischer Eismassen nichts zu befürchten.

Was ziemlich absurd klingt, hat dennoch eine plausible Erklärung: die Gravitation. Die großen Eismassen der Polargebiete ziehen die Wassermassen förmlich an sich. Deshalb bilden die Meere in deren Nähe gleichsam Berge aus, und deshalb ist der Wasserspiegel hier durch mächtige Eispakete höher als anderswo. Mit dem Eis schmilzt auch die Anziehungskraft Grönlands oder der Antarktis. Das Meer zieht sich zurück, sodass die zusätzlich in die Ozeane fließenden Wassermassen die Meeresspiegel also eher in ferneren Gebieten ansteigen lassen.

Mitrovica erweiterte seine numerischen Modellierungen um diesen Faktor und beobachtete, dass sowohl die großen Eismassen in Grönland und der Antarktis als auch kleinere Gletscher individuell unterschiedlich auf die Meeresspiegelveränderungen der näheren und weiteren Umgebung wirken. Das geht so weit, dass die Folgen einer Eisschmelze in der Antarktis vor allem auf der Nordhalbkugel spürbar wären. Genauso ginge die Gefährdung der pazifischen Inselstaaten vornehmlich von Grönland aus.

Der Vergleich der modellierten Szenarien mit den Aufzeichnungen von Messstationen überraschte selbst die Forscher. Fast alle regionalen Muster fanden sich in der Realität wieder. Aufgrund dieses bedeutsamen, gravitativen Effekts - und der Möglichkeit seiner numerischen Nachbildung - dürften Vorhersagen zu den Auswirkungen der Klimaerwärmung wesentlich zuverlässiger werden. Und pessimistischer, denn die Modelle der Forscher lassen befürchten, dass sich der mittlere Meeresspiegelanstieg von derzeit 1,8 Millimetern pro Jahr zukünftig beschleunigt. Die Freude der Briten, Kanadier und Australier über den Rückzug der Meere dürfte also wohl nur von kurzer Dauer sein.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

  • Quellen
Nature 409: 1026–1029 (2001)

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.