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Unerklärliche Beobachtungsergebnisse: Die Untoten der Physik

Auch die Physik kennt ihre wissenschaftlichen Zombies: sechs unerklärliche Beobachtungsergebnisse, die Forscher bislang weder endgültig beweisen noch widerlegen konnten.
Urknall

Wenn eine wissenschaftliche Beobachtung angeblich etwas wirklich Neues zeigt, dann sollten nachfolgende Experimente sie entweder bestätigen – und damit eine Überarbeitung der Lehrbücher auslösen – oder widerlegen, also als statistische Anomalie oder experimentellen Fehler entlarven. Doch einige Beobachtungsergebnisse scheinen für immer in der zwielichtigen Zone zwischen Licht und Dunkelheit stecken zu bleiben. Willkommen im Reich der untoten Physik: Immer wieder für tot erklärt, kehren die Phänomene wie Zombies stets erneut zurück.

Die Achse des Bösen

Das Nachglühen des Urknalls, also die kosmische Hintergrundstrahlung, sollte uns aus allen Richtungen nahezu gleich stark erreichen. Die Temperatur der Strahlung variiert an verschiedenen Stellen nur um weniger als ein hunderttausendstel Grad Celsius. Die Kosmologen hatten erwartet, dass diese winzigen Temperaturschwankungen rein zufällig am Himmel verteilt seien. Doch als die Wilkinson Microwave Anisotropy Probe (WMAP) der NASA 2003 die Hintergrundstrahlung genauer untersuchte, traten unerwartete Dinge zu Tage: Am Südhimmel zeigte sich ein mysteriöser kalter Fleck; die Temperaturunterschiede zwischen großen Himmelsregionen waren sogar noch geringer als erwartet, und Temperaturschwankungen bestimmter Größenordnungen schienen gewissermaßen entlang einer bevorzugten Richtung ausgerichtet zu sein: der "Achse des Bösen".

Manche Wissenschaftler vermuteten, diese Muster könnten Artefakte der WMAP-Messungen sein. Doch auch nachfolgende Beobachtungen von WMAP sowie noch genauere Messungen der ESA-Mission Planck zeigten dieselben Phänomene. "Das Thema verharrt seit etwa zehn Jahren im Zombie-Zustand", so der Kosmologe Kendrick Smith vom Perimeter Institute for Theoretical Physics im kanadischen Waterloo, ein Mitglied des Planck-Teams.

Staubige Zwerggalaxien |

Das ESA-Weltraumteleskop Planck hat die kosmische Hintergrundstrahlung in zuvor unerreichter Genauigkeit vermessen – und dabei unweigerlich auch das kosmische Staubaufkommen in unmittelbarer Nähe zur Erde erfasst. Auf dieser Aufnahme etwa ist neben den beiden Nachbar-Zwerggalaxien der Milchstraßen, der großen und kleinen Magellanschen Wolke, auch ein interstellarer Staubstrom zu sehen, der sich in ungefähr 300 Lichtjahren Entfernung durch die Milchstraße zieht. Durch intensive Orange- und Rottöne, die auf ein hohes Staubaufkommen hindeuten, verrät sich in der linken oberen Ecke die Sternentstehungsregion Chamäleon, schreibt die ESA in einer Mitteilung.

Die an die expressive Pinselführung Vincent van Goghs in "Sternennacht" erinnernde Textur der Aufnahme lässt sich in dieser Form leider nicht am Himmel beobachten. Sie ist das Ergebnis einer Visualisierung des magnetischen Felds der Milchstraße, dessen Ausrichtung die Wissenschaftler anhand der Messungen ermittelten.

Analysen wie diese sind wichtig, um störende Vordergrundeinflüsse aus den Aufnahmen der kosmischen Hintergrundstrahlung herausrechnen zu können. Die durch solche nahe gelegenen Staubstrukturen verursachte Polarisierung der Hintergrundstrahlung war auch dafür verantwortlich, dass eine Forschergruppe vom Antarktisobservatorium Bicep2 kürzlich so spektakulär irrte, als sie meinte, in der Hintergrundstrahlung Spuren ursprünglicher Gravitationswellen nachweisen zu können.

Smith und einige andere Forscher sind der Meinung, ein zufälliges Auftreten derartiger Muster wäre wahrscheinlicher, als man intuitiv glauben würde. Denn die Anzahl der beobachteten sonderbaren Phänomene sei eigentlich relativ gering, verglichen mit der Menge an vorstellbaren Unregelmäßigkeiten. Andere Wissenschaftler hingegen suchen nach physikalischen Erklärungen für die Beobachtungen. So könnte der kalte Fleck auf ein sehr großes "Void", also einen kosmischen Leerraum, zurückzuführen sein. Zukünftige Experimente, welche die Polarisation der Hintergrundstrahlung mit hoher Präzision messen, offenbaren vielleicht, wer Recht hat.

Jahreszeitlich herumgeisternde Dunkle Materie

Wie ein geisterhafter Wind, der keine Hindernisse kennt, so sollte auch die Dunkle Materie der Galaxis ständig aus allen Richtungen durch die Erde – und auch unsere Körper – strömen. Astronomen gehen davon aus, dass 85 Prozent der Masse im Kosmos aus Dunkler Materie bestehen. Die dafür postulierten Teilchen konnten aber bislang nicht nachgewiesen werden. Seit Ende der 1990er Jahre beobachten Physiker im DAMA-Experiment in einem tief unter dem Gran-Sasso-Gebirge in Italien liegenden Laboratorium mit Hilfe von Kristallen aus Natriumjodid ein Signal, das durch Teilchen der Dunkle Materie verursacht werden könnte. Die Stärke des Signals variiert in einem jahreszeitlichen Rhythmus, wie es – auf Grund der Erdbewegung um die Sonne – für den Strom der Dunklen Materie zu erwarten wäre.

Allerdings gibt es auch alternative Phänomene, die jahreszeitlich variieren und ein derartiges Signal auslösen könnten. Und die Experimente anderer Gruppen konnten das DAMA-Ergebnis bislang ebenfalls nicht bestätigen: Entweder sie fanden gar kein Signal oder lediglich ein so schwaches, dass es die Mehrheit der Wissenschaftler nicht überzeugte. Das hält das DAMA-Team nicht davon ab, weiterhin Daten anzuhäufen und so die Idee am Leben zu halten, dass sein Detektor Dunkle Materie nachgewiesen hat.

Niemand bestreitet, dass das Experiment jahreszeitliche Schwankungen zeigt. Doch ob diese Variationen durch Dunkle Materie verursacht werden oder durch etwas anderes, bleibt unklar. "Bislang gibt es für die Beobachtungen des Teams keine überzeugende Erklärung", sagt Reina Maruyama, Physiker an der Yale University in New Haven im US-Bundesstaat Connecticut. Die Lösung des Rätsels könnten zwei auf der Südhalbkugel geplante Experimente liefern, denn dort sollten die Schwankungen umgekehrt verlaufen: Eines, das so genannte DM-Ice, soll im antarktischen Eis stattfinden, das andere wird derzeit am Stawell Underground Physics Laboratory in Australien vorbereitet.

Eine glühende galaktische Sage

Es gibt noch ein weiteres Weltraumrätsel um die Dunkle Materie: Im Jahr 2009 stießen zwei Physiker auf ein mysteriöses Glühen in den Daten des Fermi Gamma-ray Space Telescope der NASA. Diese Gammastrahlung lasse sich nicht mit bekannten Strahlungsquellen erklären, so die beiden Forscher. Es könne aber die Folge von Teilchen der Dunklen Materie sein, die in der zentralen Region der Milchstraße miteinander zusammenstoßen und sich so paarweise unter der Aussendung von Gammastrahlen vernichten. Seither haben mehrere Forschergruppen alternative Erklärungen für diese Art der Strahlung vorgeschlagen. Ihre Hypothesen beruhen überwiegend auf Pulsaren – also kompakten Überresten von Sternen – als Ursache. Widerlegt ist die ursprüngliche Vermutung dadurch jedoch nicht. Der theoretische Astrophysiker Christoph Wagner war in den vergangenen Monaten Koautor von Arbeiten, die Indizien sowohl für als auch gegen Dunkle Materie als Erklärung für den Gammastrahlungsüberschuss enthielten. "Ich möchte einfach nur herausfinden, was da vorgeht", erklärt der Forscher – und ergänzt, dass er derzeit einen kleinen Vorsprung für die Pulsarerklärung sehe.

Eine lang erwartete Analyse der Daten durch das Fermi-Team selbst erbrachte ebenfalls keine abschließende Entscheidung. Die Arbeit wurde erstmals im Oktober 2014 vorgestellt, wartet aber immer noch auf ihre endgültige Veröffentlichung. Simona Murgia von der University of California in Irvine, welche die Analyse leitete, erklärt: "Wir haben diesen Überschuss auch beobachtet, doch wir können nicht sagen, ob es Dunkle Materie ist oder nicht." Inzwischen ist die Analyse im Onlinearchiv arXiv zu finden und für eine Veröffentlichung im Fachblatt "Astrophysical Journal" angenommen.

Diabolische Protonen-Diskrepanz

Protonen zählen zu den am häufigsten vorkommenden und am besten untersuchten Elementarteilchen. Da sollte man annehmen, die Physiker hätten eine solide Vorstellung von der Größe dieser Partikel. Doch 2010 führten Randolf Pohl vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching und sein Team mit einer neuartigen Technik eine Messung des Protonenradius durch. Gemäß ihren Ergebnissen ist er vier Prozent kleiner als bis dahin angenommen. Das Team hatte die Elektronen in Wasserstoffatomen durch ebenfalls negativ geladene Myonen ersetzt. Anschließend untersuchten sie die Verschiebungen der Energieniveaus des Myons, welche vom Radius des Protons abhängen. Da Myonen 200-mal massereicher sind als Elektronen, ist die Verschiebungen in diesem Fall deutlich einfacher zu messen.

Ein zweites, unabhängiges Experiment mit der Myonen-Technik bestätigte 2013 die Diskrepanz zu früheren Untersuchungen mit Hilfe von Elektronen. Die Forscher machten sich auf die Suche nach Fehlern im Myonen-Verfahren, aber ohne Erfolg. "Niemand stellt dieses Experiment mehr in Frage", sagt der theoretische Physiker Krzysztof Pachucki von der Universität Warschau. Doch auch bei dem Elektronen-Experiment fanden die Forscher keinen Fehler. "Vielleicht löst die nächste Runde von Experimenten, von denen einige bereits laufen, das Problem", so John Arrington, Physiker am Argonne National Laboratory in Illinois. "Das Messergebnis ist ein Zombie, den wir hoffentlich bald wieder bestatten können."

Teuflische "Oh-Mein-Gott"-Teilchen

Manche Partikel der kosmischen Strahlung besitzen eine Energie, die selbst die Energie von Teilchen in den größten irdischen Beschleunigeranlagen um das Zehn- bis Hundertmillionenfache übersteigt. Kein bekanntes Phänomen ist in der Lage, solche ultrahochenergetischen kosmischen Teilchen zu produzieren. Im Jahr 2007 schien das Pierre Auger Observatory, dessen Detektoren über eine Fläche von 3000 Quadratkilometern in der argentinischen Pampa verteilt sind, auf einem gutem Weg zu sein, die Quelle dieser "Oh-Mein-Gott"-Teilchen festzunageln. Die Auger-Forscher stießen auf "Hotspots" in der Nähe bestimmter Galaxien, von denen besonders viele der extremen kosmischen Teilchen zu kommen schienen. Die Wissenschaftler vermuteten, dass überhitzte Materie um supermassereiche Schwarze Löcher in den Zentren dieser Galaxien die Partikel produzieren könnten. Doch je mehr Daten die Detektoren des Observatoriums anhäuften, desto unwahrscheinlicher wurde dieser Zusammenhang.

Centaurus A | Im Zentrum der Galaxie Centaurus A befindet sich ein supermassereiches Schwarzes Loch – eine potenzielle Quelle ultraenergetischer kosmischer Teilchen.

Während man beim Auger Observatory die Idee der Hotspots zu Grabe trug, feierte sie bei einem anderen Experiment die Wiederauferstehung: Das japanisch geführte Telescope Array im US-Bundesstaat Utah entdeckte einen – wenn auch kleineren – Hotspot am nördlichen Himmel. Noch handelt es sich allerdings eher um einen Geist als um einen Zombie, denn die statistische Signifikanz des Ergebnisses ist bislang gering. Das Experiment registriert derzeit lediglich zwei bis drei Ereignisse pro Jahr, es kann also dauern, bis weitere Daten den Befund bestätigen oder widerlegen. Um den Prozess zu beschleunigen, soll die Fläche des Array in den nächsten drei Jahren um das Vierfache auf 2500 Quadratkilometer erweitert werden.

Ewig schwankende Gravitationskonstante

Wie stark ist die Schwerkraft? Es mag überraschen, aber die Physiker sind sich keineswegs einig über den genauen Wert der Gravitationskonstanten, die sowohl in Isaac Newtons Gravitationsgesetz von 1687 als auch in Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie die Stärke der Gravitation beschreibt. Unterschiedliche Experimente liefern widersprüchliche Ergebnisse. Und das Aufkommen neuer, auf Quantenphänomenen basierender Experimente hat diese Widersprüche nur noch verstärkt.

Inzwischen gibt es eine Initiative, Forschergruppen weltweit zusammenzubringen, damit sie gemeinsam nach einer Lösung für das Problem suchen. "Doch dafür sind neue Ideen nötig", sagt John Gillaspy, der Leiter des Atomic, Molecular, and Optical Experimental Physics Program der US National Science Foundation NSF. Die NSF unterstützt eine für das Jahr 2016 geplante Brainstorming-Tagung, bei der sich Wissenschaftler aus unterschiedlichen Bereichen der Physik eine Woche lang auf die Suche nach einer Strategie zur Lösung des Dilemmas machen sollen. "Vielleicht sagen sie am Ende aber auch, dass sie nicht wissen, wie das Problem zu lösen ist", sagt Gillaspy. "Das ist ein möglicher, aber nicht erwünschter Ausgang des Brainstormings."

Es ist auch durchaus möglich, dass die Differenzen nicht auf Probleme bei den Messungen hinweisen, sondern auf etwas völlig Neues. Die unterschiedlichen Methoden könnten unterschiedliche Ergebnisse liefern, weil die Physik der Schwerkraft selbst revidiert werden müsse, meinen einige Physiker. Lägen sie richtig, dann wäre in diesem Zombie eine wundervolle neue Lebensform verborgen.

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