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Gewalt gegen Frauen: "Unser Sexualstrafrecht hängt noch im Mittelalter fest"

In Deutschland definieren mehrere Paragraphen, was eine Vergewaltigung ist und wie Richter und Richterinnen sie zu bestrafen haben. Diese Definitionen sind hoffnungslos veraltet, sagt die Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle. Ein neuer Gesetzesentwurf liegt nun vor. Doch er kann nur der Anfang sein, meint die Wissenschaftlerin.
Trauma

Frau Hörnle, es gibt einen neuen Gesetzesentwurf für das Sexualstrafrecht: eine Überarbeitung der Paragraphen 177 und 179, die definieren, was eine Vergewaltigung ist und was nicht. Kommt das überraschend?

Tatjana Hörnle: Ich bin Mitglied der Reformkommission zum Vergewaltigungsparagraphen 177, die Justizminister Heiko Maas ins Leben gerufen hat. Daher wusste ich, dass dieser Entwurf in Arbeit ist. Es handelt sich dabei vor allem um eine Überarbeitung des Paragraphen 179, der klärt, wann eine Person widerstandsunfähig ist und daher in einer besonders schutzlosen Lage. Der Paragraph 179 schützt solche Personen besonders und soll jetzt weiter gefasst werden. In Zukunft soll er beispielsweise auch Frauen, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehen, mit einschließen. Und Frauen, die sich aus Angst nicht wehren, weil sie also ein so genanntes "empfindliches Übel" fürchten.

Daneben ist auch eine noch größere, umfassendere Reform des Hauptparagraphen 177 in Arbeit.

Wie sehen Sie den derzeitigen Entwurf?

Kritisch. Es geht bei dieser ganzen Sache um die Umsetzung der Istanbul-Konvention von 2011, die die Bundesregierung damals zwar unterschrieben, aber bisher eben noch nicht ratifiziert hat.

Tatjana Hörnle | ist Professorin am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung der Humboldt-Universität zu Berlin.

Die Istanbul-Konvention schreibt in Artikel 36 vor, dass alle nicht einvernehmlichen sexuellen Handlungen unter Strafe zu stellen sind. In diesem Zusammenhang schlage ich vor, dass "nicht einvernehmlich" zu bedeuten hat: "gegen den erklärten Willen". Das Schlagwort, unter dem diese Denkrichtung geführt wird, heißt: "Nein ist Nein". Wenn also eine Person Ablehnung kommuniziert – sei es durch das Wort "Nein", sei es durch Weinen oder Sonstiges –, dann hat eine sexuelle Handlung meiner Meinung nach strafbar zu sein.

Der jetzt vorliegende Entwurf dagegen hat eine andere Herangehensweise: Er definiert die Rahmenbedingungen, also die erweiterten Umstände, in denen die bedrängte Person sich befindet: ob sie schutzlos ist, ob sie betrunken ist und so weiter. Kurz: Ein "Nein" reicht noch immer nicht aus.

Und warum hat der Entwurf diese Herangehensweise gewählt? Warum wird nicht das "Nein ist Nein" umgesetzt?

Darauf gibt es zwei Antworten. Der erste Punkt ist der Status-quo-Effekt. Man setzt nun mal lieber auf das Bewährte, man bessert also an dem alten System herum, anstatt es ganz neu zu erschaffen, denn dafür ist die Hemmschwelle zu hoch. Das ist die psychologische Erklärung.

Außerdem gibt es beim "Nein ist Nein" noch das Beweisproblem, so die Kritiker: Da stehen nachher Aussage gegen Aussage, weitere Zeugen gibt es in der Regel nicht. Aber hier ist mein Gegeneinwand, dass es dieses Beweisproblem auch jetzt schon gibt, bei den erweiterten Umständen. Wie soll man denn hinterher ermitteln, wie stark die Frau – in den allermeisten Fällen sind die Opfer ja Frauen – am Tag X betrunken war, ob sie unter Drogen stand und so weiter? Kurz: Ich bin der Meinung, es wird die Lage der Juristen nicht dramatisch verändern wird, wenn man zum "Nein ist Nein" übergeht.

Vor drei Jahren hat ein Fall in Essen Schlagzeilen gemacht: Ein Mann war angeklagt, ein Mädchen vergewaltigt zu haben. Obwohl er wusste, dass sie nicht einverstanden war, wurde er freigesprochen: Sie hatte sich nicht genug gewehrt.

Ja. Und dieser Fall würde auch nach dem neuen Gesetzesentwurf nicht anders entschieden werden. Wenn die Frau vor Gericht einfach nur ehrlich sagt: "Ich habe Nein gesagt", dann würde das weiterhin nicht reichen. Sie müsste stattdessen als Nebenklägerin geschult werden und dann explizit sagen: "Ich hatte Angst, dass er mir Gewalt antut, wenn ich mich wehre – ich habe ein empfindliches Übel gefürchtet." Dann allerdings würde der neue Gesetzesentwurf sie schützen, und das ist durchaus ein Fortschritt.

Wenn die große Reform des Paragraphen 177 noch ansteht – könnte es darin noch zum "Nein ist Nein" kommen?

Das ist schwierig zu sagen, denn die Meinungen in der Kommission sind da geteilt. Aber grundsätzlich ist es geplant, das gesamte Sexualstrafrecht umzubauen, und dieser Plan ist gut. Denn in seiner jetzigen Form ist das Sexualstrafrecht ein historisches Produkt, es geht bis ins Mittelalter zurück, auf die Constitutio Criminalis Carolina.

Es gab dann zwar immer wieder kleine Änderungen und Anpassungen – aber nie einen großen Umbruch. Dabei wäre der dringend nötig, denn der Gedanke der sexuellen Selbstbestimmung ist neu, der kam erst im 20. Jahrhundert auf. Das heißt: Es hat nie jemand abgeklopft, wie ein effektiver Schutz der sexuellen Selbstbestimmung aussehen müsste!

In manchen anderen Ländern hat es diesen Umbruch schon gegeben, England beispielsweise hat seit 2003 ein vollkommen neu konzipiertes Sexualstrafrecht.

Gibt es denn Zahlen dazu, wie Vergewaltigungen tatsächlich ablaufen? Wie oft also Gewalt angetan wird, wie oft sie angedroht wird, wie oft das Opfer einfach Angst hat?

Es gibt Erfahrungsberichte und eine Fallsammlung: Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe bff hat Fälle gesammelt, die von der Staatsanwaltschaft eingestellt wurden. Es gab auch eine Umfrage in den Justizministerien der Länder. Beides macht klar: Ja, es gibt da eine Schutzlücke.

Manche wissenschaftliche Autoren schreiben, dass die Rechtsprechung grundsätzlich Frauen benachteiligt: Dass Kriminalität, die sich klassischerweise gegen Frauen richtet, weniger schnell durch Gesetze anerkannt wird als diejenige, der üblicherweise Männer ausgesetzt sind.

Das ist mir noch nicht begegnet. Ich kann auch aus der Praxis sagen, dass Richterinnen nicht weniger konservative Urteile fällen als Männer.

Was halten Sie von dem noch weitergehenden Ansatz "Ja heißt Ja"?

Zwischen "Nein ist Nein" und "Ja heißt Ja" liegen die ganzen ambivalenten Fälle. Die sind sehr schwierig, und die wird es immer geben. Ob man nun "Nein ist Nein" befürwortet oder "Ja ist Ja", hängt davon ab, wie man die Funktion des Strafrechts sieht.

Der "Ja heißt Ja"-Ansatz wird derzeit an Hochschulen in den USA diskutiert. Hier geht es auch um die Persönlichkeitsbildung junger Menschen. Die deutsche Rechtsprechung aber ist ein anderer Fall. Hier bin ich der Meinung, dass sich das Strafrecht in nicht eindeutigen Fällen heraushalten sollte. Ich finde, man kann von einer Frau verlangen, dass sie Nein sagt.

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