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Blutspendeverbot: Meinung: Kalkuliertes Risiko im Blut

Nach dem Massaker von Orlando werden Rufe nach einer Lockerung des Blutspendeverbots für Männer, die mit Männern schlafen, laut. Die wissenschaftlichen Grundlagen zu überprüfen, ist richtig. Doch Politiker dürfen ihre Entscheidungen nicht vom Handlungsdruck nach weltgeschichtlichen Ereignissen bestimmen lassen, findet Philipp Hummel.
Blutspende

Lange Schlangen bildeten sich am 12. Juni vor den Gesundheitszentren und Krankenhäusern in Orlando, dem Tag, nachdem ein Attentäter im Nachtklub "Pulse" 49 Menschen ermordet hatte. Der Klub wird vorwiegend von nichtheterosexuellen Menschen besucht; für diese Gruppe hat sich das Kürzel LGBT (Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender) etabliert. Viele aus der "LGBT-Community" hätten den Opfern gerne geholfen. Zufällig war am 14. Juni auch noch Weltblutspendetag. Doch nach den unfassbaren Ereignissen im "Pulse" wurde der Öffentlichkeit einmal mehr bewusst gemacht, dass es nicht für jeden Menschen gleichermaßen möglich ist, Blut zu spenden.

Denn in den USA sind – genau wie in Deutschland – Männer, die mit Männern Sex (MSM) haben, vom Blutspenden ausgeschlossen. Zu hoch schätzt man das Risiko ein, dass Mitglieder dieser Gruppe das HI-Virus in sich tragen und ihr Blut für andere lebensgefährlich sein könnte. Doch das soll sich demnächst ändern. Denn Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) zeigt sich nach dem brutalen Angriff in Orlando offen, das Blutspendeverbot für MSM zu lockern. Es müsse überprüft werden, ob "neuere Testverfahren für Blutproben und eine bessere Einschätzung des Ansteckungsgeschehens einen befristeten Spenderausschluss – wie auch in den USA angekündigt – als Schutzmaßnahme ausreichend erscheinen lassen", sagte er laut "Berliner Morgenpost".

Stand der Dinge

Nachdem HIV seit Anfang der 1970er Jahre von Afrika über die USA seinen Weg nach Europa gefunden hatte, dauerte es lange, bis es erkannt und verstanden war und Vorsichtsmaßnahmen dagegen ergriffen wurden. Anfang der 1990er Jahre kam der so genannte Blutskandal ans Licht: Mehrere tausend Menschen – vor allem solche, die an der Bluterkrankheit litten – hatten sich weltweit durch mit HIV infizierte Blutspenden mit dem potenziell tödlichen Virus angesteckt. Als Reaktion darauf trat mit einiger Zeitverzögerung das bundesdeutsche Transfusionsgesetz in Kraft. Es regelt seit 1998, wie Blut und Blutprodukte für medizinische Zwecke gewonnen werden dürfen. Seit 2004 gilt übergeordnet eine europäische Richtlinie für Bluttransfusionen. Diese ist in Deutschland in den so genannten Hämotherapie-Richtlinien umgesetzt, die von der Bundesärztekammer und dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) als zuständiger Bundesoberbehörde unter Mitwirkung des Robert Koch-Instituts (RKI) herausgegeben und regelmäßig aktualisiert werden. Aktuell gilt die Fassung von 2010.

"Statistisch ist Sex unter Männern mit einem besonders hohen HIV-Risiko behaftet"

Statistisch ist sicher belegt, dass Sex unter Männern mit einem besonders hohen Risiko einer HIV-Übertragung behaftet ist. Von der geschätzten Gesamtzahl der HIV-Neuinfektionen 2014 sind etwa 2300 bei Männern, die Sex mit Männern haben, aufgetreten. Das entspricht etwa 72 Prozent aller Neuinfektionen. Dagegen infizierten sich nur 220 Männer bei heterosexuellen Kontakten mit HIV. MSM stellen lediglich geschätzte drei bis fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Statistisch gesehen ist das Infektionsrisiko für diese Gruppe also mindestens 200-mal höher, sich beim Sex mit dem Virus zu infizieren.

In Deutschland finden sich verhältnismäßig viele Blutspender. Insgesamt sei die Versorgung mit Bluttransfusionen mit 57 Blutkonserven auf 1000 Einwohner im europäischen Vergleich "besonders gut", so das PEI. Der europäische Medianwert für 30 Mitgliedsstaaten lag im neuesten Vergleichsjahr 2010 bei knapp 36 Blutkonserven. Man ist also nicht unbedingt auf Blutspenden von MSM angewiesen.

Zudem beschränkt sich die Diskriminierung nicht auf Männer, die mit Männern ins Bett gehen. Auch andere "Personen, deren Sexualverhalten ein gegenüber der Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhtes Übertragungsrisiko für durch Blut übertragbare schwere Infektionskrankheiten wie HBV, HCV oder HIV bergen", sind ausgeschlossen. Dazu gehören männliche und weibliche Prostituierte, Menschen gleich welcher sexuellen Orientierung, die häufig den Geschlechtspartner wechseln, oder Personen, die Sex in Ländern mit hohem HIV-Risiko hatten. Zudem trifft der Ausschluss auch Gefängnisinsassen, Menschen mit schweren neurologischen Erkrankungen oder solche, die sich zu Zeiten von BSE länger in Großbritannien aufgehalten haben und nicht explizit Vegetarier sind. All dies wird mittlerweile im bundeseinheitlichen Fragebogen für Blutspender abgefragt.

"Seit es HIV-Tests gibt, sind in Deutschland nur noch sechs Infektionen durch Blutspenden gemeldet worden. Bei fünf davon hätten wahrheitsgemäße Angaben die Infektion verhindert"

Mit einigen dieser Menschen will man vielleicht lieber nicht in einem Atemzug genannt werden. MSM können sich dadurch zurecht stigmatisiert fühlen. Die Statistik jedoch ist gnadenlos. Und nach der stellten MSM als Blutspender bislang ein Sicherheitsrisiko dar. Etwa 50 Prozent der Spender, bei denen ein HIV-Test positiv ausfiel, waren MSM, hatten dies aber gleichzeitig im Spenderfragebogen verneint, berichtete 2013 das PEI in einer Antwort auf einen offenen Brief der Grünen Jugend Nordrhein-Westfalen.

Zwar können auch aktuelle Analysemethoden das "diagnostische Fenster" für falsch negative HIV-Tests bei frischen Infektionen nicht völlig schließen. Seit Einführung der Tests sind laut PEI in Deutschland insgesamt aber nur noch sechs Übertragungsfälle durch infizierte Blutspenden gemeldet worden. Bei fünf der Übertragungen konnte der Infektionsweg geklärt werden, bei ihnen kam die Ansteckung durch Sexualkontakte zu Stande: Zwei davon gingen auf MSM-Kontakte zurück, zwei auf Kontakte zu Personen aus Hochrisikoländern für HIV und eine auf heterosexuelles Risikoverhalten. Alle fünf Infektionen wären durch wahrheitsgemäße Angaben im Fragebogen vermeidbar gewesen. Hier könnte man also ansetzen, um die Sicherheit weiter zu erhöhen.

Eine moralphilosophische Frage

Im Grunde geht es bei dem Dilemma um eine moralphilosophische Frage: Das Ziel ist weniger Diskriminierung von Männern, die mit Männern Sex haben. Die Randbedingung, die es einzuhalten gilt, ist, dass sich das Risiko für Empfänger von Bluttransfusionen keinesfalls erhöhen darf. Es darf keine einzige HIV-Infektion mehr geben als ohne die "neuen" Spenderregeln.

Aktuell stehen Männer, die mit Männern Sex haben, unter Generalverdacht. Selbst wenn sie nur geschützten Verkehr mit ihrem langjährigen Partner in einer monogamen Beziehung haben, sind sie vom Blutspenden ausgeschlossen. Tatsächlich reicht nach geltenden Regeln ein einziger sexueller Kontakt mit einem Mann, um als Mann für den Rest des Lebens vom Blutspenden ausgeschlossen zu sein.

Ein Ende dieser diskriminierenden Praxis könnte mittel- bis langfristig dazu führen, dass es weniger Vorurteile, Übergriffe und Leid für LGBT-Menschen gibt. Dadurch könnten sich womöglich Depressionen, Ängste und selbstzerstörerisches Verhalten bis hin zu Suiziden in dieser Gruppe verringern und so mitunter Leben retten. Dieser utilitaristische Gedankengang wäre freilich kaum empirisch zu überprüfen; derartige Kausalketten sind extrem schwer nachweisbar.

Es könnte aber der Gleichbehandlung von LGBT auch schaden, wenn der Eindruck entsteht, weltgeschichtliche Ereignisse stünden im Zusammenhang mit politischen Entscheidungen über wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Politik sollte deshalb gerade jetzt nicht den Eindruck erwecken, von einem Übereifer der Solidarität geleitet zu sein oder sich vor Vorwürfen der Diskriminierung schützen zu wollen.

Die Politik muss aufhören, "auf Sicht zu fahren"

Der Anschlag von Orlando ändert nichts an der Ausgangslage für Blutspender mit Risikoverhalten. Anders als nach Fukushima, während der Griechenland- oder der Zuwandererkrise und zuletzt auch beim Thema Glyphosat sollten Politiker den Eindruck vermeiden, sie würden nur "auf Sicht fahren", wie Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mehrfach das Regierungshandeln charakterisiert hat.

Gerade Linke und Grüne, die in der Debatte um die Wiederzulassung des Herbizids Glyphosat auf das so genannte Vorsorgeprinzip pochen und jetzt eine Lockerung der Spenderkriterien fordern, sollten sich bewusst machen, dass dieses Prinzip immer nur ein Ideal und nie eine direkte Handlungsanweisung für praktische Politik sein kann. Glyphosat jedoch steht "lediglich" unter dem Verdacht, Krebs erregend zu sein, und das auch nur bei fachfremder, weil stark überhöhter Dosierung. Bei HIV weiß man, dass es töten kann, und die Erkenntnisse aus dem Blutskandal der frühen 1990er Jahre haben bewiesen, dass das Risiko, sich durch Bluttransfusionen zu infizieren, real und mit dem Ausschluss bestimmter Risikogruppen in den Griff zu bekommen ist.

Allerdings hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs im April 2015 ergeben: Ein Blutspendeverbot für MSM könne zwar gerechtfertigt sein; allerdings müsse geklärt werden, ob es keine geeigneten Alternativen zu einem pauschalen Ausschluss gebe. Das könnten etwa genaue Befragungen des einzelnen Spenders zu individuellem riskantem Sexualverhalten sein.

"Wahre Toleranz bedeutet, die hohe HIV-Infektionsrate gleichgeschlechtlich verkehrender Männer als Risiko anzuerkennen, ohne diese Gruppe pauschal vorzuverurteilen"

Die Frage ist auch, was sich durch andere Ausschlusskriterien in der Praxis wirklich ändern würde: Wer sich bisher sexuell hochriskant verhält, kann auch heute schon Blut spenden, wenn er das verschleiert. Wer einen billigen Test für HIV haben will, ohne zum Hausarzt zu gehen, kann das auch jetzt über eine Blutspende bewerkstelligen. Wer verantwortungsbewusst handelt, würde auch in Zukunft bei einem entsprechenden Sexualleben davon absehen, Blut zu spenden. Insofern könnte man vermuten, dass sich die Zahl der Risikospender nicht zwangsläufig durch eine Öffnung für Männer, die Sex mit Männern haben, erhöht.

Untersuchungen aus Ländern, die den Ausschluss für MSM nach einem Zeitraum ohne sexuell riskantes Verhalten wieder aufheben wollen oder aufgehoben haben, deuten in diese Richtung. Auch das PEI und die Bundesärztekammer sprechen sich in ihrer letzten Empfehlung von 2012 für eine "Sperrfrist" von zwölf Monaten für MSM und "Sexarbeiter" aus statt für ein lebenslanges Spendeverbot. Diese Lockerung der Ausschlussregeln will man mit Informationskampagnen unter anderem in Kooperation mit LGBT-Verbänden koppeln, um beim Ausfüllen der Fragebögen verlässlichere Angaben zu bekommen als bisher. Diese "Adhärenz" bei den Fragebögen ist entscheidend dafür, dass das Risiko nicht steigt.

Wahre Toleranz bedeutet, Probleme wie die weit überdurchschnittliche HIV-Infektionsrate gleichgeschlechtlich verkehrender Männer als Risiko fürs Blutspenden anzuerkennen, ohne diese Gruppe pauschal vorzuverurteilen. Mit dem Wissen, dass sich in der Realität nie ein Nullrisiko herstellen lassen wird, sollte man den Vorsorgegedanken in eine Entscheidung über die Ausschlusskriterien einfließen lassen. Eine überstürzte "gut gemeinte" Geste könnte letztendlich verhängnisvolle Konsequenzen haben und so nicht nur auf Blutspenden angewiesene Menschen einem erhöhten HIV-Risiko aussetzen. Man stelle sich vor, es träten nach einer Änderung der Richtlinien wieder HIV-Infektionen durch Blutübertragungen auf, die sich auf homosexuell aktive Männer zurückführen ließen. Die Empörung wäre zu Recht gewaltig. Und Männer, die mit Männern Sex haben, würden wohl wieder zunehmend als Gefahr betrachtet – wie schon nach dem Blutskandal Anfang der 1990er Jahre. Auch das müssen Politiker erwägen.

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