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Seismologie: Spannungsübertragung im Untergrund

Zwei Forscher sehen klare Indizien dafür, dass das große Tohoku-Erdbeben von 2011 die Wahrscheinlichkeit schwerer Erschütterungen in Tokio erhöht hat. Kleine Beben verraten zusätzliche Spannungen im Untergrund.
Tsunamihöhen

Große Erdbeben bauen nicht nur Spannungen an einer Verwerfung ab, sondern transferieren auch Stress in andere, weit entfernte Bereiche der Erdkruste. Wo, wie vor der Ostküste Japans, eine Erdplatte unter eine andere abtaucht, wird das besonders deutlich. Wenn nämlich in einem Bereich dieser so genannten Subduktionszone die Spannung zu groß wird und die Platten sich vorübergehend wieder – oft mit katastrophalen Folgen – zurechtruckeln, beeinflusst das benachbarte Bereiche der Plattengrenze. Dort kann die Wahrscheinlichkeit weiterer großer Beben je nach Situation durch andere Erdstöße zu- oder abnehmen.

Welche von beiden eintritt, hängt von der konkreten Situation ab. Besonders dringend stellt sich die Frage in der japanischen Hauptstadt Tokio. Diese liegt nur etwa 300 Kilometer südwestlich des Epizentrums des großen Tohoku-Beben von 2011, also selbst in einer für schwere Beben berüchtigten Region. In den letzten 400 Jahren hat die Region etwa alle 70 Jahre schwere Erdbeben mit Magnituden über sieben erlebt. Das letzte von ihnen fand im Jahr 1923 statt und zerstörte große Teile von Tokio und Yokohama. Tsunamis und nachfolgende Brände forderten die unvorstellbare Zahl von über 140 000 Menschenleben. Auch heute würde ein vergleichbares Ereignis immense Schäden anrichten.

Zerstörung durch das große Kanto-Beben 1923 | Schäden in den Tokioter Stadtbezirken Nihonbashi und Kanda durch das Erdbeben und den anschließenden Großbrand.

Forscher stellten bereits kurz nach der Erschütterung von 2011 fest, dass Tohoku erhebliche Auswirkungen auf die Spannungsverhältnisse in der Erdkruste hatte. Nur vier Tage nach dem Hauptbeben erschütterte zum Beispiel ein Nachbeben die Region um den hunderte Kilometer entfernten Fuji – mit einer Magnitude von 6,4 war es wahrscheinlich das schwerste Beben nahe des aktiven Vulkans in historischer Zeit [1]. Auch die Kanto-Region, in der sich seit 90 Jahren Spannung ansammelt, ist nach Ansicht von Wissenschaftlern von diesem Stresstransfer betroffen.

Zwei Wissenschaftler, Shinji Toda von der Tohoku University und Ross Stein vom U.S. Geological Survey, sind nun zu dem Schluss gekommen, dass durch die starke Erschütterung vor zwei Jahren der Zeitpunkt für ein großes Beben in der Kanto-Region deutlich näher gerückt sein könnte. Sie verlassen sich dabei unter anderem auf Spannungsanalysen, wie Geowissenschaftler es zum Beispiel in der Vergangenheit bei Verwerfungen entlang der amerikanischen Westküste getan haben, um festzustellen, welche Verwerfung als Nächstes brechen würde [2].

Tokios prekäre Geologie

Das zu ermitteln, ist keineswegs trivial. Tokio liegt an einer besonders prekären Stelle des geologisch unruhigen Japans. Südlich der Kanto-Ebene, auf der die japanische Hauptstadt liegt, treffen sich zwei ozeanische Platten, die Pazifische und die Philippinische, die in der Subduktionszone aufeinander zulaufen. Das verkompliziert die geologische Situation.

Wissenschaftler haben denn auch herausgefunden, dass die schweren Erdbeben in dieser Region nicht etwa von der einfachen Reibung ozeanischer und kontinentaler Kruste herrühren, wie es bei den meisten einfachen Subduktionsbeben der Fall ist. Vielmehr entdeckte ein Team von Seismologen 2008 unter der Kanto-Region in etwa 70 Kilometer Tiefe einen rund 100 Kilometer langen Splitter ozeanischer Kruste, der anscheinend einst von der Pazifischen Platte abgebrochen und nun zwischen den drei kollidierenden Erdplatten eingekeilt ist [3].

Plattengeschiebe unter Tokio | Blick aus Nordosten auf die abtauchenden ozeanischen Platten unter Tokio. Die Kanto-Beben entstehen vermutlich an der Unterseite des Plattenfragments (hellblau) zwischen der Philippinischen und der Pazifischen Platte. Die Konturlinien zeigen die Tiefe unter der Oberfläche, und auch die japanische Vulkankette ist eingezeichnet. Die kontinentale Kruste, auf der Japan sitzt, ist transparent.

Tatsächlich könnte dieses Fragment Tokio überhaupt erst möglich gemacht haben, denn der kalte Krustenrest verdrängt dort heiße Lithosphäre, so dass die Erdoberfläche absackt und den tiefen Trog der mit fruchtbaren Sedimenten gefüllten Kanto-Ebene bildet.

Doch es ist, vermuten japanische Seismologen, auch dieses frei bewegliche Fragment Erdkruste, das für die im Abstand einiger Jahrzehnte auftretenden schweren Beben verantwortlich ist. Seit fast einem Jahrhundert steigt dort der Druck im Untergrund langsam an, während sich die ozeanischen Platten auf den Kontinent zubewegen. Mit dem großen Tohoku-Beben jedoch machte die Spannung anscheinend einen großen Sprung.

In der Folge des Tohoku-Bebens nämlich stieg die Bebentätigkeit auch unter Tokio stark an: Die Zahl kleinerer Erdbeben verzehnfachte sich, ein deutliches Zeichen für zunehmende Spannung unter der Erde. Im Lauf des nächsten Jahres fiel die Bebentätigkeit zwar wieder ab, stabilisierte sich jedoch beim etwa Dreifachen der normalen Rate, wie die Forscher berichten. Die kleinen Beben allerdings sind ihrer Ansicht nach erst der Anfang: Die Wahrscheinlichkeit für ein sehr großes Beben über einer Stärke von sieben hat sich seit 2011 ebenfalls deutlich erhöht.

Kleine Erdbeben verraten Spannungen

Für ausgeschlossen halten die Forscher, dass es sich um klassische Nachbeben handelt: Die Stärke solcher Nachbeben nimmt zwar wie die Kanto-Seismizität im Jahr 2012 exponentiell ab, jedoch normalerweise weit schwächer als beobachtet. Auch die weiterhin erhöhte Seismizität spricht dagegen – sie sollte bei Nachbeben auf das normale Maß zurückgehen.

Konkrete Daten über die neuen Spannungsverhältnisse und ihre Auswirkungen lieferten die kleineren Erdbeben des Jahres 2012 – an ihnen können Forscher ganz konkret erkennen, ob das Tohoku-Beben und seine stärkeren Nachbeben diese Verwerfungen einer größeren Spannung ausgesetzt haben. Tatsächlich war das bei 93 Prozent der kleineren Bebenherde wohl der Fall: Nach den Ergebnissen hat das Tohoku-Beben an der Unterseite des Fragments unter Kanto, wo vermutlich die schweren Kanto-Beben entstehen, die Spannung um ein Bar erhöht.

Horizontaler Versatz durch das Tohoku-Beben | Die roten und schwarzen Pfeile zeigen die modellierte und tatsächlich gemessene Bodenbewegung während des Bebens von 2011. Die Kanto-Region mit der Bucht von Tokio befindet sich nahe der linken unteren Ecke des schwarzen Rechtecks.

Auf der Basis dieser zusätzlichen Spannung berechneten die Forscher anschließend, was die Zahl kleiner Erdbeben über die Wahrscheinlichkeit großer Beben sagt – denn der Zusammenhang zwischen Häufigkeit und Stärke von Erdbeben gehorcht einem einfachen Potenzgesetz. Ein Erdbeben der Magnitude sieben tritt demnach in den nächsten fünf Jahren mit einer Wahrscheinlichkeit von nun 17 Prozent auf, fast eine Verdreifachung des Werts vor dem Tohoku-Beben. Die Wahrscheinlichkeit eines Bebens einer Stärke über 6,5 bis zum Jahr 2018 stieg sogar von knapp 18 auf über 40 Prozent.

Solche Zahlen sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. "Konkrete Wahrscheinlichkeiten sind natürlich an einem Beben sehr schwer zu verifizieren", erklärt Frederik Tilmann, Seismologe am Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam. Man müsse schon viele Beben über größere Regionen untersuchen, um solche Aussagen tatsächlich überprüfen zu können. "Die exakten Zahlen hängen auch von den gemachten Annahmen ab, vieles weiß man ja nicht genau – andere Wissenschaftler werden sicherlich zu anderen Zahlen gelangen. Aber qualitative Aussagen kann man schon machen."

Für Japan ändert sich durch die Erkenntnisse von Toda und Stein nicht viel. Schließlich weiß man seit Jahrzehnten, dass Tokio bedroht ist. Für andere bebengefährdete Regionen enthalten solche Analysen jedoch potenziell lebensrettende Informationen. "Japan ist ein Sonderfall, dort ist man sehr gut auf Erdbeben vorbereitet. In anderen Regionen dagegen ist es oft durchaus sinnvoll, so ein erhöhtes Risiko festzustellen, um dann rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen", findet Frederik Tilmann.

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