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Neurowissenschaften: Spiegellied

Eine Zufallsentdeckung avancierte zum Hit der Neurowissenschaften: Spiegelneurone - jene merkwürdigen Nervenzellen, die sich rühren, wenn wir Handlungen bei anderen beobachten oder sie selbst ausführen. Sie gelten als Schlüssel für Lernen, Sprache und Mitgefühl - doch nicht nur Mensch und Affe besitzen diesen inneren Spiegel.
Sumpfammer (<i>Melospiza georgiana</i>)
Giacomo Rizzollatti traute seinen Augen nicht. Das Signal war jedoch eindeutig da. Das kann nur ein Messfehler sein, lautete sofort das Urteil des italienischen Neurowissenschaftlers und ließ die Messreihe wiederholen.

Zusammen mit seinen Kollegen von der Universität Parma hatte sich Rizzollatti lediglich dafür interessiert, wie das Säugetiergehirn Bewegungen kontrolliert. Dazu registrierten sie mittels implantierter Elektroden die Aktivität eines bestimmten Hirnareals bei einem Rhesusaffen, sobald dieser nach einem Objekt griff.

Alles klappte bestens – doch als einer der Forscher selbst eine Rosine in die Hand nahm, geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Das Messgerät des verkabelten Äffchens schlug aus, obwohl das Tier mucksmäuschenstill dasaß. Es hatte lediglich sein menschliches Gegenüber beobachtet!

Der Zufallsfund von Parma gilt heute als Sternstunde der Neurowissenschaften. Die italienischen Forscher, die ihre Entdeckung 1996 veröffentlichten [1], nannten die merkwürdigen Nervenzellen "Spiegelneurone". Offensichtlich regen sich diese Zellen nicht nur bei eigenen Bewegungen, sondern auch dann, wenn die gleichen Bewegungen bei jemand anderem beobachtet werden.

Aua! | Allein das Hinsehen tut weh – dank Spiegelneuronen können wir den Schmerz mitfühlen.
Spiegelneurone, über die sicherlich auch der Mensch verfügt, avancierten inzwischen zu einem Lieblingsobjekt der Neurowissenschaftler. Denn mit diesem inneren Spiegel wird erklärbar, wie wir Bewegungsabläufe erlernen, indem wir andere beobachten und "innerlich" nachahmen. Somit können wir Handlungen, Absichten und vielleicht auch Gefühle unserer Mitmenschen selbst innerlich erleben und nachvollziehen.

Und nicht nur das: Das Hirngebiet der Affen, in dem die italienischen Forscher die Spiegelneurone entdeckt haben, entspricht beim Menschen dem Broca-Areal – einem für die Sprachproduktion unverzichtbaren Bereich der Großhirnrinde. Spiegelneurone könnten damit auch der Schlüssel für eine typisch menschliche Eigenschaft sein: der Fähigkeit zu sprechen.

Allerdings beschränkten sich Spiegelneurone bislang auf den motorischen Bereich: Sie feuern bei eigenen oder fremden Bewegungen. Entsprechende auditorische Nervenzellen, die sich rühren, sobald jemand etwas sagt oder hört, hatten Forscher noch nicht aufgespürt. Nun lässt sich das Verhalten einzelner Hirnzellen beim Menschen kaum messen, und Affen sprechen halt nicht. Es gibt jedoch Tiere, die über ein ausgefeiltes und zu erlernendes Lautrepertoire verfügen: Singvögel.

Melospiza georgiana | Die Männchen der Sumpfammer (Melospiza georgiana) verteidigen mit ihrem Gesang ihr Reviere gegen Konkurrenten und locken Weibchen an.
Die Sumpfammer (Melospiza georgiana), ein kleiner, eher unscheinbarer Sänger, der in Feuchtgebieten der nordöstlichen USA und dem südöstlichen Kanada heimisch ist, sollte der Arbeitsgruppe von Richard Mooney von der Duke-Universität in Durham bei der Suche nach auditorischen Spiegelneuronen weiterhelfen. Die Forscher platzierten Elektroden in einem bestimmten Bereich des winzigen Vogelhirns, das Anatomen unter dem Begriff "Hyperstriatum ventrale pars caudale" kennen. Diese auch unter dem Kürzel HVC (higher vocal center) firmierende Hirnstruktur gilt als entscheidende neuronale Schaltstelle des Vogelgesangs.

Und tatsächlich: Bestimmte Neurone des HVC feuerten nicht nur, wenn der Vogel sein Lied schmetterte. Sie meldeten sich auch dann, sobald die Forscher ihrem geflügelten Probanden den Gesang eines Artgenossen vorspielten [2].

Mooney und seine Kollegen vermuten, dass diese Nervenzellen der Ammer helfen, ihrem musikalischen Repertoire den nötigen Feinschliff zu geben: Die Befehle des HVC kontrollieren die Muskelbewegungen des Kehlkopfs, sie gelangen aber auch als so genannte Efferenzkopie oder corollary discharge in die Hirnregionen, die für das Erlernen des Liedguts zuständig sind. Der Vogel kann damit das eigene Gezwitscher mit dem gelernten abstimmen.

Hört das Ammermännchen jedoch einen Nachbarn, dann meldet sich der innere Spiegel im HVC ebenfalls. Wiederum im Vergleich mit dem eigenen erlernten Gesang erlaubt dies die individuelle Identifizierung des Artgenossen. Und schließlich kann der Sänger mithilfe der Spiegelzellen seine Künste mit den Lektionen seiner Eltern vergleichen, bei denen er einst in die Schule ging.

Spiegelneurone scheinen damit im Tierreich weiter verbreitet zu sein, als bislang vermutet. Wenn es derartige Spiegelzellen beim Menschen auch im auditorischen Bereich gibt, dürften sie ein wichtiges Wörtchen bei der Sprache mitzureden haben. Hier warten wohl noch einige Entdeckungen der Spiegelneuronenforscher.

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