Direkt zum Inhalt

Artenschutz: Tiefrote Bilanzen

Wäre die Natur ein klassisches Wirtschaftsunternehmen und Arten der Gewinn, die Sorge wäre groß angesichts des derzeitig rapiden Kapitalverlustes. Droht der Konkurs?
Die letzte ihrer Art in Freiheit: Hawaii-Krähe
Rotwolf, Mauritiussittich, Waldrapp, Harlekinfrosch, Goldkugelkaktus, Tasmanischer Beuteltiger, Dodo – die Zahlen der bedrohten oder ausgestorbenen Tier- und Pflanzenarten wachsen in bislang nicht gekanntem Tempo, wobei bestimmte Gruppen – beispielsweise Amphibien, Schildkröten oder Palmfarne – davon überdurchschnittlich stark betroffen sind. Bei anderen artenreichen Einheiten wie Insekten oder Fischen fehlen dagegen mangels genauerer Kenntnisse der Bestände exakte Daten. Die so genannten Roten Listen geben daher wahrscheinlich nur einen kleinen Einblick in viel dramatischere Bedrohungsszenarien.

Ein Symbol des Amphibiensterbens: der australische Corroboree-Frosch | Ein Symbol des Amphibiensterbens. Den australischen Corroboree-Frosch (Pseudophryne corroboree) bedrohen Klimawandel, eingeschleppte Tierarten, Krankheiten und Lebensraumzerstörung. Kein Wunder also, dass sein Überleben mit 250 Individuen am seidenen Faden hängt. Amphibien zählen weltweit zu den am stärksten bedrohten Tiergruppen.
Nach den neuesten Zahlen der IUCN gelten insgesamt mindestens 15 589 Spezies als bedroht: 7266 Tier- und 8323 Pflanzenarten. Mindestens 15 Arten sind in den letzten zwanzig Jahren ausgestorben, und zwölf weitere überleben nur noch in menschlicher Obhut. Vom Antlitz des Planeten verschwanden Mitglieder aus unterschiedlichen Taxa: Der Guam-Fliegenschnäpper (Myiagra freycineti) wurde in seiner Heimat gänzlich von einer eingeschleppten Schlange verzehrt. Den letzten Spanischen Steinbock (Capra pyrenaica ssp. pyrenaica) raffte ein umstürzender Baum hinweg, nachdem seine Artgenossen über die Jahrhunderte bejagt wurden. Die Goldkröte (Bufo periglenes) aus Costa Rica fiel einer Kombination aus Klimawandel und Krankheiten zum Opfer; und der kleine Farn Anogramma ascensionis von der Atlantikinsel St. Helena wurde von eingeführten Pflanzen verdrängt.

Trochetiopsis erythroxylon | Da war es nur noch einer: der einzige überlebende endemische Ebenholzbaum Trochetiopsis erythroxylon St. Helenas. Der Niedergang der Art begann mit der Besiedelung St. Helenas, denn der Baum lieferte gutes Holz und seine Rinde eignete zum Gerben von Häuten. Mitte des 20. Jahrhunderts existierte nur noch ein Überlebender, der Stammvater aller Nachkommen ist. Das Klonen verringerte aber die genetische Vielfalt der Art.
Sie alle bilden aber sehr wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs. So kennt man bei den Amphibien beispielsweise nur neun Arten, die definitiv seit 1980 ausgestorben sind. Allerdings gibt es von 113 weiteren Lurchen in der jüngeren Vergangenheit keinen gesicherten Nachweis mehr; ihre Existenz steht folglich höchst in Frage. Von den 281 bekannten Süßwassermuschelarten der Vereinigten Staaten gelten mindestens 19 als ausgestorben.

Dlinza-Waldwindrädchen | Überlebt in einem Stadtpark. Die letzte Heimat des südafrikanischen Dlinza-Waldwindrädchens (Trachycystis clifdeni), einer Schneckenart, ist ein Waldpark in einer städtischen Siedlung in der Provinz KwaZulu. Seine Größe umfasst nur 250 Hektar.
Manche Arten existieren noch, wandeln aber am schmalen Grat des Abgrundes und überleben nur auf Grund menschlicher Fürsorge: Den brasilianischen Spix-Ara (Cyanopsitta spixii) trennen gerade einmal sechzig Exemplare bei wenigen Züchtern auf verschiedenen Kontinenten von der totalen Auslöschung, Schnecken der Gattung Partula kriechen zwar durch Glaskästen in den Zoos von London und des Jersey Wildlife Trusts, aber nicht mehr durch ihre ursprüngliche Heimat Moorea in Französisch-Polynesien. Es steht zu befürchten, dass in naher Zukunft viele weitere Arten ein ähnliches Schicksal teilen werden.

Nach Angaben der IUCN wuchs die Rote Liste im Vergleich zum Vorjahr um 3330 Spezies. Diese erschreckende Tatsache relativiert sich zwar ein klein wenig bei genauerer Betrachtung. So resultiert das starke Wachstum auch aus Neueinteilungen von Arten und erstmalig erfassten Tier- und Pflanzengruppen. Aber gerade deshalb leuchten die Warnlampen auf. Erst diese genaueren Untersuchungen zeigen etwa das ganze Ausmaß des Amphibiensterbens, von dem jede dritte Frosch- oder Salamanderart betroffen ist. Bedroht sind weiterhin fast die Hälfte aller Schildkröten, jeder achte Vogel und jedes vierte Säugetier. In absoluten Zahlen stellt dies die Gefährdung von mehr als 1200 Vogel- und 1000 Säugetierarten dar!

Grüne Sphinx-Motte | Das wahre Ausmaß des Artensterbens ist nur in Ansätzen erfasst, denn von artenreichen Gruppen wie den Insekten oder Pilzen kennt man keine genauen Artenzahlen, geschweige denn ihre Bestandsgrößen. Die Grüne Sphinx-Motte (Tinostoma smaragditis) lebt auf Kauai, Hawaii, und galt bis 1998 als verschollen. Sie wird nun durch eingeschleppte Arten bedroht.
Und es gibt noch weitere Gründe, warum knapp 16 000 bedrohte Tier- und Pflanzenspezies allenfalls die Untergrenze der Vielfaltskrise andeuten: Das Myriadenheer der Wirbellosen oder Pilze ist nur in kleinsten Ansätzen erfasst. Selbst bei der Flora ergeben sich große Lücken, denn hier kennt man gerade einmal die genauen Zahlen der Nadelbäume und der Palmfarne, von denen 25 bis 50 Prozent in irgendeiner Form gefährdet sind. Süßwasser- und marine Lebensräume sind ebenfalls mangelhaft untersucht, wenngleich sich die Hinweise auf dortiges Artensterben mehren. Seefische – im Speziellen Haie, Tun- und andere Speisefische – werden bis zum Erlöschen der Bestände gejagt, Süßwasserorganismen leiden unter Gewässerverschmutzung, Flussverbauungen und eingeführten Arten.

Channel-Island-Fuchs | Die Bedrohung von Festlandarten ist mittlerweile ebenso groß wie von Inselbewohnern. Die unmittelbare Gefahr des Aussterbens für Inselarten ist allerdings auch weiterhin sehr groß, denn sie haben meist nur sehr kleine Lebensräume und werden durch eingeführte Arten sehr stark in ihrer Existenz gefährdet. Den Channel-Island-Fuchs bedrohen Steinadler und Staupe, sein Bestand hat deshalb schon um 80 Prozent in den letzten Jahren abgenommen.
Die sechste globale Aussterbewelle scheint immer mehr taxonomische Gruppen zu erfassen und betrifft kontinentale Arten mittlerweile ebenso häufig wie Inselbewohner. Vor diesem Hintergrund schätzt die IUCN die Aussterberate mindestens 100 bis 1000fach höher ein als ohne menschliches Zutun. Menschliche Eingriffe in das natürliche Gleichgewicht sind jedoch mannigfaltig: Sie reichen von Lebensraumzerstörung über eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten bis hin zur Übernutzung einzelner Populationen. Der Mensch ist folglich die treibende Kraft hinter dem Niedergang der Biodiversität.

Patagonische Zypresse | Übernutzung ist nach der Lebensraumzerstörung und neben eingeschleppten Arten die wichtigste Ursache für den Niedergang der Diversität. Die Patagonische Zypresse (Fitzroya cupressoides) gehört zu den größten Bäumen im gemäßigten Südamerika und wurde wegen ihres begehrten Holzes großflächig abgeholzt. Ihr heutiges Verbreitungsgebiet umfasst nur noch 15 Prozent der ursprünglichen Fläche.
Allerdings ist noch nicht alles verloren, denn es gibt immer wieder Lichtblicke. Das Aussterben des Goldgelben Löwenäffchens (Leontopithecus rosalia) aus dem brasilianischen Küstenregenwald wurde durch konzertierte Naturschutz- und Zuchtbemühungen ebenso erfolgreich vermieden wie das des Kalifornischen Kondors (Gymnogyps californianus). Auch entdeckt man immer wieder verschollen geglaubte oder vermeintlich ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten wie den Langbein-Buschsänger (Trichocichla rufa) auf Fiji oder die Bayerische Kleinwühlmaus (Microtus bavaricus). Von ihr glaubte man, sie wäre komplett einem Krankenhausbau in Garmisch-Partenkirchen zum Opfer gefallen, bevor man sie 2000 im angrenzenden Tirol wieder fand.

Doch diese erfreulichen Ereignisse dürfen nicht über das wahre Ausmaß des Artensterbens hinweg täuschen. Die Natur schreibt rote Zahlen, und der Mensch ist der Hauptverantwortliche, wenn sie daran Bankrott geht.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.