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News: Tod eines lebenden Fossils

Lange galt der Einzeller Giardia als Relikt aus längst vergangenen Zeiten: Ohne Energie liefernde Mitochondrien schien dieses Wesen bereits existiert zu haben, bevor sich kernhaltige Zellen Bakterien als dienstbare Geister einverleibt hatten - eine hervorragende Stütze für die Endosymbiontentheorie. Doch Giardia hat Mitochondrien - wenn auch sehr ungewöhnliche.
Giardia intestinalis
Im Jahr 1905 veröffentlichte der russische Botaniker Konstantin Mereschkowsky eine Idee, die bei seinen Zeitgenossen völlig unbeachtet blieb: Er behauptete, dass Chloroplasten, jene Zellorganellen, mit denen die Pflanzenzellen Photosynthese betreiben, nichts anderes sind als Bakterien, die eine Zelle sich einst einverleibt und für ihre Zwecke genutzt hatte.

Ähnliches vermutete bereits der deutsche Anatom Richard Altmann über die von ihm 1886 entdeckten Mitochondrien, die – wie sich später herausstellte – als "Kraftwerke der Zelle" die Energiegewinnung aufrechterhalten.

Es sollten jedoch fast noch sieben Jahrzehnte verstreichen, bis die amerikanische Biologin Lynn Margulis diese Ideen zu Beginn der siebziger Jahren aufgriff – und damit heftigen Widerspruch provozierte. Heute gilt die Endosymbiontentheorie als weitgehend akzeptiert. Demnach sind Chloroplasten und Mitochondrien nichts anderes als die Relikte einer unverdauten Mahlzeit: Die Vorfahren der Eukaryoten, also jene Zellen, die über einen echten Zellkern verfügen, hatten ihre bakterielle Beute nicht als Nahrungsquelle genutzt, sondern als billige Arbeitskraft in ihrem Innern integriert. Nicht nur die doppelte Membran, sondern auch das eigenständige genetische Material der Organellen zeugt von ihrem bakteriellen Erbe.

Ein besonders schöner Beleg für die Endosymbiontentheorie wären Zellen, die zwar einen Zellkern, aber keine Organellen besitzen. Solche Zellen könnten als Relikte aus der Zeit vor dem folgenschweren Mahl stammen. Als Paradebeispiel für solch ein "lebendes Fossil" galt lange Zeit der tierische Einzeller Giardia intestinalis. Der Flagellat, der auch auf die Namen Giardia lamblia und Lamblia intestinalis hört, zählt eher zu den unangenehmen Zeitgenossen, verursacht er doch als Parasit des menschlichen Darms schwere Durchfälle.

Weil sich nun bei Giardia keine Mitochondrien finden ließen – und der Einzeller auch sonst einen eher primitiven Eindruck machte –, passte er wunderbar ins Bild der Evolutionsforscher. Mitochondrien im üblichen Sinne braucht Giardia auch gar nicht, verschmäht der Parasit doch Sauerstoff und verzichtet auf einen oxidativen Stoffwechsel. Seine Energie gewinnt er über anaerobe Stoffwechselwege, die im Cytoplasma ablaufen. Dafür benötigt er bestimmte Enzyme, die über Eisen-Schwefel-Verbindungen als Cofaktoren verfügen.

Solche Eisen-Schwefel-Komplexe kennen Biochemiker auch von den Elektronentransportketten, die in den Mitochondrien ablaufen. Alle anderen Eukaryoten – egal ob Pilz oder Mensch – lassen diese lebenswichtigen Verbindungen nun von den Mitochondrien synthetisieren. Wie vollbringt Giardia diese Synthese ohne Zellorganellen?

Genau das wollte Jorge Tovar von der Universität London wissen und nahm deswegen den Einzeller noch einmal genauestens unter die Lupe. Und Tovar und seine Kollegen wurden fündig: Sie entdeckten in den Zellen Strukturen, die wie Organellen von einer Doppelmembran umgeben sind. Chloroplasten konnten es nicht sein, denn Photosynthese betreibt der Parasit im menschlichen Darm wohl kaum. Waren es doch Mitochondrien?

Es waren welche – aber keine gewöhnlichen. Die rätselhaften Strukturen erwiesen sich als primitive Form von Mitochondrien, die Tovar bereits beim parasitischen Einzeller Entamoeba histolytica – einst ebenfalls als mitochondrienloses lebendes Fossil betrachtet – entdeckt und als Mitosomen bezeichnet hatte.

Diese Mitosomen stellen nun die für den Energiestoffwechsel benötigen Eisen-Schwefel-Verbindungen her. Sie sind dafür besonders geeignet, weil sie – was zunächst absurd erscheint – vor Sauerstoff schützen. Denn der Syntheseprozess ist sauerstoffempfindlich, und die Doppelmembran der Mitosomen lässt das reaktive Element nicht passieren. Dieser anaerobe Prozess könnte wiederum ein Relikt der Vorfahren der Mitochondrien sein. Damit wären nicht die Einzeller, sondern deren Mitosomen lebende Fossilien.

"Giardia hat jetzt ausgedient", meinen auch Katrin Henze und William Martin von der Universität Düsseldorf. "Aber es wird einen neuen Platz in den Lehrbüchern als beispielhafter Eukaryot finden, mit winzigen Mitochondrien, die hartnäckig an einen lebenswichtigen – und anaeroben – biochemischen Stoffwechselweg festhalten."

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