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Megafauna: Tödliche Klauen

Ein riesiger Greif beherrschte einst den Luftraum über Neuseeland. Seine Kräfte reichten aus, um schwere Straußenvögel in die Luft zu heben - und vielleicht auch Menschen.
Schädelknochen vom Haast-Adler
"Eines Tages gab es einen Wettbewerb zwischen dem Habicht und dem Adler. Der Habicht sagte, er könne den Himmel erreichen, der Adler antwortete, er könne das auch, und fragte, was denn das Zeichen des Habichts wäre. Der Habicht antwortete 'kei' – sein typischer Ruf. 'Und was wirst du rufen?', fragte er seinen Konkurrenten. 'Hokioi–hokioi–hu–u', lauteten die Worte. Dann schwangen sie sich empor und flogen zum Himmel. Die Winde und Wolken kamen, der Habicht schrie 'kei' und stieg wieder herab – er konnte nicht mehr weiter fliegen. Der Adler aber verschwand im Himmel."

Seit jenem Tag heißt der Adler in der Mythologie der Maori auch Te Hokioi, denn "Hokioi–hokioi" lautet sein Ruf, und "Hu–u" ist das Pfeifen seiner Flügel, wenn er während der Jagd vom Himmel herabschießt. Ein Geräusch, vor dem sich die neuseeländischen Ureinwohner fürchteten – und das wohl zu Recht, wie eine Studie von Paul Scofield vom Canterbury Museum in Christchurch und Ken Ashwell von der University of New South Wales in Sydney nun bestätigt.

Rekonstruierte Jagdszene | Der Haast-Adler war der größte Greifvogel, der in historischen Zeiten auf der Erde lebte. Seine Hauptbeute waren die ebenfalls gigantischen Moas Neuseelands, die er mit seinen riesigen Klauen schlug.
Denn verursacht wurde das Pfeifen von Flügeln mit drei Meter Spannbreite, die zum wohl größten Greifvogel gehörten, der in historischen Zeiten die Erde bevölkerte: dem Haast-Adler (Harpagornis moorei). Bis zu 18 Kilogramm konnten die größeren und schwereren Weibchen wiegen; der nächstgrößere Greifvogel – der Riesenseeadler – bringt es heute nur auf die Hälfte davon. Und die Klauen des Te Hokioi waren so groß wie die Krallen eines Tigers. Heute ist der Haast-Adler ausgestorben und existiert nur noch in überlieferten Erzählungen und verschiedenen Skeletten, wie jenem, das 1874 in einem Sumpf gefunden und von seinem späteren Namensgeber Julius von Haast beschrieben wurde – mehr blieb der Wissenschaft lange versagt.

In der Folge kamen daher Zweifel daran auf, dass der Haast-Adler tatsächlich eine Furcht erregende Tötungsmaschine war, die sich agil auf ihre Beute stürzen konnte, oder ob es sich nicht eher um einen Aasfresser handelte, der sich gemächlich an bereits verendeten Opfern gütlich tat. Für diese These sprach beispielsweise der Schädelbau des Vogels, der jenem heutiger Geier gleicht: Über den Nasenlöchern hatten sich schutzklappenähnliche Anhänge entwickelt, die verhindern sollten, dass Fleisch und Blut die Atemwege verstopfen, wenn das Tier an einem Kadaver frisst.

Schädelknochen vom Haast-Adler | Der voluminöse Schnabel des Adlers steht im Kontrast zu seinem vergleichsweise kleinen Gehirn. Im Lauf der zügigen Evolution des Greifvogels ist es kaum mitgewachsen, sondern weit gehend auf dem Niveau des schmächtigen Vorfahren geblieben.
Doch das mochten der Biologe Scofield und der Mediziner Ashwell nicht glauben und durchleuchteten deshalb Schädel und andere Knochen des Greifvogels in einem Comutertomografen: Mit den Ergebnissen wollten sie die Größe von Hirn, Augen, Ohren und der Wirbelsäule des Adlers rekonstruieren, diese mit noch lebenden Verwandten vergleichen und damit mehr über seine Lebensweise erfahren.

Tatsächlich war Te Hokioi ein kräftiger Jäger, dessen Hüftknochen es aushielten, wenn er mit 80 Kilometern pro Stunde auf seine Beute herabstieß, um sie mit einem Schlag seiner Fänge zu töten. Diese konnte er auch richtig schließen und sie so selbst durch harte Knochen treiben, damit er das Opfer mit in die Höhe zerren und zu seinem Horst schleppen konnte. Kräfte, die der Adler dringend benötigte: Sein Hauptziel waren die Moas, bis zu 250 Kilogramm schwere und 2,5 Meter große, flugunfähige Laufvögel, die den heutigen Straußen ähnelten und in Neuseeland – das vor Ankunft des Menschen praktisch frei von Säugetieren war – die Nische großer Pflanzenfresser allein besetzten.

Hüftknochen eines Haast-Adlers | Die großen Löcher in diesem Knochen waren einst Leitbahnen für die Nerven. Ihre Ausmaße zeigen an, dass der Adler zu einem sehr festen Griff in der Lage war.
"Der Haast-Adler war also nicht nur ein gigantischer Greifvogel, er war das neuseeländische Pendant eines Löwen", umschreibt Paul Scofield die Rolle des Vogels. In einigen Fossilienlagerstätten fanden Paläontologen bereits Moaknochen, die von den Klauen des Adlers durchlöchert waren. Nach Adlerart erbeutete er seine Speise wahrscheinlich von hoher Warte aus, indem er sich im rasanten Flug auf sie stürzte. Gleichzeitig bestätigte die Studie, dass sich Harpagornis moorei in wenigen hunderttausend Jahren aus einem deutlich kleineren Vorfahren fortentwickelt hatte – sein nächster Verwandter ist der australische Kaninchenadler (Aquila morphnoides), der gerade einmal ein Kilogramm wiegt. Mit diesem "Zwerg" hatte er allerdings nur noch die Hirngröße gemein: Sein Denkapparat blieb zumindest vom Volumen her relativ unterentwickelt.

Sein Gigantismus wurde dem Haast-Adler letztlich zum Verhängnis. Mit Ankunft der ersten Maori im 13. Jahrhundert begann sein Niedergang. Die ersten Siedler rodeten die Wälder und rotteten die Moas aus – dem Te Hokioi fehlte ausreichend Beute. Stattdessen verlegte er sich auf eine Alternative, die ihn zur Furcht erregenden Legende machten: Mangels Nahrung jagte er angeblich bald auch Maori-Frauen und -Kinder und "verschleppte sie in die Höhe". Doch auch das nutzte dem seltenen Greif nur kurz: Vor 500 Jahren starb er aus.

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  • Quellen
Scofield, R., Ashwell, K.: Rapid somatic expansion causes the brain to lag behind: the case of the brain and behavior of New Zealand’s Haast’s eagle (Harpagornis moorei). In: Journal of Vertebrate Paleontology 29(3), 2009.

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