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Schilddrüsenkrebs: Tschernobyl: Strahlen und Zahlen

Über Krebsfälle nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl geistern die unterschiedlichsten Zahlen durch die Literatur. Dabei ist es selbst Experten nicht möglich, die Erkrankungen eindeutig Strahlenschäden zuzuordnen.
Schutzmaske im Sperrgebiet um Tschernobyl

Der Reaktorunfall in Tschernobyl lag erst ein paar Jahre zurück, da häuften sich die Fälle von Schilddrüsenkrebs in den betroffenen Gebieten – vor allem bei den Menschen, die zum Zeitpunkt des Reaktorunfalls unter 15 Jahre alt waren. Weißrussland traf es dabei besonders hart. Das seit Jahrzehnten gebeutelte Land kann sich nicht angemessen um die bekannten und potenziellen Patienten kümmern.

Zur Verbesserung der Lage wurde ein zwölfköpfiges, internationales Expertenteam nach Minsk eingeladen, um die Kollegen zu unterstützen. Einer dieser Experten ist der deutsche Arzt Christoph Reiners, heute ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Würzburg. Zwei Wochen lang besuchten er und seine Kollegen die jungen Patienten, untersuchten sie und versuchten, sie so gut wie möglich zu behandeln. Dabei stießen sie angesichts der schlechten Umstände an ihre Grenzen.

Reiners entschied sich, zusammen mit seinen Kollegen die 240 am schwersten betroffenen Patienten nach Deutschland zu holen. Gleichzeitig organisierten sie finanzielle Mittel, um vor Ort in Minsk die Hygiene- und Behandlungsbedingungen zu verbessern. Auf die Frage, wie viele Fälle es insgesamt sind, kennt Reiners keine komplett sichere Antwort: "Die vermutlich richtigste aller Zahlen, die diesbezüglich kursieren, ist wohl 6000. 6000 Schilddrüsenkrebsfälle bisher, die auf Strahlungsschäden zurückzuführen sind." Es ist die Zahl, auf die sich 2006 ein internationales Expertenteam einigen konnte und die deswegen in Form eines WHO-Berichts veröffentlicht wurde.

Jodtabletten | Während eines Nuklearunfalls reduzieren Jodtabletten die Menge radioaktiver Nuklide, die aus der Umwelt ins Gewebe gelangen, und schützen so die Schilddrüse.

Es ist die Zahl der Kinder oder Jugendlichen, die 1986 in den betroffenen Gebieten waren und bis 2005 an Schilddrüsenkrebs erkrankten. Ein großer Teil dieser Krankheitsfälle, hieß es damals, sei wahrscheinlich strahleninduziert – 15 Betroffene starben. Doch diese Schätzungen sind umstritten – bei Wissenschaftlern ebenso wie bei Aktivisten – zumal man davon ausgehen muss, dass noch jahrelang Krebsfälle auftreten werden, die auf Strahlungsschäden zurückzuführen sind: 16 000, 30 000, 66 000 ...? Doch wirklich richtig kann letztlich keine dieser Zahlen sein.

Jod strahlt von innen, der Rest von außen

In jenen Regionen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands, die durch das Unglück mit dem radioaktiven Jodisotop I-131 kontaminiert wurden, stiegen die Schilddrüsenkrebsfälle am stärksten an – ein Indiz für einen Zusammenhang. Die Schilddrüse nämlich benötigt stabiles Jod (I-127), um das Hormon Thyroxin herzustellen. Allerdings nimmt das Organ auch das radioaktive Isotop auf, besonders in Jodmangelgebieten – und das waren alle betroffenen Gebiete.

"Vor dem Unfall bei Tschernobyl dachten viele Wissenschaftler, dass Strahlenbelastung von außen – beispielsweise durch radioaktives Zäsium, aber auch im Alltag durch medizinische Röntgenstrahlung – bei gleicher Dosis gefährlicher ist als die von intern gespeichertem Jod", erzählt Peter Jacob, Leiter der Deutschen Delegation beim UN-Komitee für die Effekte ionisierender Strahlung. "Das nach Tschernobyl beobachtete Schilddrüsenkrebsrisiko war jedoch ähnlich hoch wie jenes unter den Überlebenden der Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki – und die waren äußerer Strahlung ausgesetzt."

Vor allem Kinder erkranken an Schilddrüsenkrebs; man geht davon aus, dies hänge auch damit zusammen, dass die aufgenommene Joddosis bei jungen Menschen höher ist als bei Erwachsenen. Bei pubertierenden Mädchen erhöht das Östrogen im Körper die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung – daher sind sie stärker betroffen als Jungen im gleichen Alter. Eine weitere, aber umstrittene Begründung ist, dass die Teilungsrate bei jungen Schilddrüsenzellen viel höher sei, da das Organ nur während der Kindheit und Jugend wächst.

Teilweise wurden die Strahlungsdosen in den Schilddrüsen betroffener Menschen direkt nach dem Unfall gemessen, doch I-131 hat eine Halbwertszeit von gerade einmal acht Tagen. Das heißt, dass man nach kürzester Zeit nicht mehr direkt nachweisen kann, welche Schilddrüsen intern bestrahlt wurden und welche nicht. Daher wurden später die Dosen meist mit Hilfe von Fragebögen rekonstruiert, in denen beispielsweise nach den Essgewohnheiten gefragt wurde – am bedenklichsten war der Konsum von frischer Milch aus der kontaminierten Gegend.

Durch Strahlung oder nicht durch Strahlung?

Bis heute haben Mediziner und Genetiker keinen Weg gefunden, eine spontan auftretende Schilddrüsenkrebserkrankung von einer zu unterscheiden, die durch ionisierende Strahlung ausgelöst wurde. In aufwändigen Studien versuchen einige Wissenschaftler, zumindest Tendenzen zu erarbeiten. So sammelte beispielsweise Peter Jacob in einer Studie aus dem Jahr 2006 zusammen mit Kollegen aus den betroffenen Regionen die vorhandenen Daten zu Strahlungsdosen, die Kinder und Jugendliche in Weißrussland und der Ukraine in Form von Jodeinlagerungen abbekommen hatten.

Anhand dieser und anderer Daten konstruierten die Forscher ein mathematisches Modell für die Anzahl der Krebsfälle, die ohne die Strahlenbelastung durch Tschernobyl aufgetreten wäre. Das Ergebnis: In der Ukraine sind demnach 30 Prozent der Krebsfälle strahlungsbedingt, in Weißrussland 60 Prozent. Und an den resultierenden Graphen lassen sich auch andere Trends ablesen: "Im Lauf der Jahrzehnte nimmt die Anzahl der durch die Strahlung hervorgerufenen Schilddrüsenkrebsfälle relativ gesehen ab", sagt Jacob. Nicht berücksichtigt werden kann in solchen Studien allerdings der Effekt effektiveren Screenings. Sprich: Nach Tschernobyl legten Ärzte ein besonderes Augenmerk auf die Schilddrüsen ihrer Patienten, und verbesserte Diagnoseverfahren wie Ultraschalluntersuchungen ließen plötzlich auch sehr frühe Stadien der Krebserkrankung erkennen, die zuvor unentdeckt geblieben waren.

Schilddrüsenuntersuchung | Nach dem Nuklearunfall von Tschernobyl fanden Fachleute besonders bei jungen Menschen auffällig viele Veränderungen der Schilddrüse.

Ähnliches konnten Wissenschaftler jetzt auch in Japan nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima beobachten. Dieses Mal allerdings gingen sie die Dosismessungen so gründlich an, dass diese Daten in den nächsten Jahrzehnten Grundlage einer weit genaueren Statistiken sein werden, so die Hoffnung der Fachleute. Auch der beobachtete Anstieg der Schilddrüsenkrebsfälle im Rest von Europa nach Tschernobyl soll hauptsächlich auf besseren Diagnosemöglichkeiten beruhen. Prinzipiell sei es unmöglich, Schilddrüsenkrebsfälle in Gesamteuropa mit Tschernobyl zu verbinden, sagt Christoph Reiners: "Die Dosen an radioaktivem Jod waren hier viel zu gering, um vernünftige Statistiken zu erheben." Damit kritisiert er indirekt auch Berichte wie TORCH ("The other report on Chernobyl"), deren Herausgeber erst kürzlich 2000 Krebstote in Österreich den Radioisotopen von Tschernobyl zuschreiben wollten.

Die geschätzten Dunkelziffern

Doch Wissenschaftler sind sich zutiefst uneinig, was den Effekt von geringen Strahlungsdosen angeht. Außer Spekulationen haben die Vertreter der verschiedenen Lager allerdings wenig vorzuweisen, das weiß auch Elisabeth Cardis, Professorin am Zentrum für Umweltepidemiologie in Barcelona. Dennoch hat sie es schon vor zehn Jahren gewagt, Hochrechnungen für noch aufkommende Krebsfälle zu veröffentlichen – 16 000 Schilddrüsenkrebsfälle und 25 000 andere Krebserkrankungen bis 2065. Die Zahlen kursieren bis heute, obwohl sie sehr umstritten sind.

Klar ist, dass in den Jahren nach dem WHO-Bericht von 2005 noch mehr der damals Null- bis 18-Jährigen aus den betroffenen Gebieten in der Ukraine und Weißrussland an Schilddrüsenkrebs erkrankt sind. Genaue Zahlen liegen aber noch nicht offiziell vor. Und auch in den kommenden Jahrzehnten werden noch Menschen mit den Spätfolgen des Reaktorunfalls zu kämpfen haben, aber für zuverlässige Prognosen reichen die Erkenntnisse schlichtweg nicht aus. Deswegen hoffen Wissenschaftler, darunter Christoph Reiners, auf einen genetischen Marker – damit ließen sich sogar nachträglich alle Krebsfälle der Ursache zuordnen. Auch hier gibt es aber Kritiker, darunter der norwegische Evolutionsbiologe Keith Baverstock, die nicht daran glauben, dass spezifische, strahlungsbedingte Änderungen im Genom zu finden sein werden.

Vielmehr würden Zellen durch äußere Einflüsse – egal welcher Natur – in einen diffusen Ausnahmezustand versetzt, der zu Tumoren oder anderen Erkrankungen führen kann. Doch egal wie man es dreht und wendet: Am Ende stehen hinter dem Versuch, Klarheit in Statistiken zu bringen, dennoch Einzelschicksale. So sagte auch Elisabeth Cardis schon 2006 offen, dass alle durch die Reaktorkatastrophe ausgelösten Krebsfälle letztlich nur einen sehr kleinen Teil von allen Krebsfällen ausmachen werden – dennoch seien die betroffenen Menschen real.

Das weiß auch Christoph Reiners. Eine Mehrzahl seiner 240 Schützlinge habe Glück gehabt, so erzählt er, sie hätten überlebt, zum Teil Familien gegründet und seien im Leben angekommen. "Ein Kind ist während Nachbehandlung gestorben, zwei haben sich später umgebracht, weil sie mit sich und dem Leben nicht klarkamen." Auch das sind leider Konsequenzen von solchen Katastrophen, die sich nicht gut in Statistiken fassen lassen.

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