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Weltraummüll: Mysteriöses Objekt WT1190F – was fällt da vom Himmel?

Was wissen wir über das rätselhafte Objekt, das am 13. November 2015 in die Erdatmosphäre eintritt? Für die Wissenschaft ist dies ein interessanter Fall.
Eintritt des Objekts WT1190F in die Erdatmosphäre über Sri Lanka

Update 13.11.2015: Zum vorhergesagten Zeitpunkt verglühte das Objekt WT1190F in der Erdatmosphäre über Sri Lanka. Das Ereignis wurde von einem internationalen Wissenschaftlerteam an Bord eines Beobachtungsflugzeugs mit verschiedenen Messgeräten dokumentiert (siehe Foto oben und Video am Ende dieses Beitrags). Auf Grund der Wetterlage konnten Beobachter am Boden den Wiedereintritt nicht sehen.

Ein mysteriöses Objekt beschäftigt viele Raumfahrtfachleute und auch die Medien. Keiner weiß, was es ist, aber es hat einen kryptischen Namen: WT1190F. Und es fällt vom Himmel. An einem Freitag, dem 13.

Die Zutaten für wilde Spekulationen wären also reichlich vorhanden. Doch bedarf es keiner Mystifizierung. Denn es handelt sich – vermutlich – um ein Stück Weltraumschrott, um eine Hinterlassenschaft unseres Raumfahrtzeitalters. Über den Absturz des unbekannten Objekts haben wir bereits im Vorfeld berichtet: Abstürzender Weltraumschrott – Feuerkugel mit Ansage. Hier stellen wir nun einige zusätzliche Hintergrundinformationen zur Verfügung.

WT1190F: Was bedeutet diese Bezeichnung?

Das Objekt wurde vom Catalina Sky Survey entdeckt. Das ist eine automatisiert ablaufende Durchmusterung des Himmels, mit der die University of Arizona noch unbekannte erdnahe Asteroiden aufspüren möchte. Jedes Mal, wenn die Software ein noch nicht katalogisiertes Himmelsobjekt erfasst, vergibt sie zur eindeutigen Identifizierung eine Kennung aus sieben Zeichen.

Das erste Zeichen "W" steht für das Entdeckungsjahr 2015. Das ist nur verständlich, wenn man weiß, dass die Kennung von Objekten, die in den Jahren 2000 bis 2009 entdeckt wurden, mit den Ziffern 0 bis 9 beginnt. Das Entdeckungsjahr 2010 erhielt den Kennbuchstaben "R". Dann dem Alphabet folgend erhielt 2011 den Buchstaben "S", 2012 das "T" und schließlich 2015 das "W".

Das zweite Zeichen – in diesem Fall "T" – steht für die Monatshälfte, in der das Objekt entdeckt wurde. Hier folgen die Astronomen dem üblichen Schema, das für die Entdeckung von Kleinplaneten benutzt wird und das jeder der 24 Monatshälften eines Kalenderjahres einen Buchstaben des Alphabets zuordnet: Der Zeitraum vom 1. bis 15. Januar erhält ein "A", derjenige vom 16. bis 31. Januar ein "B", und so weiter. Der Großbuchstabe "I" wird in diesem Schema nicht vergeben, um Verwechslungen mit der Ziffer 1 oder dem "l" (dem kleinen "L") zu vermeiden. Demzufolge endet das Jahr mit dem Buchstaben "Y", der für den Zeitraum vom 16. bis zum 31. Dezember steht. Das "Z" wird also nicht benutzt. In diesem Schema steht das "T", wie sich leicht nachprüfen lässt, für das Intervall vom 1. bis 15. Oktober.

Das dritte Zeichen ist eine Ziffer im Hexadezimalsystem, die verrät, mit welchem Teleskop des Catalina Sky Survey das Objekt entdeckt wurde. Hier steht die "1" für das Schmidt-Teleskop auf dem Mount Bigelow in Arizona. Die weiteren vier Zeichen der Kennung sind ebenfalls hexadezimale Ziffern, mit denen die laufende Nummer der in der jeweiligen Monatshälfte entdeckten Objekte bezeichnet wird. Es stehen die hexadezimalen Zahlen von "0000" bis "FFFF" zur Verfügung. Im Dezimalsystem entspricht dies den Zahlen 0 bis 65535; es können also pro Monatshälfte 65535 Objekte indiziert werden. Die Hexadezimalzahl "190F" entspricht der Zahl 6415 in dem uns vertrauteren Dezimalsystem.

Komplett aufgeschlüsselt bedeutet also "WT1190F": Es ist das 6415. Objekt, das im Zeitraum 1. bis 15. Oktober 2015 mit dem Catalina Sky Survey registriert wurde, und zwar mit dem Schmidt-Teleskop auf dem Mount Bigelow in Arizona.

Alle Kennungen des Catalina Sky Survey sind übrigens nur vorläufige Identifikatoren für die internen Zwecke der Durchmusterung. Sobald das Minor Planet Center, das für die Namensgebung von Asteroiden zuständig ist, dem Objekt eine endgültige Bezeichnung zugeordnet hat, verliert die vorläufige Kennung ihre Bedeutung. Da es sich aber bei WT1190F nicht um einen Kleinplaneten handelt, blieb die Kennung bestehen.

Das Objekt WT1190F im Anflug auf die Erde | Wenige Stunden, bevor das rätselhafte Objekt WT1190F in die Erdatmosphäre eintrat und verglühte, konnte es der niederländische Wissenschaftler und Amateurastronom Marco Langbroek mit einem 61-Zentimeter-Teleskop ablichten (siehe Pfeil).

Ist WT1190F tatsächlich ein "neues" Objekt?

Nein. WT1190F wurde zwar am 3. Oktober 2015 vom Catalina Sky Survey als neues Objekt erfasst. Genaue Auswertungen zeigten aber, dass es identisch ist mit den Objekten UW8551D (erfasst in der zweiten Novemberhälfte 2013), UDA34A3 (erfasst in der zweiten Februarhälfte 2013) und 9U01FF6 (erfasst in der zweiten Oktoberhälfte 2009). Diese Identifizierung erforderte einige Arbeit, denn zum einen waren jeweils nur kurze Bahnstücke des Objekts beobachtet worden, zum anderen passierte das Objekt mehrmals auf seiner stark elliptischen Bahn den Mond, was eine genaue Bahnberechnung über mehrere Umläufe hinweg erheblich erschwert.

Das Problem ist vergleichbar mit der Bewegung einer Flipperkugel: Auch wenn sich der Weg auf Grund von mechanischen Gesetzen im Prinzip genau berechnen lässt, entsteht bei jedem Aufprall auf ein Hindernis eine gewisse Ungenauigkeit. Bereits nach wenigen Stößen haben sich die Unsicherheiten in der Rechnung derart aufgeschaukelt, dass eine verlässliche Bahnbestimmung nicht mehr möglich ist.

Bill Gray vom Project Pluto hat die Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Objekts auf seiner englischsprachigen Website zusammengestellt. Interessant ist, dass neben den Daten von professionellen Astronomen auch Beobachtungen eines Amateurastronomen (Peter Birtwhistle in England) eine wichtige Rolle spielten.

Was ist WT1190F?

Bisher ist lediglich bekannt, dass das Objekt sich mindestens seit September 2009 auf einer lang gestreckten Bahn um die Erde befindet. Im Teleskop erscheint es punktförmig, so dass seine Abmessungen nicht direkt bestimmt werden können. Aus seiner Helligkeit lässt sich seine Größe jedoch zumindest abschätzen: Reflektiert es das auffallende Sonnenlicht zu 100 Prozent, so muss es mindestens einen Meter groß sein. Je kleiner der tatsächliche Reflexionsgrad, umso größer kann das Objekt sein: Für 25 Prozent Reflexion ergibt sich eine Größe von etwa zwei Metern, für 4 Prozent von rund fünf Metern.

Bahn des Objekts WT1190F | Das Objekt WT1190F befand sich auf einer lang gestreckten Umlaufbahn um die Erde, bevor es am 13. November 2015 in die Erdatmosphäre eintrat. Der rote Kreis markiert die Erde, der grüne Kreis die Umlaufbahn des Mondes. Gezeigt sind die drei letzten Orbits des Objekts, die bis über die Mondbahn hinausführten.

Des Weiteren ist bekannt, dass die Masse und die Dichte des Objekts sehr gering sind. Dies spricht eher für einen künstlichen Gegenstand und gegen einen felsigen oder eisigen Himmelskörper. Es könnte sich also um ein Stück Weltraummüll handeln wie zum Beispiel den Teil einer Raketenstufe oder einer Nutzlastabdeckung oder auch um ein ehemaliges Solarzellenpanel. Letzteres erscheint allerdings unwahrscheinlich, denn ein flaches Panel, das auf seiner Bahn taumelt, würde mal mehr, mal weniger Licht zum Beobachter reflektieren. Da WT1190F aber keine besonderen Helligkeitsvariationen zeigt, dürfte es sich wohl um einen hohlen Gegenstand handeln, was eher für eine Raketenstufe oder ein ähnliches Objekt spricht.

Grundsätzlich kann WT1190F ein Relikt einer der unbemannten oder bemannten Mondmissionen sein, die seit 1959 unternommen wurden. Freilich dürfte die Bahn nicht über viele Jahre hinweg stabil sein. Rechnungen von Bill Gray lassen vermuten, dass ein Objekt auf einer solchen Bahn in der Regel nach drei bis zehn Jahren aus dem Erde-Mond-System geschleudert wird oder mit der Erde kollidiert.

Nicht ganz auszuschließen, wenn auch wenig wahrscheinlich, ist ein besonderes Szenario: dass das Teil einer Rakete, das einst genügend Bewegungsenergie hatte, um das Erde-Mond-System zu verlassen, dann in eine Umlaufbahn um die Sonne einschwenkte und irgendwann vor 2009 wieder vom System Erde-Mond eingefangen wurde. Für ein solches Szenario gibt es mindestens ein Beispiel – das Objekt J002E3, das 2003 in Erdnähe geriet und sich als dritte Stufe der für die Apollo-12-Mission verwendeten Saturn-V-Rakete entpuppte.

Warum wurden Absturzort und -zeit so genau vorherberechnet?

Üblicherweise treten ausgediente Satelliten oder Raumschiffe aus einer niedrigen Umlaufbahn in die Erdatmosphäre ein. Die Wiedereintrittsbahn verläuft dann sehr flach. Die Energieverluste durch Reibung nehmen zunächst nur langsam zu. Erst, wenn das Objekt auf eine Höhe von etwa 95 Kilometer abgesunken ist, werden die Kräfte so stark, dass das Objekt sich nicht mehr auf einer stabilen Bahn halten kann und abstürzt. Wegen der hohen Geschwindigkeit – die Erde wird in nur 90 Minuten einmal umkreist – und der nur ungenau bekannten Temperatur- und Dichteverteilung in der Atmosphäre lässt sich nur etwa zwei, drei Orbits vorher der grobe Absturzzeitpunkt vorhersagen. Und in dem fraglichen Zeitraum legt das Objekt mehrere tausend Kilometer zurück.

Im Gegensatz dazu verläuft die Bahn von WT1190F auf einer lang gestreckten Ellipse, die das Objekt weit hinter die Mondbahn führt. Infolgedessen ist der Eintrittswinkel in die Erdatmosphäre sehr steil, wodurch sich Absturzzeit und -ort weit genauer vorhersagen lassen. So stand bereits kurz nach seiner Entdeckung im Oktober fest: WT1190F wird am 13. November 2015 gegen 07:19 Uhr MEZ rund 100 Kilometer südlich von Sri Lanka in der Erdatmosphäre verglühen.

Wegen der geringen Größe des Objekts werden vermutlich keine Trümmerteile die Erdoberfläche erreichen. Gänzlich ausgeschlossen ist dies aber nicht, denn schließlich ist unbekannt, aus welchem Material das rätselhafte Teil ist.

Wissenschaftliche Beobachtungskampagne

Die hohe Präzision der Wiedereintrittsvorhersage machte verschiedene Vorbereitungen möglich. Zum einen erließ Sri Lanka für das vermutete Absturzgebiet ein Flug- und Fischereiverbot. Zum anderen konnten Raumfahrtfachleute Experimente zum Beobachten des Wiedereintritts vorbereiten. Hiermit haben deutsche und US-amerikanische Wissenschaftler bereits einschlägige Erfahrung. So wurden etwa die kontrollierten Wiedereintritte des europäischen Versorgungsraumschiffs ATV und der von einer interplanetaren Mission zurückkehrenden japanischen Kapsel Hayabusa von Messflugzeugen aus beobachtet. Stefan Löhle vom Institut für Raumfahrzeugsysteme der Universität Stuttgart hat darüber in "Sterne und Weltraum" berichtet (Steiler Absturz, August 2015). Mit einem deutsch-amerikanischen Team ist Löhle auch in Sri Lanka vor Ort, wenn WT1190F in die Atmosphäre eintritt. Das Beobachtungsflugzeug wurde von den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Verfügung gestellt.

Über die Ergebnisse des Messflugs werden wir zeitnah berichten.

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