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Teilchenphysik: Und jährlich grüßt das Multiquark

Vor Kurzem ging die Nachricht eines neuen "Teilchens" aus vier Quarks durch die Medien. Der neuste Streich bei der langen Suche nach unbekannten Materiezuständen.
Stilisierte Elektronenwolke

Im Juni war es wieder soweit. Die Kunde eines neuen "Teilchens" schoss durchs Internet, diesmal entdeckt an dem BESCIII-Detektor des Beijing Electron-Positron Collider und dem Belle-Experiment am japanischen Teilchenbeschleuniger KEKB. "Es ist das erste bestätigte Teilchen aus vier Quarks", frohlockte ein Artikel in der Nachrichtensparte von "Nature". Andernorts wurde die Entdeckung in eine Reihe mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens gestellt. Diesmal also ein "exotisches" Teilchen in der Grundlagenphysik!

Doch der Weg zur Exotik kann mühsam sein – und trügerisch. Über Jahre hatten die Forscher in China und Japan Elektronen und Positronen in den Beschleunigern kollidieren lassen. Die Produkte von zigbillionen Billionen solcher Minikarambolagen wurden ausgewertet, schließlich haben die Wissenschaftler einige hunderte verdächtige Signale herausgefischt. Bei diesen Kollisionen schienen Quarks in den Trümmern für 10-23 Sekunden eine neuartige Struktur namens Z_c(3900) zu bilden, schreiben die Forscherteams [1, 2].

Aber was für eine Struktur ist das? Da sie eine elektrische Ladung habe, könne es sich nicht um einen bereits bekannten Zustand handeln, wie etwa das elektrisch neutrale "Charmonium", schreiben die Physiker. Ein neues und mysteriöses Teilchen sei entstanden, deutete das chinesischen Institut für Hochenergiephysik den Fund. Denkbar sei ein Molekül aus zwei Quarkpaaren oder aber ein noch kompakteres Gebilde, in dem vier Quarks kurzzeitig eine Einheit bilden. Manchen Medien gefiel die letztere Interpretation am besten: "Forscher entdecken erstes Tetraquark", schreiben englischsprachige Nachrichtenseiten.

Erfolgreich abgeschlossener Teil der Wissenschaftsgeschichte?

Eigentlich lässt sich mit Quarks kaum noch jemand aus dem Häuschen locken. Jeweils drei der Elementarteilchen stecken in den Bausteinen der Atomkerne, den Protonen und Neutronen. Sie werden von der "Quantenchromodynamik" (QCD) beschrieben, einer Theorie, die zum Standardmodell der Teilchenphysik gehört. Die QCD beschreibt die starke Kernkraft, eine der vier fundamentalen Wechselwirkungen der Natur. Die Quarks scheinen damit wie ein erfolgreich abgeschlossener Teil der Wissenschaftsgeschichte.

In den 1950er und 1960er Jahren sah das noch ganz anders aus. Da tauchten in den Trümmern der ersten Teilchenbeschleuniger hunderte neue Teilchen auf. Der subatomare Partikelzoo verriet sich, weil bei einer bestimmten Energie kollidierende Elektronen und Positronen häufiger miteinander reagierten – ihre Trümmer konnten kurzzeitig einen gebundenen Zustand einnehmen. Solch eine "Resonanz" währt aber nur Sekundenbruchteile. Heute wissen die Physiker: In ihr verschmelzen für kurze Zeit Quarks zu einem Teilchen. Als Bausteine fungieren insgesamt sechs Quark- und Antiquarksorten. Für weitere Ordnung im Teilchenzoo sorgte, dass (Anti-)Quarks nur zu Paaren aus Quark und Quark-Anti zusammenfinden ("Mesonen") sowie zu (Anti)-Quark-Trios ("Baryonen").

Dabei erlauben die Gleichungen der QCD prinzipiell auch Partikel aus vier, fünf oder sechs Quarks, doch zeigte sich von Tetra-, Penta- und Hexaquarks lange keine Spur. Erst im neuen Jahrtausend begann das goldene Zeitalter der Quarkphysik, wie die Autoren eines großen Übersichtsartikels 2011 schrieben [3]. In den letzten zehn Jahren habe man Hinweise auf über ein Dutzend "exotischer" Teilchen aufgespürt, die außerhalb des etablierten Quarkmodells liegen. Zu diesen "XYZ"-Zuständen zählen demnach auch mehrere extrem kurzlebige Teilchen, die als "mesonische Moleküle" oder Tetraquarks interpretiert werden können.

Die Neuentdeckung Z_c(3900) füge sich in diese Reihe ein, sagt Ulf Meißner, Direktor am Institut für Kernphysik des Forschungszentrums Jülich. Auch Sören Lange von der Universität Gießen, Sprecher der etwa 100 deutschen Forscher in der Belle-Kollaboration, sagt: "In den bisherigen Medienberichten ist etwas untergegangen, dass solch ein Zustand nicht zum ersten Mal beobachtet wurde." Allerdings seien die früheren Signale noch nicht so eindeutig gewesen. Neben den zwei bereits veröffentlichten Resultaten hat nun auch das Team des Detektors CLEO-c am Cornell Electron Storage Ring den Fund bestätigt [4]. An der Existenz von Z_c(3900) bestehe damit aus seiner Sicht kein Zweifel mehr, sagt Lange.

Ein Quark-Eigentor

Bei Multiquarks muss man dies dazu sagen: Das Forschungsgebiet erlebte vor zehn Jahren eine der größten Kuriositäten der jüngeren Physikgeschichte. Ein japanisches Team hatte im Jahr 2003 am SPring8-Synchroton im Harima Science Park Hinweise auf ein "Pentaquark" aus vier Quarks und einem Antiquark entdeckt – das Delta+. Weltweit bestätigte ein Dutzend anderer Detektoren den spektakulären Fund. In den Jahren danach kamen jedoch Zweifel an dem Ergebnis auf, nach und nach zogen alle Gruppen bis auf die japanische ihr Ergebnis zurück.

Im Particle Data Booklet, der Bibel der Teilchenphysiker, hieß es 2006 schließlich [5]: "Es erscheint zwingend, dass Pentaquarks im Allgemeinen und Delta+ im Speziellen nicht existieren." Und Lange sagt: "Viele von uns können bis heute nicht erklären, was damals passiert ist." Heute glaubten nur noch wenige Forscher daran, dass man damals tatsächlich ein Pentaquark gefunden habe, schließt sich auch Ulf Meißner an. Die meisten Physiker sind sich sicher, man habe die Daten damals zu optimistisch interpretiert. Dass sich diesmal solch ein Kollektivfehler wiederholt, halten die beteiligten Forscher dagegen für sehr unwahrscheinlich.

In den letzten Jahren mangelte es indes nicht an vermeintlichen Multiquarksichtungen. 2009 versuchten die Japaner, die Welt erneut von der Existenz des Delta+ zu überzeugen [6]. 2010 fanden Forscher Hinweise auf ein Tetraquark in den Belle-Daten [7]. Und 2011 erzeugten Physiker am Teilchenbeschleuniger Cosy einen Zustand, der aus sechs Quarks bestehen könnte [8]. Bisher hat sich bei keinem von ihnen belegen lassen, dass sich die Daten nicht auch ohne Multiquark erklären lassen.

Bei Z_c(3900) sieht es nicht anders aus. Niemand weiß, was sich im Inneren des sehr kurzlebigen Zustands versteckt. In den letzten Wochen haben Theoretiker zig Aufsätze ins Internet gestellt, um die neuen Daten zu deuten. Ulf Meißner etwa argumentiert zusammen mit zwei Kollegen, es handele sich bei Z_c(3900) vermutlich eher um ein Molekül aus zwei Mesonen, die sich in vergleichsweise großem Abstand befinden – und nicht um ein kompaktes Tetraquark-Gebilde [9].

"Wir haben keine Ahnung, weshalb es in der Natur so etwas gibt"
Sören Lange

Für Sören Lange aus dem Belle-Team ist derweil noch nicht ausgemacht, dass man es überhaupt mit einem Teilchen zu tun hat. "Die Masse der Resonanz liegt etwas über der Summe der Massen der zwei beteiligten Mesonen", sagt der Gießener Forscher. Sollte sich das bestätigen, hieße das laut Lange, dass der Zustand über keine Bindungsenergie verfüge. Es sei dann kein gebundener, sondern nur ein "virtueller Zustand". In der QCD sei das etwas anderes als ein Teilchen, sagt Lange.

Spannende Zeiten

Bis man Näheres weiß, wird noch einige Zeit vergehen. "An einem einzigen Zustand kann man nicht erkennen, womit man es zu tun hat", sagt Lange. Man müsse noch viele andere vergleichbare Zustände finden, um diese Frage zu klären. Erst dann könne man eine Gesetzmäßigkeit herstellen und die Beobachtung mit einer schlüssigen Theorie erklären. Klar ist: Wenn Z_c(3900) tatsächlich ein exotischer Zustand ist, müsste es noch viele weitere von ihnen geben. Der Beijing Electron-Positron Collider habe nun seinen Plan geändert, um die Resonanz genauer zu vermessen, sagt Lange. Bei Belle muss man auf ein Upgrade warten, das in einigen Jahren abgeschlossen ist.

So oder so: Der Fund elektrisiert die Forscher. "Es sind spannende Zeiten in der Hadronenphysik!", sagt Klaus Götzen vom Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung GSI in Darmstadt, Mitglied der BESCIII-Kollaboration. Mit den sonderbaren neuen Zuständen hoffen die Forscher eines der letzten Geheimnisse der starken Kernkraft zu lösen. Quarks sind Sonderlinge im Teilchenzoo: Anders als alle anderen Elementarteilchen können sie sich nicht voneinander lösen. Sobald sich zwei Quarks entfernen, zieht sie die Kernkraft wie eine gespannte Feder wieder zusammen. Physiker nennen das "Confinement" – und rätseln seit Jahrzehnten darüber, meist abseits der Öffentlichkeit.

"Wir haben keine Ahnung, weshalb es in der Natur so etwas gibt", sagt Lange. Die Kraft, die nötig ist, um das Confinement aufzubrechen, ist eine Konstante in der QCD. Wie sie aus der Theorie der Quarks erwächst, kann man laut Lange aber bisher mathematisch nicht zeigen – für Physiker ein sehr unbefriedigender Befund. Exotische Quarkzustände wie Tetraquarks oder Mesonmoleküle könnten dabei helfen, das Confinement zu erforschen, sagt Lange. Das erkläre einen Teil des Trubels um die Multiquarks. Der andere Teil sei menschlicher Natur: "Von Neuem geht immer eine Faszination aus", sagt Lange. Nur bei Pentaquarks, da müsse man vorsichtig sein.

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