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Teilchenbeschleuniger: "Unser Weltbild könnte sich entscheidend verändern"

Am 10. September 2008 wird erstmals der gesamte Speicherring des Large Hadron Collider - des energiereichsten Teilchenbeschleunigers der Welt - für Testläufe genutzt. Rolf-Dieter Heuer, der Anfang kommenden Jahres Chef am Forschungszentrum Cern und damit auch des LHCs wird, spricht über Schwarze Löcher, Medizinbälle und das "Teilchen Gottes".
Rolf-Dieter Heuer
Handelsblatt: Herr Professor Heuer, im Oktober nimmt der größte Teilchenbeschleuniger der Welt, der LHC am Forschungszentrum Cern in Genf, seine Arbeit auf. Sie übernehmen im Januar die Leitung des Cern. Wird die Physik dank des LHC am Ende Ihrer Amtszeit eine völlig andere sein als heute?

Rolf-Dieter Heuer: Eine völlig andere sicher nicht. Denn das, was wir jetzt wissen, ist ja nicht falsch. Ich denke aber, dass sich unser Blick dann deutlich erweitert haben wird. Die Physik wird wohl in eine neue Erkenntnisdimension vorgestoßen sein.
Rolf-Dieter Heuer | Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer ist seit 2004 Direktor für Teilchenphysik und Astroteilchenphysik beim Deutschen Elektronen-Synchrotron Desy in Hamburg. Am 1. Januar 2009 übernimmt der Physiker das Amt des Generaldirektors des europäischen Zentrums für Teilchenphysik Cern in Genf.
Man kann es vielleicht mit dem Zustand Anfang des 20. Jahrhunderts vergleichen, als in der Physik alles weit gehend geklärt zu sein schien. Mit diesem Argument riet seinerzeit sogar ein Lehrer dem jungen Max Planck vom Physikstudium ab. Und dann setzte eine regelrechte Physik-Revolution ein: Einstein entwickelte die Relativitätstheorie, Planck selbst begründete die Quantenphysik – um nur zwei Beispiele zu nennen.
Vielleicht stehen wir heute vor einer ähnlichen Revolution: Wir verstehen die Vorgänge im sichtbaren Universum sehr gut – aber sichtbar sind ja gerade einmal etwa fünf Prozent dieses Universums. Den Rest bilden zwei Phänomene, über die wir bislang so gut wie nichts wissen: die Dunkle Materie und die Dunkle Energie. Und gerade hier verspreche ich mir durch den LHC Erkenntnisse, die unser Weltbild entscheidend verändern könnten.

Handelsblatt: 95 Prozent des Universums sind also praktisch unerforscht – da wartet viel Arbeit auf den LHC. Wie kann ein Teilchenbeschleuniger dieses dunkle Universum erforschen?

Heuer: Dunkle Materie verhält sich im Prinzip so wie sichtbare Materie. Sie verrät sich aber nur indirekt, durch den Einfluss ihrer Gravitation auf die sichtbare Materie. Unsere Vermutung ist, dass Dunkle Materie aus Teilchen besteht, die nur eine ganz schwache Wechselwirkung mit anderen Teilchen haben – deshalb haben wir sie noch nicht entdeckt. Der LHC könnte diese Teilchen erzeugen, so dass wir sie nachweisen und damit untersuchen können.
Über die Dunkle Energie wissen wir praktisch gar nichts. Wir können nur beobachten, dass irgendetwas das Universum auseinander treibt – wir nennen es Dunkle Energie.
"Über die Dunkle Energie wissen wir praktisch gar nichts"
Und jetzt wird es ein wenig theoretisch: Das Universum dehnt sich aus, und zwar in alle Richtungen. Das heißt, die Dunkle Energie, die das Universum auseinander treibt, wirkt richtungsunabhängig. In der Physik nennen wir so etwas einen Skalar: Eine physikalische Größe, die richtungsunabhängig ist. Und einen fundamentalen Skalar, der die Dunkle Energie erklärbar machen könnte, haben wir bislang in der Physik noch nicht nachgewiesen.

Handelsblatt: Und der LHC könnte einen solchen Nachweis erbringen?

Heuer: Einen Nachweis für die Dunkle Energie wohl nicht. Aber ein Ziel, das wir mit dem Bau des LHC erreichen wollen, ist der Nachweis des so genannten Higgs-Teilchens – ein Elementarteilchen, das bislang nur theoretisch vorhergesagt wurde, dessen Existenz aber bestimmte offene Fragen im Standardmodell der Teilchenphysik beantworten würde. Dieses Higgs-Teilchen, wenn es denn existiert, wäre auch ein Skalar. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich sage nicht, dass das Higgs-Teilchen etwas mit der Dunklen Energie zu tun hat. Aber das Higgs-Teilchen wäre der erste fundamentale Skalar, den wir untersuchen könnten. Und vielleicht gäbe uns das auch erste Hinweise auf die Dunkle Energie.
Dunkle Materie in zartem Violett | Der hier abgebildete Superhaufen Abell 901/902 setzt sich aus Hunderten von Galaxien zusammen. Sie sind umgeben von Dunkler Materie (violett gefärbt) – jenem unsichtbaren Stoff, der den Großteil der Materie im Universum ausmacht. Mit Hilfe des Weltraumteleskops Hubble gelang es Astronomen jedoch, indirekt auf die Verteilung der Dunklen Materie zu schließen.
Aber das ist sehr spekulativ. Ich beschränke mich lieber auf die Dunkle Materie. Und die macht immerhin rund 25 Prozent des Universums aus. Wenn Sie bedenken, dass wir rund 40 Jahre gebraucht haben, um die 5 Prozent des sichtbaren Universums einigermaßen zu verstehen, wäre ich sehr glücklich, wenn uns der LHC in den nächsten Jahren die Daten liefern würde, um diese 25 Prozent zu verstehen.

Handelsblatt: Kommen wir noch einmal auf das Higgs-Teilchen zu sprechen, das manchmal wegen seiner fundamentalen Bedeutung auch als Teilchen Gottes bezeichnet wird. Es wäre der Baustein, der das jetzige Standardmodell der Physik passend machen würde?

Heuer: Nicht passend, sondern gültig. Wenn es das Higgs-Teilchen nicht gibt, dann bricht das Standardmodell der Physik in seiner jetzigen Form zusammen. Das faszinierende am Standardmodell ist ja, dass es den meisten Präzisionsmessungen standhält. Es ist fantastisch, es erklärt unheimlich viel – aber, und das ist das frustrierende, es lässt auch viele Fragen offen. Wenn der LHC das Higgs-Teilchen nicht entdecken würde, müsste man das Standardmodell überarbeiten. Dann müssten sich die theoretischen Physiker neu am Kopf kratzen und überlegen, wie sie es sonst machen können.

Spuren des Higgs-Bosons | Laut Computersimulationen könnte sich ein Higgs-Teilchen mit diesen Spuren im Detektor bemerkbar machen.
Handelsblatt: Und warum glauben Sie, dass gerade der LHC das Gottesteilchen entdecken wird?

Heuer: Er deckt den richtigen Energie- und damit den richtigen Massebereich ab. Wir haben jetzt seit Jahrzehnten mit unterschiedlichen Beschleunigern gemessen und wissen daher: Wenn es das Higgs-Teilchen gibt, muss seine Masse in einem bestimmten Bereich liegen. Diesen erlaubten Massebereich deckt der LHC vollständig ab.

Handelsblatt: Wenn also der LHC das Higgs-Teilchen nicht findet, dann findet es auch kein noch größerer Teilchenbeschleuniger? Denn das ist ein Vorwurf, der mitunter gegen Projekte wie den LHC erhoben wird: Dass Teilchenphysiker zwar immer größere Beschleuniger bauen, die offenen Fragen, die sie mit diesen Anlagen klären wollen, aber größtenteils nach wie vor offen sind.

Heuer: Dem würde ich entgegnen, dass wir nicht immer größere Beschleuniger bauen, sondern immer bessere. Stellen Sie sich vor, Sie stehen vor einem Lattenzaun, wissen aber nicht, was das für ein Objekt vor Ihnen ist.
Wir bauen nicht immer größere Beschleuniger, sondern immer bessere"
Wenn Sie einen Medizinball auf den Zaun werfen, kommt er immer wieder zu Ihnen zurück. Sie denken, Sie stehen vor einer Mauer, dabei war lediglich der Medizinball zu groß, um zwischen den Latten hindurchzugehen. Wenn Sie mit Tischtennisbällen auf den Zaun werfen, können Sie, wenn Sie häufig genug werfen und das Ergebnis aufzeichnen, die Konturen des Lattenzauns herausbekommen. Und wenn Sie mit Stecknadelköpfen werfen, finden Sie sogar die Astlöcher in den Zaunlatten. Das zeigt: Sie müssen kleiner sein mit Ihrer Untersuchungssonde – und Sie müssen oft genug werfen. Um im Bild zu bleiben: Mit dem LHC haben wir jetzt die Möglichkeit, mit Stecknadelköpfen zu werfen.

Handelsblatt: Das ist aber auch mit einem höheren finanziellen Aufwand verbunden: sechs Milliarden Euro.

Heuer: Das stimmt, wenn man alle Kosten, etwa auch für Personal, zusammennimmt. Aber dabei muss natürlich zum einen der Faktor Globalität berücksichtigt werden: Es sind ja drei Weltregionen beteiligt – Europa, Asien und Amerika. Und das Projekt hat eine lange Laufzeit: 14 Jahre hat allein der Bau der Anlage gedauert, von der Betriebszeit ganz zu schweigen – rechnet man das auf ein Jahr um, ist das gar nicht mehr so viel.

Handelsblatt: Stichwort lange Bauzeit: Der Start des LHC musste mehrfach verschoben werden. Bleibt es beim jetzt angesetzten Termin im Oktober, oder gibt es noch Probleme?

Heuer: Alle Tests verlaufen bislang sehr positiv. Natürlich, bei so vielen Anschlüssen, Verbindungen, Magneten und so weiter gibt es immer einmal kleinere Probleme, etwa weil eine Polarität vertauscht wurde oder ein Messinstrument ausfällt. Aber das sind kleinere Ausfälle, die im Alltagsbetrieb vorkommen, das wird dann repariert. Größere Probleme haben sich bei den Tests bislang aber nicht abgezeichnet.
Im Untergrund | Ein Ingenieur überprüft unter einem Dipolmagnet, ob die Geräte zum Herabkühlen des Speicherrings funktionstüchtig sind.
Am 10. September beginnen dann offiziell die Injektionstests, das heißt, man bringt die Teilchen erstmals wirklich auf eine Kreisbahn. Es ist ja nicht so, dass man einen Beschleuniger einfach einschaltet, und dann funktioniert er. Man fängt schrittweise an, injiziert einen Teilchenstrahl in, sagen wir, ein Achtel des Kreises und schaut, ob alle Sensoren und Magnete arbeiten – und geht dann schrittweise weiter. Das ist der Beginn der Anlaufphase. Am 21. Oktober wird dann die offizielle Einweihung stattfinden.

Handelsblatt: Sie werden am Cern mit 3000 Mitarbeiten und bis zu 9000 wissenschaftlichen Nutzern zusammenarbeiten. Wovor haben Sie mehr Respekt: Vor den technologischen Herausforderungen des Projekts oder vor den soziologischen?

Heuer: Eigentlich vor beiden. So viele Wissenschaftler an einem Projekt, das ist natürlich auch ein soziologisches Experiment. Aber es ist schon beeindruckend, wie gut die Zusammenarbeit funktioniert. Denn natürlich hat der Leiter des Cern keine Weisungsbefugnis über den Wissenschaftler A in der Stadt B. Die Zusammenarbeit funktioniert ausschließlich über die Motivation, am gleichen Strang ziehen zu wollen. Und sie funktioniert.

Handelsblatt: Ist die Arbeit am LHC reine Grundlagenforschung? Oder lassen sich mit dem Beschleuniger auch Erkenntnisse gewinnen, die für eine Anwendung im Alltag verwertbar sind?

Heuer: Das ist reine Grundlagenforschung. Aber natürlich gibt es nützliche Nebeneffekte. Für mich immer am wichtigsten sind die jungen Leute, die wissenschaftlich und technologisch auf dem neusten Stand ausgebildet werden. Und natürlich macht ein Projekt wie der LHC technologische Innovationen erforderlich, die dann auch in anderen Bereichen Verwendung finden können. Denken Sie nur daran, dass das World Wide Web ursprünglich am Cern erfunden wurde. Unser Forschungsziel ist also Grundlagenforschung – aber wenn beim Bau einer Anlage wie dem LHC etwa eine neue Schweißmethode entwickelt werden muss, findet das natürlich Eingang in den Alltag.

Handelsblatt: Könnte sich so eine Innovation vielleicht im Bereich der Datenspeicherung und -verarbeitung ergeben? Immerhin fallen bei der Arbeit mit dem LHC riesige Datenmengen an, die ausgewertet und gespeichert werden müssen.

Heuer: Richtig. Das Stichwort heißt hier Grid-Computing, also verteilte Datenverarbeitung. Ich habe also nicht ein zentrales Rechenzentrum zur Verfügung, sondern ein weltweites Netz von Rechenzentren, und die Physiker vor Ort nutzen für ihre Arbeit das Zentrum, das gerade freie Kapazitäten zur Verfügung hat. Dieses System haben wir für die Arbeit mit dem LHC entwickelt, und ich könnte mir vorstellen, dass es vom Cern aus den gleichen Weg gehen wird wie das World Wide Web.

Handelsblatt: Wann rechnen Sie mit ersten Ergebnissen aus der Arbeit mit dem LHC?

Heuer: Wenn Sie mit ersten Ergebnissen nicht völlig neue Physik meinen, sondern Dinge, die man auch bislang schon untersucht hat, dann rechne ich eigentlich schon für den nächsten Sommer mit Ergebnissen. Wann es erste Ergebnisse gibt, die über die bisherige Physik hinausgehen, also in Richtung Dunkle Materie oder Higgs-Teilchen – das ist sehr schwer abzuschätzen. Zwei Jahre wird es wohl schon dauern, bis wir da erste Ergebnisse haben.

Handelsblatt: Dafür hätte eine solche Entdeckung aber auch Nobelpreisqualität?

Heuer: Für Herrn Higgs in jedem Fall.

Schwarzes Loch im Detektor | Diese Spuren sollten im Atlas-Detektor zu finden sein, wenn ein Schwarzes Miniaturloch in den Proton-Proton-Kollisionen entstehen würde. Nach heutiger Erkenntnis sollte es aber unverzüglich in viele verschiedene Teilchen zerfallen und wäre damit absolut harmlos.
Handelsblatt: Zum Abschluss ein wenig Apokalypse: Es gibt Stimmen, die vor Experimenten mit dem LHC warnen, weil dabei ein Schwarzes Loch entstehen könnte, das die Erde oder gleich unser ganzes Sonnensystem auslöschen würde. Wie berechtigt sind solche Ängste?

Heuer: Es gibt darauf zwei Antworten. Zum einen: Wenn überhaupt – und auch das ist extrem unwahrscheinlich – könnte der LHC nur ein Schwarzes Loch mit extrem geringer Masse produzieren. Und ein solch winziges Schwarzes Loch würde praktisch sofort wieder zerfallen. Das Problem wurde von einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern unter die Lupe genommen, und ihre Ergebnisse – die übrigens auch veröffentlicht wurden – sprechen eindeutig gegen jede Gefahr.
Die zweite Antwort ist die, auf die ich mich als Experimentalphysiker verlasse.
"Die Existenz der Erde ist der überzeugendste Beweis für die Ungefährlichkeit des LHC"
Seit über zehn Milliarden Jahren wiederholen sich Prozesse, wie wir sie mit dem LHC erzeugen wollen, im Universum milliardenfach. Das Universum, wenn Sie so wollen, setzt in jeder Sekunde tausende Teilchenexperimente um, für die wir die gesamte Lebensdauer des LHC benötigen würden. Und trotzdem existieren unsere Sonne, unser Mond und die Planeten unseres Sonnensystems immer noch und sind in keinem Schwarzen Loch verschwunden. Die Existenz der Erde selbst ist für mich der überzeugendste Beweis für die Ungefährlichkeit der LHC-Experimente.

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