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Erbgutforschung: Unsere Familie

Alle Menschen sind so unterschiedlich, dass die Menschheit insgesamt sehr homogen ist. Gibt es dennoch typische Gene, die Europäer, Asiaten und Afrikaner voneinander trennen?
Liebevolles Miteinander

Wer über Europa redet, bewegt sich im Ungefähren. Ein Grund sind schon die chronisch mobilen Grenzen des Kontinents: Kriege und Kartografen schieben sie seit jeher recht willkürlich hin und her, wobei eine vermeintlich natürliche geografische Barriere stets Verhandlungssache war. So etwa Zypern: Der Ausgang des Kriegs zwischen Osmanen und Philohellenen im 19. Jahrhundert legte den Grundstein für die spätere EU-Mitgliedschaft des südlichen Inselteils – nicht etwa die Meerenge des Bosporus, der Europa weiter westlich enden ließe. Und die allerwestlichste Insel: Ist es Irland oder doch Island? Die Ostgrenze – der Ural? Den Status gewann und verlor der Gebirgszug mehrfach: Mal reichte Europa ins tiefste Sibirien, mal bis dahin, wo Polen gerade entstand (oder verschwand) – je nach Grad der Europatauglichkeit, den der Zeitgeist dem russischen Volk zubilligen mochte.

Wir bewohnen also einen sehr wandelbaren asiatischen Subkontinent. Und wer ist das dann eigentlich, "wir"? Was, wenn nicht eine exakt umrissene Heimat, macht "uns" zu Europäern – und womöglich typisch? Ist es vielleicht unser Stammbaum, also unsere Gene?

Biologen sind seit Langem auf der Suche nach "europäischen Genen". Und ebenso lange lockt die Frage auch biologistische Ideologen an, die sich aus den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen selektiv passende Versatzstücke herauspicken: Sie suchen dabei nach einer "europäischen Rasse", die durch diese besonderen Gene gekennzeichnet ist. Nur: Gibt es diese Gene überhaupt?

Einig sind sich Wissenschaftler immerhin in der Frage der "Rasse" – sie wird als klassifizierende Ordnungskategorie nicht mehr verwendet. Der Grund für die Ablehnung des Begriffs ist nicht etwa politisch korrekter Sprachgebrauch: Tatsächlich ist die gesamte genetische Variabilität menschlicher Ethnien stets zu groß, um eine "Rasse" sinnvoll gegenüber einer anderen abgrenzen zu können (siehe Textbox). Das bedeutet allerdings nicht, dass zwischen einzelnen Menschengruppen nicht auch Unterschiede bestehen würden – und teilweise sogar deutlich wahrnehmbare. Es lassen sich durchaus Gründe dafür finden, das wissenschaftlich sinnfreie Etikett "Rasse" – abgewandelt zur Ethnie oder Ähnlichem – in bestimmtem Kontext als nützliche Schublade für Menschen mit gemeinsamen, willkürlich gewählten Merkmalen zu benutzen. Zum Zweck schneller äußerlicher Identifizierbarkeit wird etwa auch heute noch ein typischer Nordeuropäer weißer Hautfarbe von der US-Einwanderungsbehörde als "kaukasoider Typus" definiert.

Kaukasische Äußerlichkeiten

Die typischen Äußerlichkeiten des Phänotyps "Kaukasier" – also des Europäer-Prototyps, der heute auch in Amerika, Australien, Nordasien und Europa große Teile der Bevölkerung stellt – werden natürlich durch bestimmte Genvarianten hervorgerufen: Varianten, die darüber entscheiden, dass er häufiger blond oder rothaarig, blauäugig und weißhäutig ist als Menschen in Asien und Afrika.

Menschen und Rassen

Wissenschaftler vermeiden seit geraumer Zeit das Etikett "Rasse", um Unterkategorien innerhalb einer Spezies zu kennzeichnen – also Untergruppen aus Individuen zu bilden, die sich in subjektiv festgesetzten genetischen oder äußerlichen Merkmalen von anderen unterscheiden. Eben weil diese Kategorisierung nach willkürlich festgelegten Konventionen erfolgt, ist sie – außer eben im Bezug auf die zur Kategorisierung herangezogenen Merkmale – nicht aussagekräftig.

Verwendung findet der Begriff noch in der Tierzucht, auch hier treten jedoch die Probleme des Konzepts zu Tage. So etwa bei Pferderassen: Sie sind gelegentlich so subtil anhand weniger Merkmale definiert, dass am Ende manchmal die Nachkommen eines Tier per Definition zu einer anderen Rasse gezählt werden müssten als ihre Eltern. Einigkeit herrscht unter Wissenschaftlern über die Unsinnigkeit, konkrete menschliche "Rassen" zu definieren: Jeder heute lebende Homo sapiens ist mit jedem anderen Menschen zu eng verwandt.

Natürlich können trotzdem "Rassen" – oder Ethnien beziehungsweise Populationsgruppen – anhand einiger gemeinsamer, zum Beispiel äußerer Merkmale willkürlich gruppiert werden: Haar- und Hautfarbe oder die Nasenform unterscheiden den durchschnittlichen Nigerianer vom Finnen ja immerhin auffallend. Ein Blick auf die gesamte DNA-Sequenz – statt nur auf die wenigen Genvarianten, die die willkürlich ausgewählten Merkmale beeinflussen – beweist aber, dass zwei Individuen aus zwei unterschiedlichen solchen Populationsgruppen genetisch viel ähnlicher sein können als zwei Menschen der gemeinsamen Ethnie.

Eine sinnvollere Schublade als die auf Grund von Äußerlichkeiten und geografischer Verbreitung konventionell gebildete "Rasse" stellen direkte Verwandtschaftslinien dar. Sie sind auch von hohem Interesse für forschende Mediziner, die "ethnische Medikamente" entwickeln möchten: Wirkstoffe gegen Erkrankungen, die in bestimmten miteinander verwandten Großgruppen häufiger auftreten. Beispiele sind etwa die Tay-Sachs-Krankheit, die in der Ahnenreihe der jüdischen Aschkenasim häufig ist – oder die Sichelzellenanämie, die Menschen westafrikanischer Herkunft häufiger trifft. In den meisten Fällen gibt die Sortierung in althergebrachte Rassen, etwa nach Hautfarbe, keine echten Anhaltspunkte für ein Erkrankungsrisiko – wohl aber ein genauer Blick auf die Ahnenreihe der Betroffenen. Auch für diese Verwandtschaftsgruppen gilt, was auf alle Ethnien zutrifft: Die Variabilität sämtlicher Gene ist innerhalb der Gruppe so hoch, dass einzelne Mitglieder sich stärker unterscheiden können als von einem entfernt wohnenden "Fremden".

So entscheiden zum Beispiel ein paar wenige "europäische Genvarianten" – oder besser, europäische Mutationen in allerlei unterschiedlichen Regionen des Erbguts – über die Farbe der Haut: Die Kaukasier – anders als phänotypische Asiaten – werden unter anderem durch punktuelle Veränderungen in drei Genen hellhäutiger, die alle bei der Produktion des dunklen Hautpigments Melanin eine Rolle spielen [1].

Diese Mutationen haben sich genanalytischen Schätzungen zufolge erst vor erstaunlich kurzer Zeit – etwa 7000 Jahren – nach und nach durchgesetzt, nachdem die dunkelhäutigen Neu-Europäer aus dem Süden in den Norden gewandert waren. Denn im Norden, so spekulieren die Evolutionsbiologen, war der biologische Vorteil dunkler Haut als UV-Schutz vor starker Sonneneinstrahlung womöglich weniger relevant. Weil mehr UV-Strahlen die Hautzellen erreichen, produzieren nur Hellhäutige auch im mäßig sonnigen Nordeuropa noch ausreichende Mengen an Vitamin D – das mag besonders in der Epoche vor 12 000 bis 5000 Jahren ein Vorteil gewesen sein, als die europäischen Menschen im Zuge der neolithischen Umwälzung nach und nach von Wildbeutern zu Bauern wurden und dabei zunächst mit längeren Phasen vitaminarmer Mangelernährung fertigwerden mussten.

Ein anderes, oft charakteristisch an zwei Stellen minimal mutiertes "Haut- und Haarfarbengen" – MC1R, welches für einen Hormonrezeptor kodiert – kennen Genetiker als typisch für Rothaarige, Sommersprossige und Sonnenbrandanfällige. Dabei kommt die etwa bei vielen Iren mutierte Variante aber eben nicht nur bei Europäern vor: Sie entstand bereits, bevor der moderne Mensch Europa besiedelte – und brachte seinem Träger auch Nachteile, zum Beispiel eine erhöhte Anfälligkeit gegenüber bestimmten Krebsformen. Ganz Ähnliches gilt übrigens auch für den genetischen Merkmalssatz, der einem Menschen zu mehr oder minder krausem oder gelocktem Haar verhilft – ihn also, wissenschaftlich korrekt, als einen von derzeit acht abgrenzbaren Haartypen kategorisiert [2].

Unter dem Einfluss der unterschiedlichen Gene verändert sich vor allem der geometrische Querschnitt der einzelnen Haare – Haare mit rundem Querschnitt (wie sie bei Asiaten häufig sind) locken sich viel seltener als die Haare elliptischen Querschnitts, die bei Afrikanern und einigen Europäern verbreitet vorkommen. Besonders auffällig wirkt sich dabei zum Beispiel eine bei glatthaarigen Nordeuropäern häufige Veränderung im TCHH-Gen aus [3]. Es kodiert ein Protein der Haarfollikel und verändert offenbar eine anatomische Struktur, aus der die Haare herauswachsen. Dies sorgt womöglich dafür, dass neue Keratinschichten symmetrischer aufgetragen werden – und das Haar so runder und damit weniger lockig wächst. Runde asiatische Haare verdanken ihre Form übrigens einer anderen Mutation [4]. Wie oft spielen aber auch hier mehrere Gene unterschiedlich gewichtige Rollen für die Ausprägung eines Phänotyps [5].

Am ehesten bekannt als "typisch europäisch" ist vielleicht jene Genvariante, die sich auf die Verträglichkeit von Milchprodukten auswirken: Die "Laktosepermanenz" findet sich vor allem bei Nordeuropäern häufiger als etwa bei Asiaten und Afrikanern und erlaubt ihnen, nicht nur als Säugling, sondern auch als Erwachsener Laktose, also Milchzucker, verdauen zu können. Als Ursache sind verschiedene Mutationen ausgemacht, die das für die Milchzuckerzerlegung zuständige Laktase-Enzym verändern [6]. Auch diese Genveränderungen haben sich in Europa womöglich erst in den letzten Jahrtausenden allmählich durchgesetzt: Darauf deuten zumindest Analysen von DNA-Proben hin, die Genforscher an der 5000 Jahre alten Gletschermumie Ötzi sowie an Skeletten aus der Mittel- und Jungsteinzeit durchgeführt haben. Das Erbgut dieser Menschen – die in Europa gelebt hatten, als die Milchviehhaltung sich dort zumindest noch nicht flächendeckend etabliert hatte – zeigte noch keine Spuren der typisch europäischen Genveränderung [7].

Viele Unterschiede überall

Haut- und Haarfarbe, Nahrungsmittelverträglichkeit, womöglich die Nasenform: Stets modellieren am Phänotyp nur sehr wenige Gene, die meist nur an einer Stelle minimal gegenüber einer Alternativvariante verändert sind. Diese paar Veränderungen einzelner Basen – man redet von SNPs (single-nucleotide polymorphisms) – haben dann zum Beispiel rothaarige, sommersprossige Westeuropäer gemeinsam. Eine Abgrenzung von Iren und Nichtiren oder Europäern und Nichteuropäern anhand einer Hand voll Punktmutationen ist – auch wenn die Veränderungen wirklich nur in Europa vorkommen sollten – daher ebenso sinnlos wie die überholte Kategorie Rasse.

Denn das Erbgut von Iren, Resteuropäern und Afrikanern wird gleichzeitig an überwältigend vielen anderen Stellen ebenfalls verändert sein: Zu SNPs führende Mutationen ereigneten sich in der Menschheitsgeschichte laufend und überall im Erbgut. Die zufälligen Punktmutationen betreffen dabei Gene, aber auch alle nicht kodierenden Abschnitte der DNA, sie verändern anschließend Proteinstrukturen und genetische oder epigenetische Regulationsmechanismen und damit die Fitness des Organismus – oder eben häufig auch nicht. Nur ein Vergleich möglichst vieler dieser SNPs – statt nur einzelner, willkürlich ausgewählter – könnte also einen wirklich guten Aufschluss über die Verwandtschaft der Menschheitsfamilie liefern. Und vielleicht letztendlich doch noch einen genetischen Durchschnittseuropäer charakterisieren?

Mutantenquerschnitt

Genomweite, vergleichende SNP-Analysen von Populationen sind enorm aufwändig und ihre Resultate notorisch schwer zu analysieren. Mittlerweile aber reichen sowohl Computerpower als auch Umfang der Sequenzdatenbanken aus, um solche Untersuchungen Erfolg versprechend durchführen zu können. Weil auch immer mehr typische SNPs vieler einzelner verschiedener Menschen bekannt sind, erlauben diese Studien auch schon recht eindrucksvolle Schlüsse.

In der Praxis verglich man dabei zunächst die Sequenzen der über die mütterliche Linie weitervererbten Mitochondrien-DNA – beziehungsweise die darin erkennbaren Unterschiede. Das Pendant dazu war der Vergleich der Y-Chromosom-Sequenz, die nur Väter an Söhne weitergeben. Weit aufwändiger – aber bei ausreichender wissenschaftlicher Sorgfalt auch aussagekräftiger – ist noch heute der Vergleich möglichst vieler SNPs auf den Autosomen, also allen anderen Chromosomen im Zellkern außer den Geschlechtschromosomen. Aber trotz aller methodischen Herausforderungen beginnt sich bei der genetischen Spurensuche langsam ein Bild der genetischen Identität der Europäer herauszubilden. Erkennbar wird auch hier nicht gerade der prototypische Europäer – sondern eher ein nebelhafter Umriss der heutigen europäischen Population und ihrer wandelbaren genetischen Grenzen.

Techtelmechtel mit dem ersten Europäer

Noch vage ist der genetische Stammbaum dabei schon ganz am Anfang: beim Allerersten, dem Urahnen aller Europäer, der auch schon ein Mischling mit Vergangenheit war. Einig sind sich Paläogenetiker mit Evolutionsforschern, dass der moderne Homo sapiens vor frühestens 60 000 Jahren aus Afrika ausgewandert ist und schließlich auch, wahrscheinlich über den Nahen Osten, in Europa ankam – vielleicht inmitten einer vorübergehenden Tauwetterphase während der letzten Kaltzeit, dem Heinrich-Ereignis-4 vor 40 000 Jahren. Der erste Mensch des Kontinents war er damals allerdings nicht. Schon auf dem Weg waren die Ahnen der Ureuropäer auf noch ältere Pioniere gestoßen: die Nachfahren aus der H.-erectus-Linie, die vor 1,8 Millionen Jahren Afrika verlassen, sich in Europa als H. heidelbergensis niedergelassen und sich wahrscheinlich irgendwo in Westasien vor rund 300 000 Jahren zum Neandertaler entwickelt hatten.

Im Nahen Osten, im Kaukasus und in Europa trafen sich der neu einwandernde H. sapiens und der alteingesessene H. neanderthalensis vor 35 bis 40 Jahrtausenden häufiger – und fanden sich gelegentlich sehr sympathisch, wie Sequenzvergleiche von alter Neandertaler-DNA und modernen Genen enthüllt haben: Noch heute finden sich im Erbgut des Europäers Spuren von Neandertalergenen. Auf ähnliche Weise veränderte sich aber auch das Erbgut der Nichteuropäer: So mischte sich das Erbgut des 2008 als Fossil im Altai-Gebirge entdeckten Denisova-Menschen womöglich ins Erbgut von Migranten, die zu den Ahnen verschiedener Pazifikbewohner wurden [8].

Diese unterschiedliche Genbeimischung durch ältere Menschenformen macht noch heute Europäer anders als andere Weltbürger – zumindest ein wenig. Denn mit ein bis vier Prozent vom Neandertal-Generbe tragen wir heute nur noch wenig Spuren der prähistorischen Techtelmechtel. Einige Populationen in Europa – vielleicht solche, die ein größeres altsteinzeitliches Generbe bis heute weitergegeben haben – scheinen allerdings mehr Neandertalergene zu tragen als andere. So ergaben Genvergleiche mit der alten DNA des vor 5300 Jahren gestorbenen Tiroler Gletschermanns, dass Ötzi mehr Neandertalergene als der heutige Durchschnittseuropäer trug [9]. Ötzi ähnelt zudem den heute auf Sardinien heimischen Menschen: einem genetisch offenbar ureuropäischen Völkchen.

Neandertaler und der Mensch | Wie ähnlich war Homo neanderthalensis dem modernen Menschen? Manche Funde, wie beispielsweise Schmuckstücke, lassen symbolisches Denken vermuten. Offenbar waren sich Neandertaler und Homo sapiens so weit ähnlich, dass sie miteinander umgehen und wahrscheinlich sogar kommunizieren konnten.

Vor grob 25 000 Jahren waren die letzten Neandertaler Europas jedenfalls ausgestorben – übrig blieben Mischlinge mit ein wenig Neandertaler- und meistenteils typischen Sapiens-Genen, die sich nun in verschiedenen eiszeitlichen Rückzugsorten ums Lagerfeuer scharten und überlebten, bis das Eis der letzten Kaltzeit endlich geschmolzen war.

Das Erbe der Altsteinzeit

Die der Eiszeit trotzenden paläolithischen Jäger und Sammler Ureuropas unterschieden sich damals genetisch – also in ihrem Muster der SNP- Mutationsmarker – sicherlich nicht allein wegen ihrer Neandertaler-Kontakte bereits ein wenig von den anderen Menschen weltweit: Das Erbgut der gemeinsam nach Europa einwandernden Population hatte sich häufiger miteinander als mit weiter entfernt lebenden oder in andere Weltgegenden driftenden Gruppen gemischt – und begann so eine subtile, aber in den SNP-Vergleichen erkennbare gemeinsame genetische Identität zu entwickeln.

Anhand der charakteristischen SNP-Muster können Populationen in Verwandtschaftsgruppen, so genannten Haplogruppen, zusammengefasst werden: im Prinzip genetische Schubladen, die feinere Verästelungen der menschlichen Ahnenreihe bilden. Genetiker können mittlerweile relativ gut abschätzen, wann in der Menschheitsgeschichte sich die Mutationen ereignet haben, die als SNPs Haplogruppen charakterisieren.

Haplogruppen – Sortierung nach SNP-Unterschieden

Ein Set charakteristischer Einzelbasenveränderungen der DNA (so genannte SNPs, single-nucleotide polymorphisms) umreißen einen Haplotypen. Menschen mit diesen Markern – denselben Haplotypen – können in Haplogruppen gesammelt werden, die quasi gemeinsame Verzweigungen im Stammbaum der Menschheit darstellen.

So definieren zwei bestimmte, vor etwa 25 000 bis 30 000 Jahren erstmals aufgetretene und seitdem über die mütterliche Linie weitervererbte Mutationen im Mitochondrien-Erbgut die heute bei Europäern häufigste mt-Haplogruppe H. Auch häufig ist in Europa noch – mit gut zehn Prozent – die wohl viel ältere mt-Haplogruppe U.

Eine andere ausschließlich europäische, durch Mutationen im Y-Chromosoms charakterisierte Haplogruppe nennt sich I – sie ist noch heute bei einem Fünftel aller Europäer zu finden, war in der Altsteinzeit aber vermutlich weiter verbreitet, spekulieren Genforscher, ohne dafür bisher Beweise in Form von Analysen paläolithischer DNA vorlegen zu können. Die heute in Europa häufigste Y-chromosomale Haplogruppe R teilt sich anhand weiterer SNP-Marker in zwei unterschiedlich alte Untergruppen, R1a und R1b, anhand derer die Besiedlungsgeschichte Europas nach der Altsteinzeit anschaulich demonstriert werden kann.

Einige Haplogruppen waren demnach bereits in der Altsteinzeit verbreitet – und manche von diesen offenbar typisch für die damalige Bevölkerung Europas. Einen dieser Marker nennen die Genetiker "M173": Es handelt sich um eine Mutation auf dem Y-Chromosom, die den Haplotyp R1 charakterisiert. R1 und seine zwei Untergruppen, R1b und R1a, sind heute die bei europäischen Männern häufigsten.

Ideen und Gene aus allen Himmelsrichtungen

Beide Haplogruppen, R1b und R1a, haben nach der Vorstellung der Archäogenetiker ihre dominante Stellung in Europa auf sehr unterschiedlichen Wegen zu unterschiedlichen Zeiten erkämpft. Den ersten nachhaltigen Eindruck hatte dabei wohl R1b gemacht, als am Ende der Kaltzeit Menschen nach und nach den ganzen Kontinent besiedelten. Einige Pioniere scheinen dabei einen Startvorteil gehabt zu haben: Sie breiteten sich aus den wärmeren Rückzugsräumen im Süden und Südwesten des Kontinents aus. Und einiges spricht dafür, dass ebendiese altsteinzeitlichen Menschen den heute noch typisch westeuropäischen R1b-Haplomarker trugen, den ihre Vorfahren vor langer Zeit aus Asien mitgebracht hatten. Immer noch findet sich der Marker in lange isolierten europäischen Ethnien wie den Basken – die als relativ heterogene Gruppe nicht nur ihre sehr eigene, nicht indoeuropäische Sprache, sondern eben auch eine relativ alte Genstruktur bis heute erhalten haben. Gängigen Hypothesen zufolge wurden die Menschen mit dem alten R1b dann wieder von anderen Gruppen verdrängt, um schließlich aber – vielleicht mit den Vertretern der vordringenden Glockenbecherkultur am Ende der Jungsteinzeit – ein europäisches Comeback aus der Iberischen Halbinsel heraus starten zu können [10].

Ebenfalls in der Übergangszeit zwischen ausgehendem Neolithikum und beginnender Bronzezeit machten sich nun erst die R1a-Träger von Osten her nach Europa auf. Die kennzeichnenden Mutationen der Haplogruppe hatten sich später als die von R1b ereignet, womöglich irgendwo im europanahen Asien – nun brachten sie, so eine Theorie, vielleicht Menschen der Schnurkeramiker-Kultur nach Europa. Genetische wie archäologische Belege sind notorisch schwer aufeinander abzustimmen, übereinstimmend legen die Fachrichtungen aber nahe, dass sich R1a und R1b beziehungsweise Glockenbecher- und Schnurkeramiker von zwei Richtungen kommend in der Mitte Europas getroffen haben. Genetisch ist die R1a/b-Scheidelinie inmitten Europas noch heute nachvollziehbar.

Die Nord-Süd-Achse

Eine viel prominentere genetische Substruktur, die in vielen Untersuchungen erneut bestätigt wird, verläuft in Europa allerdings grob, aber deutlich von Süd(ost) nach Nord(west). Lange vermutet man schon, dass dieser Gradient bereits von deutlich früheren Migrationswellen zu Beginn der Jungsteinzeit geprägt ist: Damals drangen im Zuge der neolithischen Umwälzung Pioniere mit agrartechnologischem Rüstzeug im Gepäck nach und nach von Süden nach Norden vor – und vermischten sich mit den ansässigen paläolithischen Jägergemeinschaften, wenn sie sie denn nicht gleich ganz ersetzten und verdrängten.

In jedem Fall aber war im Zuge der neolithischen Migration von Menschen und agrartechnischer Innovation der Süden des Kontinents stärker betroffen: Hier mischten sich die paläo- und mesolithischen Urhaplotypen der Einheimischen häufiger mit neu einwandernden Nachrückern. Je weiter nördlich, desto später und schwächer setzten sich also sowohl die Ideen der Landwirtschaft als auch der Nachschub an Genen der neolithischen Südmenschen durch.

Und demzufolge beherbergt der Nord(west)en Europas auch heute noch mehr Menschen mit älteren genetischen Markern. Andere Ecken Europas – geografisch isolierte Inselareale wie die von den Ahnen der Basken und Sardinier besiedelten – sind indes wohl eher umgangen worden.

Wirbel im Gengradienten

Noch herrscht übrigens weit gehend Unklarheit darüber, wie viele Genvarianten oder SNPs sich tatsächlich aus dem Mesolithikum und der früheren Jungsteinzeit ins europäische Hier und Jetzt gerettet haben. Was, zum Beispiel, wurde aus den Mischlingen der neolithischen Agrarpioniere und den alteuropäischen Einheimischen, als während der endsteinzeitlichen Migrationswellen nun wieder neue Menschen – die Glockenbechermenschen und Schnurkeramiker von West und Ost – auftauchten? Verschwunden war damals zum Beispiel die ältere Kultur der Linearbandkeramiker. Untersuchungen alter DNA aus Skeletten in einer über die Jahrtausende hinweg besiedelten Fundstätte in Sachsen-Anhalt scheinen derzeit zu belegen, dass deren Gene – genauer, die charakteristischen SNPs der mt-DNA-Haplotypen – aus der alten Zeit kaum an die zukünftigen Europäer weitergegeben wurden [11].

Die noch heute erkennbare, sich geografisch grob von Südosten nach Nordwesten graduell ändernde genetische Urstruktur Europas wird, wie die DNA-Analysen aus Sachsen-Anhalt belegen, seit dem Beginn der Kupferzeit andauernd überlagert und teilweise ersetzt: eben durch den Beitrag von weit ausgreifenden Kulturen wie den Glockenbecher-Leuten oder den Schnurbandkeramikern, aber auch späteren historischen Wanderbewegungen. Überall in Europa ereignete sich gleichzeitig aber stets der natürlichste Vorgang der Welt: Zuwanderer und Ureinheimische fanden zueinander und mischten sich, worauf einige wieder weiterzogen. Und weil nahe Nachbarn sich häufiger treffen als geografisch weiter entfernt lebende Menschen, bleibt dabei der schon früher angelegte genetische Nord-Süd-Gradient der Variabilität zwar erhalten, es wird zudem aber auch ein entfernungsabhängiger Isolationseffekt wirksam, der für nivellierende Effekte sorgt. Regional werden dabei Unterschiede zwischen genetischen Populationen mehr und mehr abgeschliffen [12,13].

Vom Wir zum Ich

Was bedeutet dies alles für "unsere Gene"? Offensichtlich gibt es tatsächlich ein typisch europäisches Gengemisch: Es hat sich in einer eigenen Entwicklungsgeschichte mit langen Phasen der Semiisolation geformt – und zugleich aber immer wieder auch aus dem Nachschub-Genpool von jenseits des Kontinents ergänzt. Auf jeden Fall sind die Europäer, diese immer weiter durcheinandergerührte Mixtur aus Neandertalern und Cro-Magnon-Menschen, aus Altsteinzeitjägern und neolithischen Bauern sowie immer neuen Migranten aus Süden und Osten – eine große Familie.

So gesehen bleibt die Frage eines Einzelnen, ob er womöglich in der eigenen Ahnenlinie einen Kelten, Wikinger, Goten oder Römer hat, zwar spannend, die Antwort aber ist banal: Er hat, sehr wahrscheinlich – und zwar alles gleichzeitig. Was auch rein mathematisch nachvollziehbar ist, denn mit jeder zurückliegenden Generation verdoppeln sich unsere möglichen genetischen Vorfahren. Wir haben acht Urgroßeltern, in zehnter Generationen mehr als 1000 Vorfahren sowie vor 20 Generationen (theoretisch) mehr als eine Million. Praktisch heißt das: Sehr viele von uns müssen sehr viele gemeinsame Vorfahren haben.

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  • Quellen
[1] Norton, H.L. et al.: Genetic Evidence for the Convergent Evolution of Light Skin in Europeans and East Asians. In: Mol. Biol. Evol. 24(3): S. 710–722, 2007
[2] Loussouarn G. et al.: Worldwide diversity of hair curliness: a new method of assessment. In: Int J Dermatol 46 Suppl 1: S. 2–6, 2007
[3] Medland, S.E. et al.: Common Variants in the Trichohyalin Gene Are Associated with Straight Hair in Europeans. In: Am J Hum Genet. 85(5), S. 750–755, 2009.
[4] Mou, C. et al.: Enhanced ectodysplasin-A receptor (EDAR) signaling alters multiple fiber characteristics to produce the East Asian hair form. In: Hum Mutat. 29(12): S. 1405–1411, 2008.
[5] Eriksson, N. et al.: Web-Based, Participant-Driven Studies Yield Novel Genetic Associations for Common Traits.
In: PLoS Genet 6(6): e1000993, 2010.
[6] Lewinsky R.H. et al.: T-13910 DNA variant associated with lactase persistence interacts with Oct-1 and stimulates lactase promoter activity in vitro. In: Hum Mol Genet 14, S. 3945–3953, 2005.
[7] Burger, J. et al.: Absence of the lactase-persistence-associated allele in early Neolithic Europeans. In: PNAS 104(10), S 3736–3741, 2010.
[8] D. Reich et al.: Denisova Admixture and the First Modern Human Dispersals into Southeast Asia and Oceania. In: The American Journal of Human Genetics 89(4), S. 516–528, 2011.
[9] A. Keller et al.: New insights into the Tyrolean Iceman's origin and phenotype as inferred by whole-genome sequencing. In: Nature Communications 3, S. 698, 2012.
[10] Harrison, R.J.. In: The Beaker Folk. Copper Agearchaeology in Western Europe. Thames and Hudson, London, 1980.
[11] Brotherton, P.: Neolithic mitochondrial haplogoup H genomes and the genetic origin of Europeans. In: Nat Comm 10.1038/ncomms2656, 2013.
[12] Lao, O. et al.: Correlation between genetic and geographic structure in Europe. In: Current Biology 18: S. 1241–1248, 2008.
[13] Novembre, J. et al.: Genes mirror geography within Europe. In: Nature 456, 98–101, 2008.

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