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Biodiversität: Unsichtbare Extremisten

Eine Arbeitsgruppe suchte nach Mikroben, die mit normalen Methoden nicht auffindbar sind – und fand eine bisher unentdeckte Welt.
Ein Biofilm aus Staphylococcus aureus beginnt sich langsam zu bilden.

Dass sich mehr als 90 Prozent aller Bakterienarten nicht im Labor kultivieren lassen, ist eine alte Erkenntnis. Diese unentdeckten Bakterien bezeichnet man als candidate phylae (CP), eine Gruppe, um deren Existenz man weiß, die man mangels beschriebener Vertreter aber schlicht nicht formal einordnen kann. Doch wie kriegt man diese Vielfalt zu fassen? Ein internationales Team um die Biologin Jill Banfield von der University of California in Berkeley wagte jetzt einen wahren genomischen Rundumschlag, für den die Arbeitsgruppe die komplette DNA aus nach konventionellen Kriterien sterilen Grundwasserproben sequenzierte und zusammensetzte.

Dabei deckte das Team der Forscherin die wahre Bedeutung dieser kaum bekannten Arten auf: Sie bilden eine eigene uralte Gruppe, die etwa 15 Prozent aller bakteriellen Abstammungslinien ausmacht. Es ist, als hätte man plötzlich fünf neue Tiergruppen gefunden, die sich untereinander und von allen anderen so stark unterscheiden wie Wirbeltiere von Insekten.

Genome aus der versteckten Welt

Die Vertreter der candidate phylae sind mit Durchmessern im Bereich von einem Mikrometer extrem klein. Die Banfield-Gruppe verwendete deswegen einen Filter mit zwei Mikrometer Porendurchmesser – zu klein für bekannte Mikroben wie zum Beispiel E. coli, das bis zu 6 Mikrometer lang wird. Außerdem haben sie sehr kleine Genome, in denen teilweise wichtige Stoffwechselwege fehlen – in dieser Hinsicht erweisen sich die CP-Bakterien als den intrazellulären Parasiten ähnlich. Sie brauchen einige zusätzliche, sehr spezielle Nährstoffe und Bedingungen zum Gedeihen. Das ist der Grund dafür, dass man diese Kreaturen nur schlecht im Labor züchten kann.

Seit moderne molekularbiologische Verfahren in der Mikrobiologie aufkamen, kommt man Bakterien allerdings auch ohne Petrischale auf die Schliche. Mit DNA-Sonden und der PCR kann man heute allein anhand des Erbguts in einer Probe schnell einen Überblick gewinnen, welche Mikroorganismen in dem Ökosystem vorhanden sind. Dachte man jedenfalls bisher. Nun zeigt sich allerdings, dass der bewährte Trick selbst erhebliche Lücken hat. Weit mehr als die Hälfte der Arten in den von Banfield analysierten Gruppen wäre bei den klassischen kulturunabhängigen Screenings anhand der ribosomalen DNA durchs Raster gefallen – nicht zuletzt ein beträchtlicher Teil der weit weniger extremen Bakterien außerhalb der candidate phylae.

Ein Vertreter der candidate phylae | Diese winzigen, bisher unbekannten Bakterien machen bis zu 15 Prozent aller Bakterienphylae aus. Der Balken rechts unten entspricht 100 Nanometern.

Dieses Problem umgehen Banfield und ihr Team mit einer drastischen Maßnahme – sie sequenzieren einfach das gesamte in der Probe enthaltene Genmaterial und setzen die Schnipsel mit Hilfe von Algorithmen zu möglichst kompletten Genomen zusammen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Insgesamt 797 Genome aus den candidate phylae kamen zum Vorschein, immerhin 8 davon vollständig. Sie zeigen, dass diese Bakteriengruppe über 15 Prozent der bakteriellen Vielfalt ausmachen könnten.

Kennen wir die Außenseiter am besten?

Außerdem sind die Minibakterien auch genetisch sehr ungewöhnlich, gerade was die Ribosomen angeht. Ihre ribosomale DNA enthält so genannte selbstspleißende Introns – eingefügte Erbgutbereiche, die sich aus der mRNA erst selbst herausschneiden müssen, bevor das Genprodukt in ein Protein übersetzt wird. Solche Umwege sind eigentlich so aufwändig und teuer, dass sie im Laufe der Evolution verschwinden sollten. Merkwürdig auch: Vielen Bakterien dieser Gruppe fehlt ein Protein im Ribosom, das typischerweise bei intrazellulären Parasiten verschwunden ist. Hinweise darauf, dass die Mehrzahl dieser Arten parasitär leben, gibt es bisher aber nicht.

Damit zeigen die so wenig fassbaren Bakterien der CP-Gruppe nicht nur einen neuen Teil der Bakterienvielfalt, sondern möglicherweise auch ein grundsätzliches Problem der Mikrobiologie: Fast alles, was wir über Bakterien wissen, wissen wir von solchen, die sich kultivieren lassen. Doch schon eine Anordnung zweier Filter liefert aus einer keineswegs exotischen Grundwasserprobe buchstäblich hunderte neue Arten mit teilweise bizarren Eigenschaften. Doch vielleicht sind gar nicht sie die Außenseiter. Je weiter die Forschung in das bisher nicht zugängliche Reich der nichtkultivierbaren Bakterien vorstößt, desto mehr könnte sich herausstellen, dass die wenigen Mikroben, die sich einfach im Labor züchten lassen, die wahren Extremisten sind.

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