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Naturkatastrophen: Megabeben durch den Schüsseleffekt

Schüsselförmige Strukturen im Untergrund wandeln normale Erdbebenwellen in besonders zerstörerische Erschütterungen um. Betroffen sind auch Japan und Kalifornien, wo den Großstädten Los Angeles und Tokio in naher Zukunft schwere Beben drohen.
Erdbeben in Haiti

Erdbeben ist nicht gleich Erdbeben. Aber es sind nicht nur die Bedingungen an der Quelle der Erschütterung, die bestimmen, wie katastrophal das Beben ausfällt – entscheidend ist auch, wie die obere Erdkruste im Laufweg der Wellen aussieht. Schüsselförmige, mit Ablagerungen gefüllte Becken verursachen an der Oberfläche besonders starke Bodenbewegungen – weit stärker als man anhand der reinen Bebenenergie vermuten würde.

Viele große Städte in Erdbebenregionen stehen auf solchen sandigen oder tonigen Senken, oft in den Schwemmebenen großer Flüsse oder den Sedimentfächern ihrer Deltas. Wie viel stärker die Bodenbewegung in diesen mit Lockermaterial gefüllten Senken tatsächlich ist, daran scheiden sich die Geister – es gibt bisher zu wenig Daten über Bebenstärke und Bodenbewegung, um Modelle und Realität zu vergleichen. Starkbeben sind einfach zu selten.

Erdbeben in Haiti

Stadtplaner aber brauchen diese Daten dringend, denn der Effekt kann erhebliche Auswirkungen haben. So geht man davon aus, dass hohe Zahl der etwa 300 000 Toten beim Erdbeben von Haiti im Jahr 2010 auf das Konto des Untergrundes aus vergleichsweise schwachen Sedimenten ging, die Erschütterungen in der Hauptstadt Port-au-Prince verstärkten. Das Problem existiert aber auch in den Industrieländern, wie Erdbeben von Christchurch in Neuseeland in den Jahren 2010 und 2011 demonstrierten. Die Erschütterung verursachte Oberflächenbewegungen, die mit teilweise mehr als der doppelten Erdbeschleunigung zu den stärksten jemals gemessenen gehörten – und das, obwohl die Beben mit Magnituden von 6 bis 7 keineswegs übermäßig stark waren.

Der Boden wankt mit doppelter Erdbeschleunigung

Ein vergleichbares Schicksal droht vielen anderen Regionen mit ähnlichen geologischen Strukturen. Zum Beispiel dem Georgia-Becken am Westrand des nordamerikanischen Kontinents, in dem die beiden Großstädte Vancouver und Seattle liegen – auf einer Senke mit kilometerdicken Ablagerungen, die bis in die Kreidezeit zurückreichen.

Diese schüsselförmigen geologischen Strukturen haben eine verhängnisvolle Besonderheit, wenn es um Erdbebenwellen geht. Sie wandeln nämlich Raumwellen wie die P- und S-Wellen, die durch den Erdkörper wandern, in Oberflächenwellen um – und diese sind für Gebäude besonders gefährlich, weil sie den Boden, auf dem Häuser gemeinhin stehen, sehr stark beschleunigen und auslenken. Außerdem bleiben sie länger stark: Sie verlieren Energie nur entlang zweier Raumdimensionen anstatt drei.

Die kanadische Großstadt Vancouver betrifft das Problem in besonderem Maße. Die Stadt liegt über einer Grenze zwischen zwei Erdplatten, an der die ozeanische Kruste der Juan-de-Fuca-Platte unter den Kontinent abtaucht. An diesen Subduktionszonen bebt die Erde häufig – und hier finden die stärksten Erdbeben überhaupt statt, die so genannten Megathrust-Beben. Das letzte solche Beben an dieser Cascadia-Subduktionszone liegt jedoch lange zurück: Es fand im Jahr 1700 statt. Das nächste aber kommt bestimmt.

Um die potenziellen Schäden und mögliche Gegenmaßnahmen einzuschätzen, hat ein Forscherteam um Sheri Molnar von der Universität British Columbia in Vancouver das zusätzliche Zerstörungspotenzial dieses Schüsseleffekts bei verschiedenen Erdbeben modelliert.[1] Sie verwenden dazu eine Simulation, deren Erdbebendaten auf realen Erdbeben der Vergangenheit basiert und die die 3-D-Strukturen der Erdkruste berücksichtigt.

Mehr Zerstörung durch Becken im Untergrund

Auf der Basis dieser Daten kommen sie zu dem Schluss, dass der Boden im Großraum Vancouver im Fall eines Erdbebens deutlich stärker schwanken wird, als man es anhand der freigesetzten Energie erwartet: Das Modell sagt im Schnitt etwa vierfach stärkere Beschleunigungen voraus, die im Mittel 20 Sekunden länger dauern würden als ohne das Becken im Untergrund. Außerdem ergab die Studie, dass die stärksten Bodenbewegungen richtungsabhängig sind: Die abtauchende Platte kanalisiert die Bebenwellen in Abtauchrichtung. Dementsprechend würde ein Beben im Südwesten von Vancouver die stärksten Schäden in der Region verursachen, so die Autorinnen.

Die Methode – und damit die Schlussfolgerung – hat allerdings einen Schönheitsfehler: Sie funktioniert nur mit Erdbeben, für die man schon gute Daten hat. Die potenziell gefährlichsten Beben, bei denen solche Prognosen am dringlichsten sind, fallen jedoch gerade nicht in diese Kategorie: Es sind Starkbeben, die alle paar hundert Jahre geschehen. Zum Beispiel eben, wenn die seit Jahrhunderten verkantete Subduktionszone vor Vancouver schließlich mit enormer Gewalt bricht.

Vancouver ist bei Weitem nicht die einzige Großstadt, bei der Wannenstrukturen im Untergrund und sich ankündigende Großbeben zusammentreffen. Tokio, auf dem Kanto-Becken erbaut, rechnet seit Jahren mit dem nächsten "Big One", und ein US-Seismologe bezeichnete schon 2010 eine Verwerfung nahe der ebenfalls auf Sedimenten gebauten iranischen Hauptstadt Teheran als "tickende Zeitbombe".

Zerstörung durch das große Kanto-Beben 1923 | Schäden in den Tokioter Stadtbezirken Nihonbashi und Kanda durch das Erdbeben und den anschließenden Großbrand.

In diese Reihe gehört auch Los Angeles nahe dem Südende der San-Andreas-Störungszone, die in historischer Zeit mehrere zerstörerische Erdbeben hervorgebracht hat. Allerdings fand hier seit mindestens 300 Jahren kein wirklich großes Erdbeben einer Magnitude von 7 und mehr statt. Ein solches Erdbeben würde in der teilweise nur 50 Kilometer entfernten Stadt schwere Schäden und wahrscheinlich tausende Tote hinterlassen – auch weil die Stadt ebenfalls über einer flachen, mit Sedimenten gefüllten Wannenstruktur liegt, die langperiodische Bebenwellen erheblich verstärken würde.

Dieses Los-Angeles-Becken haben Seismologen schon seit einer Weile als Gefahrenherd ausgemacht – die Struktur würde Erschütterungen ziemlich genau im Stadtzentrum fokussieren. Viele Gebäude der Stadt sind zwar darauf ausgelegt, einem Erdbeben standzuhalten. Welchen Effekt die zusätzlichen Bodenbewegungen durch das Sedimentbecken haben werden, hängt von den Wechselwirkungen zwischen langperiodischen Bebenwellen und der genauen Struktur der Senke ab, und nicht zuletzt vom genauen Ort des Erdbebens.

Los Angeles im Fadenkreuz der Erdbeben

Es gibt natürlich schon Computersimulationen, die sich dieser Frage angenommen haben. Aber wirklich zuverlässig sind diese Berechnungen nur, wenn man sie an echten seismischen Daten, zum Beispiel von früheren Erdbeben, kalibrieren kann – wie es die Forscherinnen in Vancouver taten. Außerdem reicht dafür nicht jedes Erdbeben, es muss auch stark genug sein, jene langperiodischen Wellen hervorzurufen, die den Sedimentbeckeneffekt hervorrufen.

Wo aber bekommt man seismische Daten für ein Erdbeben her, das nie stattfand? Diese Frage stellt sich nicht nur für die südliche San-Andreas-Störungszone, sondern für viele seit Jahrhunderten ruhige Verwerfungsabschnitte weltweit. In Los Angeles hat eine Gruppe von Forscherinnen nun gezeigt, dass sich der Sedimentbeckeneffekt auch im alltäglichen seismischen Hintergrundrauschen abzeichnet.[2]

"The Big One" im Computer | Diese Simulation eines schweren Erdbebens zeigt den Schüsseleffekt: Wenn die Schockwelle längst durchgezogen ist, lassen langlebige Schwingungen, erzeugt durch das Sedimentbecken im Untergrund, den Boden von Los Angeles tanzen.

Dieses Rauschen stammt aus Ozean und Atmosphäre, die beide den Erdkörper zum Schwingen bringen, und je nach der lokalen Struktur der Erdkruste hört es sich für Seismometer an unterschiedlichen Orten unterschiedlich an. So gewann das Team um Marine Denolle von der Stanford University echte seismische Daten, anhand derer die Forscherinnen nicht nur den Realitätsgehalt früherer Simulationen testeten, sondern auch genauere Aussagen darüber machen, wie Erdbebenwellen mit dem Trog unter Los Angeles interagieren.

Das Team nutzte die Differenzen zwischen den Aufzeichnungen von Seismometern in der Region zwischen Los Angeles und dem südlichen Teilstück der San-Andreas-Verwerfung. Mit einem mathematischen Verfahren berechneten sie, wie der Untergrund zwischen zwei Messstationen auf seismische Wellen reagieren muss, um die beobachteten Unterschiede im Hintergrundrauschen zu erklären. Mit diesen Informationen bestücken sie anschließend eine klassische Simulation.

Die Ergebnisse dürften nicht nur den Forscherinnen um Sheri Molnar in Vancouver, sondern weltweit zu denken geben. Die Analyse des Hintergrundrauschens führt in den Simulationen zu deutlich höheren Geschwindigkeiten und Beschleunigungen durch die zerstörerischen Oberflächenwellen als eine frühere Simulation, die den Effekt des Sedimentbeckens mit klassischen Methoden modellierte – und damit im Fall eines echten Erdbebens auch zu deutlich größeren Schäden an Gebäuden.

Das ist beunruhigend, auch wenn Denolle und ihre Koautorinnen auf die großen Unsicherheiten hinweisen, die ihre Analyse enthält. Nicht nur Zeit und Ort schwerer Erdbeben entziehen sich der Vorhersage, auch die Folgen sind bis heute nicht leicht einzuschätzen – selbst dort nicht, wo man im Prinzip weiß, welche bösen Überraschungen noch im Untergrund lauern. Andersherum hoffen Experten, mit Hilfe solcher neuer Techniken in Zukunft besser einschätzen zu können, wo Gebäude im Ernstfall sicher stehen und wo besondere Gefahr droht. Und keineswegs nur an der Westküste Nordamerikas: Auch in Europa gibt es Erdbeben – und Sedimentbecken.

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  • Quellen
[1] Bulletin of the Seismological Society of America 10.1785/0120130116, 2014
[2] Science 343, S. 399 – 403, 2014

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