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Rechtspsychologie: Urteil mit Schlagseite

Selbst erfahrene Juristen können im Gerichtssaal verschiedenen psychologischen ­Einflüssen unterliegen und sich zum Beispiel im Strafmaß an irrelevanten Zahlen orientieren. Die Psychologinnen Birte Englich und Madeleine Bernhardt ­erklären, worauf diese Urteilsverzerrungen gründen und wie Richter ihnen vorbeugen können.
Waage mit Würfeln

Peter F. und Sabine K. lernten sich auf einer Party kennen. Sie flirteten heftig miteinander, und schließlich bot er ihr an, sie mit dem Auto nach Hause zu bringen. Als sie einwilligte, fuhr er jedoch in den Wald und bedrängte sie dort. Obwohl sie sich gegen seine Annäherungsversuche wehrte, kam es zum Geschlechtsverkehr.

Dies ist die Kurzfassung einer Fallgeschichte, die Birte Englich gemeinsam mit Thomas Mussweiler von der Universität zu Köln in mehreren Studien Richtern, Staatsanwälten und Rechts­referendaren schriftlich vorlegten. Die Juristen erhielten dabei alle Informationen, die ihnen auch bei einer Gerichtsverhandlung üblicherweise zur Verfügung stehen: eine kurze Beschreibung des Vorfalls und der beteiligten Personen, rechtsmedizinische und psychologische Gutachten sowie die Aussagen des mutmaßlichen Opfers, des Täters und der Zeugen. Die Empfehlungen hinsichtlich des Strafmaßes schwank­ten in einem 2001 veröffentlichten Experiment zwischen sieben Monaten Haft auf Bewährung und drei Jahren Freiheitsstrafe ohne Bewährung – obwohl den Rechtsprofis stets identische Informationen vorlagen.

Anschein der Objektivität | Der Urteilsspruch sollte sich stets auf eine unvoreingenommene Abwägung von Tatsachen gründen. Doch subjektive psychologische Effekte können auf die richterliche Entscheidungsfindung einwirken.

Die richterliche Freiheit erlaubt zwar durchaus Abweichungen in den Urteilssprüchen, denn trotz vergleichbarem Fachwissen bewerten verschiedene Personen die gleichen Informationen oft unterschiedlich. Analysen von Gerichtsakten sowie Beobachtungen von Verhandlungen zeigen aber, dass Richter zum Teil mas­siv unterschiedliche Strafen bei vergleichbaren oder nahezu identischen Fällen verhängen.

Wie kommt das? Wirken auch sachfremde Einflüsse dabei mit? Und welche psychologi­schen Effekte spielen eine Rolle? Idealerweise sollte der Richter sein Urteil allein an objektiven Fakten orientieren. Hierzu gehören vor allem die Tat selbst sowie die besonderen Tatumstände. Innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens hängt die Strafe von der Schuldfrage sowie den zu erwartenden Folgen der Strafe ab, etwa davon, ob der Täter durch eine Inhaftierung zum Beispiel als Vater aus einem funktionierenden Familienverband gerissen würde.

Gedankliche "Abkürzungen" erleichtern die Entscheidung

Das Problem besteht nun vor allem darin, dass die vorliegenden Informationen oft uneindeutig und mitunter sogar widersprüchlich sind. Der Umgang mit einer so komplexen und unsicheren Informationslage stellt für Menschen auch im Alltag eine Herausforderung dar. Um unsere Unsicherheit zu verringern, nutzen wir häufig gedankliche "Abkürzungen" wie beispielsweise Urteilsheuristiken. Das sind Faustregeln, die uns mittels weniger Kriterien eine Entscheidung ermöglichen. Das beschleunigt die Sache, kann aber ebenso zu typischen Verzerrungen führen.

Eine dieser Urteilsheuristiken ist der so genannte Ankereffekt: das Phänomen, dass wir numerische Schätzungen gerne an eine Zahl anlehnen, die zuvor im selben Kontext genannt wurde. Zahlreiche Befunde untermauern diesen Effekt. So stellte Thomas Mussweiler zusammen mit dem Psychologen Fritz Strack von der Universität Würzburg in einer Studie von 1997 einem Teil der Probanden die Frage, ob das Brandenburger Tor höher oder niedriger als 25 Meter ist. Die übrigen Versuchspersonen fragten sie, ob es höher oder niedriger als 150 Meter ist. Anschließend sollten die Teilneh­mer die Höhe des Tors selbstständig einschätzen. Dasselbe Vorgehen wiederholten die Au­toren für den Kölner Dom. Sofern die Probanden die richtige Antwort nicht vorab kannten, orientier­ten sie sich bei ihrer Schätzung an dem jeweiligen "Anker": Im Fall eines hohen Vergleichswerts fielen die Schätzungen höher aus als im Fall eines niedrigen.

Solche Effekte entstehen sogar bei unplausiblen Ankern, zum Beispiel, wenn die Teilnehmer beantworten sollen, ob Mahatma Gandhi bei seinem Tod älter oder jünger als neun be­ziehungsweise 140 Jahre war. Beim niedrigen Anker tippten die Probanden im Mittel auf rund 50 Jahre, beim hohen dagegen auf zirka 67 Jahre.

Und das funktioniert auch dann, wenn man den Anker gar nicht bewusst wahrnimmt, wie Birte Englich und Thomas Mussweiler 2005 zeigen konnten. Ihre studentischen Probanden sollten in einem computergestützten Test die durchschnittliche Temperatur in Deutschland schätzen. Die Teilnehmer blickten dabei auf einen Bildschirm, auf dem zunächst die Frage und dann entweder die Zahl 5 oder die Zahl 20 für wenige Millisekunden – unterhalb der Wahrnehmungsschwelle – erschien. Wie erwartet schätzten Probanden, denen der niedrige Wert präsentiert worden war, die Durchschnitts­temperatur im Mittel als geringer ein: auf rund 12,8 Grad Celsius. Die andere Gruppe tippte durchschnittlich auf 14,9 Grad Celsius, und ein Vortest ganz ohne Anker hatte 13,6 Grad Celsius ergeben. Ein ähnliches Resultat ­erbrachte eine vergleichbare Studie für den ­geschätzten Preis eines Mittelklassewagens. Bei einem Anker von 10 000 schätzten die Teilnehmer den Preis auf 17 000 Euro; bei Darbietung der Zahl 30 000 hingegen lag der durchschnittliche Wert bei 21 000 Euro.

Psychologen gehen davon aus, dass sich solche Anker auf kognitive Prozesse auswirken. Informationen, die mit dem vorgegebenen Anker übereinstimmen, sind für uns leichter zugänglich, weil wir dazu neigen, nach Informationen zu suchen, die für unsere Annahmen sprechen, und weniger nach jenen, die das Gegenteil nahelegen. Dieses Phänomen des "positiven Hypothesentestens" kennt jeder aus dem Alltag: Wenn wir eine Person kennen lernen, die uns von einem Bekannten als introvertiert beschrieben wurde, dann betrachten wir die Informa­tion als eine zu prüfende Hypothese. Wir testen sie jedoch einseitig, weil wir das Verhalten der fraglichen Person entsprechend unserer Vor-annahmen interpretieren. Abweichende Deu­tun­gen vernachlässigen wir hingegen häufig.

Dem Ankereffekt erliegen auch erfahrene Juristen

Aber spielt der Ankereffekt tatsächlich auch vor Gericht eine Rolle? Zahlreiche Studien belegen dies. Er tritt besonders bei komplexen und uneindeutigen Sachverhalten auf oder wenn es um Handlungen geht, die sich schwer objektiv beurteilen lassen – und zwar vor allem dann, wenn es im Urteil um Zahlen geht. Schon 1996 beobachteten Gretchen B. Chapman von der Rutgers University und Brian H. Bornstein von der Louisia­na State University in Baton Rouge, dass die vom Richter festgelegten Schaden­ersatz- oder Schmerzensgeldzahlungen in identischen zivilrechtlichen Fällen umso höher ausfielen, je höher die Forderung der klagenden Partei war.

Unsere Arbeitsgruppe testete den Effekt 2001 in mehreren eigenen Simulationsstu­dien: Würde das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß das richterliche Urteil tatsächlich beeinflussen? Wir rekrutierten dafür sowohl unerfahrene Referendare als auch Ju­risten mit durchschnittlich mehr als zehn Jah­ren Berufspraxis. Überraschenderweise spiel­­te ihre Erfahrung keine Rolle – der einzige Unterschied lag darin, dass sich die "alten Hasen" in ihrem Urteil sicherer fühlten. Ebenso unerheblich für ihre Entscheidung war es, ob die For­derung (der Anker) von einem juristischen ­Experten oder von einem Laien wie zum Beispiel einem Journalisten stammte. Wir ließen die ­Juristen in einer weiteren Untersuchungsreihe aus dem Jahr 2006 sogar eigenhändig Ankerwerte erwürfeln. Und obwohl sie wussten, dass die zufällig gewürfelte Zahl für ihre Entscheidung irrelevant war, fielen ihre Urteile entsprechend der Würfelaugen höher oder niedriger aus.

In einer Studie verwendeten wir dazu die eingangs erwähnte Schilderung eines Vergewaltigungsfalls. Die Juristen sollten sich dann vorstellen, dass ein Journalist sie fragte, ob das Urteil höher oder niedriger ausfallen würde als ein Jahr beziehungsweise drei Jahre Freiheitsstrafe. Der niedrigere Anker senkte das durchschnittlich vorgeschlagene Strafmaß auf gut zwei Jahre und einen Monat; der höhere Anker ließ das Urteil auf zwei Jahre und neun Monate steigen.

In weiteren Untersuchungen konstruierten wir den Fall einer Ladendiebin, die zum wiederholten Mal erwischt worden war. Die Forderung der Staatsanwaltschaft lag einmal bei drei und einmal bei neun Monaten auf Bewährung. Prompt unterschieden sich die Urteile in den beiden Bedingungen um zwei Monate (vier versus sechs Monate). In einer Variante erwürfelten sich die Probanden die Anker selbst. Die Würfel waren dazu so präpariert, dass immer die gewünschten Augenpaare von 1 und 2 oder von 3 und 6 fielen. Hier lagen die Urteile etwa 2,5 Monate auseinander.

Zwischenrufer können das Urteil beeinflussen

Selbst einem offensichtlich parteiischen Zwischenrufer kann es gelingen, das Urteil eines ­Juristen in die gewünschte Richtung zu lenken. In einem 2005 veröffentlichten Experiment legten wir 177 Rechtsreferendaren wiederum die Materialien zum eingangs geschilderten Ver­gewaltigungsfall vor. Danach konfrontierten wir sie schriftlich mit zwei verschiedenen Szenarien: Während der Verhandlung rief entweder ein Freund des Opfers "Geben Sie ihm doch einfach fünf Jahre!" oder aber ein Freund des Angeklagten: "Sprechen Sie ihn doch einfach frei!". Ein Teil der Probanden sollte sich danach vorstellen, in einer Verhandlungspause mit einem Kollegen über den Zwischenruf zu diskutieren – war die Forderung zu hoch, zu niedrig oder genau richtig? Dann sollten alle Teilnehmer angeben, welches Strafmaß sie als Richter verhängen würden.

Ergebnis: Hatte der Zwischenrufer für fünf Jahre Freiheitsentzug plädiert (hoher Anker), entschieden sich die Rechtsreferendare im Schnitt für rund zwei ­Jahre und neun Monate, bei Forderung eines Freispruchs aber nur für knapp zwei Jahre. Der Effekt trat allerdings nur dann auf, wenn die Probanden in der Pause über den Zwischenruf gesprochen hatten. Trotzdem konnten sich lediglich zwei Prozent von ihnen vorstellen, dass sie sich vom offensichtlich ­parteiischen Zwischenrufer hatten beeinflussen lassen.

Die empirischen Belege sind eindeutig: ­Richter berücksichtigen bei ihrer Urteilsfindung offenbar keineswegs nur objektive Fakten und Indizien. Nun lässt sich einwenden, dass im ­Gerichtssaal mehrere Anker miteinander konkurrieren. Im Strafrecht folgt auf das Plädoyer der Staatsanwaltschaft das der Verteidigung, und das letzte Wort gehört dem Angeklagten. So liegt die Überlegung nahe, das Plädoyer der Verteidigung könne dem vom Staatsanwalt gesetzten hohen Anker eine niedrigere Straf­maßforderung entgegensetzen. Unsere Unter­suchungen zeigen jedoch, dass sich selbst der Verteidiger mit seiner Forderung an der Staatsanwaltschaft orientiert! Befragungen von Studienteilnehmern offenbaren, dass dies nicht etwa mit Absicht, sondern ungewollt geschieht. Ähnliche Beispiele lassen sich auch in den Akten realer Gerichtsverfahren finden.

Der Ankereffekt ist nicht der einzige psychologische Einfluss, dem Richter bei ihrer Urteilsfindung unterliegen. 1983 zeigten der Psychologe Charles R. Pruitt von der University of Wisconsin-Madison und der Politologe James Q. Wilson von der University of California in Los Angeles, dass Angeklagte dunkler Hautfarbe bei gleichem Vergehen mit einem deutlich höhe­-ren Strafmaß rechnen müssen. Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, dass das Wissen um rassistische Urteilsverzerrungen inzwischen offenbar zu einer Korrektur in der amerikanischen Justiz geführt haben.

Allerdings sind die zu Grunde liegenden Stereotype mitunter auf subtilere Weise wirksam: Die Psychologin Irene V. Blair und ihre Kollegen von der University of Colorado berichteten 2004 von verschärften Strafen in realen Verfahren, wenn der Täter unabhängig von der Hautfarbe typisch afroamerikanische Merkmale wie volle Lippen und eine breite Nase aufwies. Die Forscher hatten 216 Porträtfotos von Gefängnisinsassen in Florida zwischen 18 und 24 Jahren auf solche Gesichtsmerkmale beurteilen lassen und ihren Zusammenhang mit dem Strafmaß untersucht.

Auch das allgemeine Erscheinungsbild von Angeklagten ist vor Gericht durchaus von Bedeutung. Dessen Einfluss führen Sozialpsy­chologen unter anderem auf den so genannten Halo-Effekt zurück (von englisch "halo" = Hof oder Heiligenschein). Demnach werden attraktiven Menschen häufig noch weitere positive ­Eigenschaften zugeschrieben, beispielsweise Intelligenz und soziale Kompetenz. Entsprechend haben besonders attraktive Angeklagte auch bessere Chancen auf ein milderes Urteil als unattraktive – und zwar unabhängig von der Schwere der fraglichen Tat.

Attraktive Betrüger im Nachteil

Davon profitieren sie aber offenbar nur, wenn die Tat nicht in direktem Zusammenhang mit ihrer Attraktivität steht. In einer klassischen Studie aus dem Jahr 1975 baten Harold Sigall und Nancy Ostrove von der University of Maryland 120 juristische Laien, das Strafmaß in zwei Kriminalfällen zu bestimmen. Anders als hier zu Lande sind Laien in den USA durchaus geeignete Versuchspersonen, denn dort bestimmen die Geschworenen das Urteil.

Die beiden Fallgeschichten enthielten ent­weder ein Porträtfoto einer hübschen oder das einer weniger gut aussehenden Frau. Das Strafmaß für Diebstahl setzten die Probanden bei ­einer unattraktiven Täterin auf 5,2 Jahre fest – bei der attraktiven Angeklagten jedoch nur auf 2,8 Jahre. Handelte es sich aber bei dem Fallbeispiel um einen Betrug, bei dem die Täterin ihre Attraktivität ausnutzte, musste sie sogar mit einem härteren Urteil rechnen. Hier fanden die Teilnehmer bei attraktiven Personen 5,5 Jahre gerechtfertigt; unattraktive sollten hingegen nur eine Strafe von durchschnittlich 4,4 Jahren bekommen.

Ob Attraktivität einen Vorteil bedeutet, hängt außerdem davon ab, ob der Richter gerade stärker mit seinem Gefühl oder mehr mit dem Verstand urteilt. Wie der Psychologe Joel Lieberman von der University of Nevada 2002 mit 81 Laien zeigte, verurteilten sie attraktive Angeklagte nur dann zu einer niedrigeren Schadenersatzsumme (im Schnitt rund 700 000 Dollar im Vergleich zu mehr als 1,2 Millionen Dollar bei einem unattraktiven Angeklagten), wenn die Versuchsmaterialien teils in emotionalisierender Sprache verfasst waren. Hingegen hatte Attraktivität keinen Effekt auf die Schadenersatzsumme, wenn die Instruktionen eher rational formuliert waren.

Es gibt noch viele weitere Aspekte, die Richter Studien zufolge bewusst oder unbewusst in ihre Entscheidung einbeziehen. Dazu zählen zum Beispiel der soziale Status des mutmaßlichen Täters, seine sprachlichen Fertigkeiten, seine Gestik sowie wahrgenommene Ähnlichkeiten zwischen Richter und Angeklagtem. Auch Sympathie oder Antipathie, die sich im Verlauf des Prozesses entwicklen, können das abschließende juristi­sche Urteil beeinflussen.

Natürlich spielen darüber hinaus die Per­sönlichkeit und die Wertvorstellungen der Richter bei ihrer Urteilsfindung eine Rolle, wie sich auch in der Begründung des Strafmaßes ersehen lässt. Die Psychologin Margit E. Oswald von der Schweizer Universität Bern unterscheidet hier eine täter- und eine gesellschaftsorientierte Grundhaltung. Ers­tere liegt vor, wenn ein Richter mit dem Urteil vornehmlich auf die Person des Täters zielt, also um ihn zu erziehen oder abzuschrecken. Eine gesellschaftsorientierte Haltung bezieht auch die Opfer, ihre Angehörigen sowie die Konsequenzen für die Gesellschaft in das Urteil mit ein. Das wirkt sich auf die Höhe der Strafe aus, wie Oswald 1994 feststellte. Bei den von ihr untersuchten Fällen von Diebstahl war die jeweilige Grundhaltung maßgeblich für die Strafhöhe: ­Je stärker die Gesellschaftsorientierung, also der Fokus auf Opfer und Gesellschaft, desto härter die Strafe.

Eine Vielzahl psychologischer Einflüsse auf die Entscheidungsfindung gefährdet also das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz. Wie können sich Richter besser vor derartigen Einflüssen schützen?

Der erste Schritt ist das Wissen um die eigene Beeinflussbarkeit. Der urteilende Richter sollte sich der Verzerrung nicht nur bewusst sein, sondern auch ihre Richtung und ihr Ausmaß kennen. Zudem muss er überhaupt daran interessiert sein, ein unverzerrtes Urteil zu fällen. Und nicht zuletzt sollte er selbst aktiv werden. Nehmen wir beispielsweise den Ankereffekt: Allein das Wissen darum hebt ihn nicht auf, und auch juristisches Fachwissen hilft nicht dabei, ihn zu umgehen. Einen zweiten Anker zu setzen, brächte ebenfalls nicht viel, schließlich wäre dessen Wirkung schon vom ersten Anker beeinflusst.

Das Gegenteil in Erwägung ziehen

Dennoch lässt sich die verzerrte Informationsverarbeitung ausgleichen. Die Richter müssen zu diesem Zweck selbst Informationen generieren, die einem vorliegenden Anker widersprechen. Das ist deshalb vorteilhaft, weil eigenständig generierte Informationen gedanklich besonders tief verarbeitet werden. Es reicht also nicht aus, wenn die Verteidigung während der Verhandlung mögliche Gegenargumente zur Position der Staatsanwaltschaft präsentiert, sondern der Richter selbst muss sie erarbeiten, wenn er dem Ankereffekt entgegenwirken will. Diese aufwändige Strategie wird in der Fach­literatur als "considering the opposite" bezeichnet – zu Deutsch in etwa: das Gegenteil in Erwägung ziehen.

Grundsätzlich ist es außerdem wichtig, dass Richter bestehende Unsicherheiten im Prozess wahrnehmen und aushalten, ohne voreilige Schlussfolgerungen zu ziehen. Die psychologische Weiterbildung von Juristen sollte daher dabei helfen, diese Fähigkeit auf- und auszubauen, aber auch Wissen und Strategien im Umgang mit unerwünschten Einflüssen vermitteln. Bei allem Bemühen um Objektivität dürfen Richter andererseits nicht vergessen, dass sich ihr Urteil unter anderem durch eine individuelle Bewertung der Fakten auszeichnet. Denn diese subjekti­ve Komponente ist es letztlich, die richterli­ches Handeln kennzeichnet und seinen Wert aus­macht. Richterliche Urteile sind menschlich – und damit auch beeinflussbar.

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  • Quellen

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