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News: Verzerrte Blicke

Wer kennt sie nicht, diese Spezialspiegel auf dem Jahrmarkt? Plötzlich sieht man sich als unförmige Birne oder lange Bohnenstange wieder, bis fast zur Unkenntlichkeit verzerrt. Aber der Trick funktioniert natürlich auch umgekehrt: Bestimmte Bilder, deren Inhalt sich beinahe nur erraten lässt, werden in passenden Spiegeln normal abgebildet. Diese so genannten Anamorphismen sind aus einem extremen Blickwinkel gemalt, der die perspektivischen Verhältnisse stark verändert. Und damit diese Technik nicht nur den Künstlern vorbehalten bleibt, haben kanadische Wissenschaftler jetzt ein Programm geschrieben, mit dem jeder seine Urlaubsphotos verzerren kann.
Nicht nur in der Kunst, selbst im alltäglichen Leben begegnet uns Anamorphosen en immer wieder. Zum Beispiel auf der Straße aufgezeichnete Hinweise sind so verzerrt, dass Autofahrer sie unter ihrem schrägen Blickwinkel als 'normale' Abbildung erkennen. Auch ins Kino haben anamorphotische Linsen längst Einzug gehalten und erfreuen uns auf Panoramaleinwänden mit überwältigenden Landschaftsaufnahmen.

Die Idee an sich aber ist sehr viel älter. Schon 1533 malte Hans Holbeins das Gemälde "Die Gesandten", eines der bekanntesten Beipiele für Anamorphismen. Auf dem Bild lehnen zwei gut gekleidete Persönlichkeiten an einer Art Pult, ungerührt sehen sie uns an. Zu ihren Füßen zeigt sich ein schwammiger Fleck, der nicht näher zu identifizieren ist und irgendwie fremd und fehl am Platze wirkt. Doch betrachtet man das Bild von der Seite, entpuppt sich dieser Fleck als Totenschädel – für Holbein ein Symbol der Eitelkeit. Die Maler der Rennaissance benutzten dieses Stilmittel vor allem, um gewisse Inhalte zu verschleiern – seien es nun zügellose Szenen, Geheimportraits oder Heiligenbilder.

Besonders beliebt war die Technik im 17. und 18. Jahrhundert. Anamorphotische Bilder mit den dazu passenden zylindrischen Spiegeln im Zentrum schmückten Tische und Kommoden, Anamorphismen flossen ein in die Gestaltung von Städten und Gärten. Je mehr jedoch über die Technik bekannt wurde, desto stärker ging die Faszination der Betrachter zurück, und die Gemälde und Bilder verloren ihren Reiz.

Nun jedoch erleben sie vielleicht eine Renaissance. Schon seit er vor 25 Jahren von einer Wanderausstellung mit anamorphotischen Bildern gelesen hatte, spielte James Hunt, Wissenschaftler an der University of Guelph in Ontaria, mit dem Gedanken, mit dem Computer anamorphotische Bilder zu generieren. Und nun als Rentner konnte er seine Idee endlich in die Tat umsetzen.

Wie Hunt erfreut feststellte, hat ihm Jean-Francois Niceron, ein Künstler des 17. Jahrhunderts, die Hauptarbeit bereits abgenommen. Bis ins kleinste hat dieser in einem Buch die mathematischen Gesetzmäßigkeiten der Stilform beschrieben. Zwar hatte er dafür geometrische Abbildungen benutzt, doch diese in algebraische Formeln umzuschreiben, war nach Aussage von Hunt und seinem Kollegen Bernie Nickel nun wirklich keine besonders schwierige Aufgabe – bisher hatte sich nur noch niemand darum gekümmert (American Journal of Physics vom März 2000).

Mit den Formeln kann sich nun jeder Amateur-Programmierer Anamorphosen seiner eigenen Urlaubsbilder herstellen. Und wer Programmieren nicht zu seinen Hobbies zählt, kann seine Bilder auch an das Wissenschaftler-Team einsenden und sie gegen ein geringes Entgelt umwandeln lassen (Informationen auf ihrer Website). Hunt und Nickel geht es dabei nicht um das große Geld: "Unser Anreiz dafür ist, dass andere Leute damit denselben Spaß haben sollen, den wir hatten."

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