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Wissenschaftliche Fakten in der Politik: Vom Labor in den Plenarsaal

Harte Tatsachen für alternativlose Entscheidungen? Die Rolle der Wissenschaft in der Politik ist umstritten. Das hat eine lange Tradition.
Totale aus dem Hintergrund auf den Bundestag, während die Bundeskanzlerin eine Regierungserklärung abgibt.

Dass Wissenschaftler mit ihren Weltanschauungen nicht hinterm Berg halten, ist spätestens seit Galileo Galilei keine Seltenheit mehr. Auch im 19. Jahrhundert ist die akademische Aufsässigkeit weit verbreitet. "Der Naturforscher […] findet das Heil nur in der Demokratie", schreibt 1850 der Philosoph und Anthropologe Ludwig Feuerbach. Ein deutlicher Seitenhieb gegen die Obrigkeit, denn die Revolution 1848/49 ist gerade erst gescheitert.

Zeitgenosse Carl Vogt, ein Naturforscher, wird noch deutlicher: "Jedes belebte Atom lechzt nach Anarchie, strebt nach Freiheit, entwickelt sich nur im Lichte dieser Sonne zu höherer Vollendung!" Und wenn schon das Atom freiheitsliebend ist, dann gilt das wohl auch für den Menschen: "Der Fortschritt der Menschheit zum Besseren liegt nur in der Anarchie, und das Ziel ihres Strebens kann nur die Anarchie sein. Ja! die Anarchie!" Das Buch, aus dem dieses Zitat stammt, ist übrigens keine politikwissenschaftliche Arbeit, sondern erschien 1851 unter dem Titel "Untersuchungen über Thierstaaten".

Heute würde man Feuerbach und Vogt vermutlich als Politikberater bezeichnen. Das Wort war Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht erfunden. Aber schon damals rangen Wissenschaft und Politik um die Frage, wer wen belehren darf und welche Schlüsse aus neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ziehen seien. "In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Naturwissenschaften unglaublich wichtig im öffentlichen Raum", erklärt Claus Spenninger, Wissenschaftshistoriker an der Ludwig-Maximilians-Universität. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts seien die "Expertenkulturen" entstanden, die bis heute den medialen Diskurs prägen. "Vor allem Forscher aus den noch jungen Naturwissenschaften errangen gesellschaftliches Ansehen und hohe Glaubwürdigkeit." Sie wurden gehört, ihre populärwissenschaftlichen Bücher – oft voller gesellschaftspolitischer Forderungen – waren Bestseller.

Entscheiden muss die Politik

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts genießen Wissenschaftler immer noch hohes Ansehen; in Sonntagsreden betont die Politik gerne die Bedeutung von Forschung und Innovation für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Aber fragt sie die Wissenschaft bei politischen Entscheidungen auch um Rat – oder dringen andere Akteure mit ihren Botschaften besser durch? Laut einer repräsentativen Umfrage des Wissenschaftsbarometers 2016 ist über die Hälfte der Bevölkerung der Meinung, der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik sei zu gering. Doch womit kann die Wissenschaft der Politik überhaupt dienlich sein? Etwa mit den Fakten, von denen neuerdings ständig die Rede ist?

Nachfrage bei einer Institution, die den Kontakt zur Politik intensiv pflegt. Die 1652 gegründete Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina ist eine der ältesten Wissenschaftsakademien der Welt. Mitglieder waren unter anderem: Marie Curie, Charles Darwin, Albert Einstein, Alexander von Humboldt und Max Planck. 2008 wurde die Leopoldina zur Nationalen Akademie der Wissenschaften ernannt, in dieser Funktion berät sie national und international die Politik. Wie muss man sich das konkret vorstellen? Leopoldina-Präsident Jörg Hacker erklärt: "Wissenschaft kann mit Hilfe von Gutachten und Stellungnahmen auf globale Trends aufmerksam machen."

Die Themen, zu denen die 1500 Mitglieder der Leopoldina sich äußern, sind vielfältig. Sie reichen von Energiewende bis demografischer Wandel, von Infektionskrankheiten bis zu Genomchirurgie. Das zentrale Stichwort sei Unabhängigkeit, sagt Hacker. "Wissenschaft sollte die Politik frei von wirtschaftlichen Interessen beraten." Außerdem dürfe sie sich nicht in die Rolle der Legislative drängen lassen. Wissenschaftler können Argumente liefern, Hypothesen überprüfen oder alternative Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. "Aber entscheiden muss letztlich die Politik."

Politiker haben heute viele Möglichkeiten, auf wissenschaftliche Expertise zurückzugreifen. Es gibt die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, die Abgeordnete mit Analysen und Gutachten versorgen. Wissenschaftler sitzen in Expertenkommissionen und Beratungsgremien. Sowohl die Bundesregierung als auch die Landesregierungen können solchen Runden initiieren. Darüber hinaus haben sich etliche wissenschaftliche Einrichtungen und gemeinnützige Stiftungen auf Politikberatung spezialisiert.

Wichtig sei, sagt Hacker, dass die beratende Wissenschaft stets auch ihr Nichtwissen, ihre Unsicherheiten mit kommuniziere. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind keine unfehlbaren Welterklärer, die auf Kommando absolute Wahrheiten raushauen können. "Wir versuchen verlässliches Wissen zu generieren. Aber es gibt viele Fachgebiete, die sich laufend weiterentwickeln." Dann kann Wissenschaft den aktuellen Stand der Forschung darlegen – und darauf verweisen, dass ständig neue Forschungsfragen entstehen und bearbeitet werden. "Wissen verdoppelt sich sehr schnell."

Nichtwissen und Unsicherheit

Auch Irrtümer sind nie auszuschließen. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll davon. So glaubte man zu Beginn des 20. Jahrhundert auf Grund neuester Hirnforschungen beweisen zu können, dass Frauen weniger intelligent seien als Männer und daher zum Studieren nicht geeignet.

Auch andere ideologisch motivierte Fehlinterpretationen hat die Hirnforschung hervorgebracht. Nicht selten wurden sie politisch instrumentalisiert und dienten als Argumente für Rassismus und Sexismus. Ein weiteres berühmtes Beispiel für die verheerende politische Instrumentalisierung ist der Darwinismus. "Er wurde als Legitimationsquelle für alles Mögliche herangezogen", sagt Historiker Spenninger. "Auf der einen Seite gab es Leute, die bedienten sich bei Darwin, um den Sozialismus wissenschaftlich zu begründen. Auf der anderen Seite diente die Theorie des Sozialdarwinismus als Legitimierung völkischer und rassistischer Positionen." Der berühmte britische Evolutionstheoretiker konnte sich da längst nicht mehr wehren, er starb 1882.

Banner des Science March

Noch immer können Fachleute ungewollt zu Steigbügelhaltern bestimmter politischer Strömungen werden, indem ihre Erkenntnisse verkürzt, uminterpretiert oder unzulässig zugespitzt werden. In Zeiten von Fake News und gefühlten Wahrheiten sind außerdem neue Schwierigkeiten hinzugekommen. Aus Sicht des österreichischen Politologen Reinhard Heinisch, der an der Universität Salzburg lehrt und selbst als Politikberater arbeitet, befindet sich die Wissenschaft schon seit Längerem in einer Glaubwürdigkeitskrise.

Nicht nur öffentlichen Institutionen schlage die Skepsis der Bevölkerung entgegen, sondern auch den Wissenschaftlern – selbst wenn deren Forschungsergebnisse umfassend über Peer Review abgesichert seien. "Die Existenz von Fakten wird von der Öffentlichkeit mehr und mehr in Frage gestellt." Sehr deutlich träte das beim kontrovers diskutierten Thema Impfen zu Tage. "Aber auch bei der globalen Erwärmung oder im Bereich Armutsbekämpfung werden wissenschaftliche Erkenntnisse in Abrede gestellt." Für Heinisch gipfelte das neue, wissenschaftsfeindliche Lebensgefühl in der Äußerung des britischen Konservativen und Ex-Justizministers Michael Gove. Dieser hatte, als Journalisten ihn 2016 nach fundierten wirtschaftswissenschaftlichen Pro-Brexit-Argumenten fragten, geantwortet: "People in this country have had enough of experts."

Das Maß aller Dinge

Wurde die Expertenkultur womöglich wirklich überstrapaziert? Hat sich die Politik zu oft hinter der Faktenlage verschanzt, um ihre Entscheidungen als "alternativlos" darstellen zu können? Für Heinisch liegen die Ursachen tiefer. "Der Westen hat einen Demokratiebegriff entwickelt, in der das Individuum zur zentralen moralischen Instanz wurde." Früher hätten Gott, die Kirche, der Staat und ja, auch die Wissenschaft über dem Individuum gestanden. "Heute ist der Einzelne das Maß aller Dinge." Und dieser machtvolle Einzelne höre am liebsten auf seinen Bauch.

Erschwerend komme hinzu, dass wissenschaftliche Methoden großen Teilen der Bevölkerung Rätsel aufgeben. Mediale Zerrbilder zeigen immer noch gerne den verstrubbelten, zerstreuten Forscher im weißen Laborkittel und vor dampfenden Reagenzgläsern. "Wissenschaft ist zu einem mystifizierten Prozess geworden, an dessen Ende irgendwelche Ergebnisse vorliegen." So sei das Misstrauen gewachsen: Steckt vielleicht doch die Industrie dahinter? Wurden die Forscher gekauft, die Fakten frisiert, die Öffentlichkeit bewusst getäuscht? Gegen die grassierenden Verschwörungstheorien helfe nur, die Arbeitsweise der Wissenschaft noch offensiver darzulegen, meint der Politologe. "Der Anspruch der Wissenschaft basiert auf einer Methodik, die auf Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit angelegt ist." Sprich: Wenn andere dieselbe Methode anwenden, kommen sie zu denselben Ergebnissen.

Für Heinisch ist es daher keine Frage: Wissenschaft und Politik müssen weiter in engem Austausch bleiben, trotz aller vergangenen und aktuellen Verständigungsprobleme. Denn: "Wir sind kognitiv begrenzte Wesen und laufen permanent Gefahr, dem kollektiven Irrtum zu verfallen." Es braucht Menschen, die sich gegen populistisches Bauchgefühl und ignoranten Zeitgeist stellen. Wissenschaftler sind dafür prädestiniert: "Wissenschaft ist immer noch die wichtigste, global akzeptierteste Form, wie wir zu Erkenntnissen kommen." Und wenn Erkenntnisse vorliegen, "dann können wir darüber diskutieren, wie wir politisch mit ihnen umgehen wollen".

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