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Stadtsoziologie: Warum jede Stadt anders tickt

Von Darmstadt bis Dortmund besitzt jede Stadt ihre »Eigenlogik«. Sie erklärt, warum der eine sich dort wohlfühlt - und ein anderer sofort die Flucht ergreift.
Gendarmenmarkt Berlin

Haben Sie sich schon einmal in einer Stadt unwohl gefühlt, als würde sie nicht zu ihnen passen? Straßen scheinen zu eng oder viel zu weit, das Leben zu hektisch oder enervierend langsam. Dann kann es sein, dass sie tatsächlich in einer für Sie falschen Stadt leben, weil deren »Eigenlogik« nicht zu Ihrer Persönlichkeit passt. In den vergangenen fünf Jahren gingen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen unter anderem in einem Forschungsschwerpunkt des Landes Hessen diesem Phänomen nach. Sie wollten verstehen, wie Städte verschiedene »Eigenlogiken« entwickeln und auf welche Weise sie das Leben ihrer Bewohner beeinflussen. Die Ergebnisse finden sich unter anderem im 2014 erschienenen Sammelband »Städte unterscheiden lernen«.

Zum Beispiel analysierten Sozialwissenschaftler der Technischen Universität Darmstadt sieben öffentliche Diskussionen zum Thema »typisch Darmstadt«. Sie legten eine »Gefühlsstruktur« offen, darunter verstehen sie eine etablierte Kultur des Fühlens, die sich in Darmstadt in einem Streben nach Harmonie, Ordnung und Entschleunigung äußert. Laut dieser Untersuchung herrscht ein soziales Klima, in dem die Bewohner recht zufrieden mit ihrer Stadt sind. Darmstadt wird als ruhig und zuverlässig erfahren. Routinen werden in der Stadt geschätzt, weil sie Vertrautes vermitteln. Konflikte würden möglichst vermieden, ansonsten in einem langen Kommunikationsprozess Kompromisslösungen ausgehandelt. Als Mensch, könnte man sagen, wäre Darmstadt demnach wohl ein Phlegmatiker, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt.

Die Studie zeigte auch, dass diese Gefühlsstruktur von wechselnden Personengruppen immer wieder hergestellt wird und offensichtlich auf alle Bewohner einwirkt. Das bedeutet keineswegs, dass jeder Darmstädter entschleunigt agiert. Sondern dass sich alle, die sich dort wohlfühlen möchten, mit dieser Kultur auseinandersetzen müssen. Manchen macht solche Ruhe nervös, andere genießen sie. Die Stadt bietet einen Rahmen, der spezifische Handlungen und Interpretationen nahelegt.

Soziologen und Philosophen, Politik- und Literaturwissenschaftler untersuchten unter anderem in Frankfurt am Main und Dortmund, wie Menschen ihrem Handeln Bedeutung zuweisen und wie sich Gewohnheiten des Denkens und Handelns verfestigen. Sie wählten dazu Großstädte aus, die in Dichte, Größe und Heterogenität vergleichbar sind und in ihrer Region die größte Agglomeration darstellen. Auch hier ergaben die kürzlich veröffentlichten Studien unterschiedliche Eigentempi, wie die Praktiken einer Berufsgruppe beispielhaft zeigen: die Frisöre.

Was man beim Frisör erfährt

Die Sozialforscherin Nina Baur von der Technischen Universität Berlin befragte in Kooperation mit dem Darmstädter Team Vertreter dieser Berufsgruppe. Ihr Ergebnis: In Frankfurt am Main beschrieben die Frisöre ihre Arbeit als schnell und straff getaktet. Das passt zu einem gängigen Image dieser Metropole – schneller zu sein als andere, ist ein wichtiges Ziel. Eine genaue Terminkalkulation bedeutet für die Kunden kurze Wartezeiten von selten mehr als fünf Minuten. Außerdem öffnen die Salons lang, entsprechend der Ansprüche ihrer Kundschaft.

Die Hauptwache in Frankfurt | »In Dortmund-Krimis taucht der Name der Stadt pro Million Wörter 108-mal auf, bei Frankfurt dagegen gleich 285-mal.«

In Dortmund ist ein Termin nicht immer erforderlich, Arbeitsprozesse sind im Vergleich zu den anderen Untersuchungsstädten weniger durchgeplant, dafür lässt sich flexibel reagieren, wenn ein Kunde zu spät kommt. Die Salons öffnen zwar früher als in Frankfurt, schließen aber auch früh wieder, und mancher Frisör greift gar nur an vier oder weniger Tagen zur Schere – insgesamt scheint die Marktorientierung dort also schwächer ausgeprägt zu sein als in den Vergleichsstädten.

Frankfurter Frisöre beschreiben sich zwar nicht als innovative Trendsucher, legen aber dennoch Wert darauf, sich andauernd zu verändern und vom Markt abzuheben – beides ist für sie offenbar ein wichtiger Bestandteil des Berufsalltags.

In Dortmund glaubt man an Konstanz, an das Überleben im Zyklus wirtschaftlicher Auf- und Abschwünge. Mit durchschnittlich 24 Jahren existieren Dortmunder Frisörgeschäfte tatsächlich länger als anderswo. Das liegt aber auch daran, dass – und häufiger als in anderen Städten – bei einem Besitzerwechsel das Konzept, Inventar und sogar Name beibehalten werden. Viele Einrichtungen verweisen mit Bildern und Texten auf vergangene Zeiten; die Tradition des Unternehmens, des Stadtviertels und der Stadt prägen den Alltag. Gleichwohl scheinen Dortmunder Frisöre offen für Zukunftsinvestitionen zu sein. Einen Kredit aufzunehmen, um den Salon zu verändern, erscheint ihnen nicht abwegig.

Insgesamt ist der Alltag dieses Berufsstands in den beiden Großstädten offenbar von sehr unterschiedlichen Bedingungen geprägt: Die Zeitorganisation in typischen Frankfurter Betrieben basiert auf Zukunftsplanung und Beschleunigung; eine hohe Marktorientierung geht mit hoher Planungsorientierung einher. Die Zeitorganisation ihrer Dortmunder Kollegen hingegen basiert auf Beständigkeit und Entschleunigung; man orientiert sich an Konventionen, erlaubt aber auch Flexibilität innerhalb der gesetzten Regeln. So berufsgruppenspezifisch diese Beobachtungen zunächst sein mögen, entsprechen sie doch zumindest für Frankfurt dem Bild, das Zeitungsberichte und Literatur zeichnen.

Hier schließen die Forschungsprojekte der Frankfurter Anglistin Julika Griem und der Darmstädter Philosophin Petra Gehring an. Insbesondere Griem und ihr Team forschten in Kriminalromanen zu Frankfurt, Dortmund, Glasgow und Birmingham nach typischen Erzählmustern. Beim Vergleich der beiden deutschen Städte fielen zunächst statistische Unterschiede auf: In Dortmund-Krimis taucht der Name der Stadt pro Million Wörter 108-mal auf, bei Frankfurt dagegen gleich 285-mal. Namen stiften Sinn: Jemand oder etwas wird beim Namen genannt. Gehring und ihre Kollegen haben die Häufigkeit und Relevanz der Stadtnamen auch für Zeitungen ausgewertet. Ihr Fazit: »Dortmund« fällt eher selten, »Frankfurt« dagegen häufiger.

Kumpel oder Bürger?

Möglicherweise zeigen diese Zahlen, wie aktiv und intensiv die Einwohner sich dem jeweiligen Ort zuwenden. Die Stadt wird zum Subjekt; sie bleibt nicht nur ein Kontext der Lebensbedingungen. Hierzu passt auch, dass die Bewohner Frankfurts in politischen Reden, in Zeitungsartikeln und offiziellen Dokumenten gern als »Bürger und Bürgerinnen« bezeichnet werden, wie der Heidelberger Politikwissenschaftler Marlon Barbehön nachwies. In Dortmund tauchen diese Anrede oder auch Begriffe wie »Stadtgesellschaft« eher selten auf. Frankfurt versteht sich demnach als bürgerliche, das heißt von den Einwohnern gestaltbare Stadt. Dortmund ist viel deutlicher die Stadt, die nun von den Kindern der »Kumpel«, sprich von den Nachfahren der Arbeiter in der Kohleförderung und in der Stahlverarbeitung geprägt wird. Die Identifikation über Fußball ist dort viel naheliegender als über Bürgerschaft.

Russische Kapelle auf der Darmstädter Mathildenhöhe | »... eine ›Gefühlsstruktur‹, die sich in Darmstadt in einem Streben nach Harmonie, Ordnung und Entschleunigung äußert.«

Damit einher geht ein unterschiedlicher Umgang mit Problemen. Der Darmstädter Philosoph Andreas Großmann beobachtete beispielsweise durch Auswertung von Zeitungsberichten und Interviews mit Einwohnern und Verantwortlichen, dass man Probleme in Frankfurt häufig als Beweis der Handlungsfähigkeit umdeutet, beispielsweise Staus und Behinderungen als Indiz dafür wertet, dass die Stadt ein beliebter Wirtschaftsstandort ist, in den deshalb auch viele Menschen einpendeln. Dortmund hingegen setzt den Fokus stärker auf die Beschränkungen der Handlungsmöglichkeiten. Es dominiere die Anschauung, dass man angesichts der schwierigen Lage nichts tun könne, dass diese Schwierigkeiten seit langer Zeit und für lange Zeit existieren, schnelles Handeln unrealistisch und wenig effektiv sei. Andererseits entsteht dort aber auch ein starkes Wir-Gefühl, das sich in der Einigung auf gemeinsame Regeln und gemeinsames Schicksal ebenso manifestiert wie beim Erleben »eigenen« Mannschaft im Fußballstadion.

Menschen identifizieren sich mit ihren Wohnorten, sofern diese nicht einer ihnen fremden Eigenlogik folgen. Zusammenfassend kann man sagen: Dortmund bettet seine Einwohner eher in eine Gemeinschaft ein als Frankfurt, gibt ihnen aber andererseits weniger Anlass, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Die Mainmetropole lehrt ihre Bürger effizientes Handeln und selbstbewusstes Auftreten, ein Wir-Gefühl ist dort aber nicht so selbstverständlich, sondern muss immer wieder beschworen werden. Der Darmstädter Soziologe Helmuth Berking und seine Kollegin Sybille Frank von der Technischen Universität Berlin fragten Einwohner, mit welchen Menschentypen sie ihre Orte vergleichen würden. Frankfurt wäre demnach eine Diva, die gern im Rampenlicht steht und Charisma ausstrahlt. Dortmund dagegen ist männlich-authentisch, eher schnörkellos, aber warmherzig.

Verkehr vor dem Berliner Dom | Fahrstunden für Berliner Neubürger: »Nutzung des ÖPNV als großstädtisches Normalverhalten, Ignoranz der Verkehrsteilnehmer als Basishaltung.«

Was treibt (Neu-)Berliner um?

Was tun, wenn man beispielsweise aus beruflichen Gründen in eine fremde Stadt zieht? Wie erfährt man deren Eigenlogik? Brenda Strohmaier, Publizistin und Soziologin, hat dies am Beispiel Berlin untersucht. Sie wählt damit den in Deutschland schwierigsten Fall: die größte Metropole, zudem mit Teilungsgeschichte und im steten Wandel begriffen.

Zunächst galt es, Strukturen zu identifizieren, die für das Handeln der Berliner typisch sind. Darüber hat Strohmaier verschiedene gesellschaftliche Gruppen diskutieren lassen: wohlhabende Senioren, arbeitslose Plattenbaubewohner, angehende Frisörinnen mit türkisch-kulturellem Hintergrund, Mitglieder eines Freizeittreffs für Menschen über fünfzig, Taxifahrer, junge Schwule und ausländische Studierende. In den Gruppen mischten sich Alt- und Neuberliner. Als zentrales Thema kristallisierte sich stets schnell und unaufgefordert die Komplexität des Ankommens in der Metropole heraus. Für alle war offensichtlich, dass es gerade wegen der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten besonders wichtig sei zu lernen, was es heißt, Berliner zu sein. Was stellt beispielsweise ein Problem dar, wie löst man es, wie organisiert man seinen Alltag am besten?

Solche typischen Praktiken und damit verknüpfte Vorstellungen wollen in Berlin wie andernorts erlernt werden. Strohmaier gliederte anhand der Diskussionsanalysen den »Lernstoff« für Neuankömmlinge in Kategorien: »Erdkunde« – Bewältigung der Größe, Denken in Kiezen, Bewertung dieser Stadtteile; »Fahrstunden« – Nutzung des ÖPNV als großstädtisches Normalverhalten, Ignoranz der Verkehrsteilnehmer als Basishaltung; »Sozialkunde«, insbesondere der Umgang mit Ruppigkeit und schnellen Wortwechseln; »Religion« – der missionarische Eifer, jedermann darüber aufzuklären, wie Berlin ist; »Leibesübungen« – wie man sich in Berlin kleidet, geht, sitzt, steht; »Geschichte und Politik« – Erzählungen über Berlins Geschichte und Berliner Dynamik.

»ÖPNV«, »Hunde« und »Berliner Schnauze«

Aus soziologischer Sicht ist die Wirklichkeit, also das, woran wir glauben und wonach wir handeln, eine soziale Konstruktion, die hergestellt und erlernt werden muss. Welche Themen dabei für Berlin relevant und damit diskutierwürdig seien, darüber herrschte Übereinstimmung in und zwischen den Gruppen. So wurden beispielsweise »ÖPNV«, »Hunde« oder die »Berliner Schnauze« immer wieder aufgegriffen, um sich der Berliner Wirklichkeit zu vergewissern. Strohmaier deutet solche stabilen Erzählstrukturen und Motive als Indiz bewältigter Integration.

Um in einer Stadt anzukommen – das heißt, sich in ihre Eigenlogik einzufügen –, genügt es offenbar nicht, sich typische Perspektiven und Handlungsmuster anzueignen. Sondern es gilt auch Problemwahrnehmungen zu teilen, etwa ob Staus ein Zeichen für wirtschaftlichen Erfolg sind oder für schlechte Verkehrsplanung. Das zeigt, wie viel Mühe es macht, die Regeln und Routinen einer Stadt zu erlernen. Was nicht bedeutet, gewohnte Pfade gänzlich aufzugeben, wie zahlreiche Migranten in Berlin, Dortmund oder Frankfurt beweisen: Sie unterscheiden sich in ihren Gewohnheiten je nach Herkunft, und teilen doch die Eigenlogik ihrer Stadt.

Wissenschaftler und Planer haben eine sehr klare Vorstellung davon, was in urbanen Zentren künftig besser werden soll: weniger Staus, Lärm und Abgase etwa dank Carsharing, Elektromobilität und vernetzte Roboterautos; nachhaltige Produktion von Lebensmitteln durch »urban farming«; Verdichtung der Innenstädte bei gleichzeitiger Erhaltung der Grünanlagen; digitale Netze für mehr Bürgerbeteiligung und vieles mehr. Schon jetzt ist deutlich, dass die Städte je nach ihrer Eigenlogik auf diese Maßnahmen sehr unterschiedlich reagieren werden. Innovationsfreudiger die einen, bedenkenschwerer die anderen. Zukunftsprojekte werden sich nur durchsetzen lassen, wenn die Kulturen der Städte berücksichtigt werden – was voraussetzt, dass die Planer sie kennen.

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