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Dyslexie: Was verbirgt sich hinter der Lesestörung?

Fast jedes zehnte Kind leidet an einer Lesestörung, einer Unterform der Lese- und Rechtschreibstörung. Bis vor wenigen Jahren noch glaubten viele, dass vor allem schlechte Bildung und mangelnde Unterstützung schuld an der Störung, auch Dyslexie genannt, seien. Neuere Studien jedoch lassen eine biologische Ursache vermuten. Deutlicher gesagt: Der Grund für die Erkrankung liegt wahrscheinlich in den Genen. Silvia Paracchini von der University of St Andrews in Schottland erforscht die biologische Grundlage der Lesestörung.
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Frau Dr. Paracchini, was genau erforschen Sie als Genetikerin im Bereich der Dyslexie?

Mich interessiert vor allem, wie die Entwicklung des Nervensystems genetisch geregelt ist – ganz besonders, wie Dyslexie entsteht. Mit unserem Forschungsprogramm wollen wir die Gene, die eine Dyslexie verursachen können, kartieren.

Was versteht man unter Dyslexie?

Betroffenen fällt das Lesenlernen besonders schwer. Bei ihnen lassen sich diese Schwierigkeiten aber nicht mit Dingen wie mangelnder Unterstützung oder einer unabhängigen neurologischen Erkrankung erklären. Viele der Kinder mit Dyslexie haben zum Beispiel einen ganz normalen IQ, können aber nur mit viel Mühe überhaupt irgendetwas lesen.

Betrifft Dyslexie nur das Lesen?

Unter Dyslexie versteht man vor allem Lesestörungen, aber die Erkrankung ist bei jedem anders ausgeprägt. Es gibt sehr harmlose Fälle, aber auch Beispiele von schweren Störungen. Bei vielen Betroffenen geht die Lesestörung mit anderen Problemen einher wie ADHS oder einer Schreibstörung, auch Dysgrafie genannt. (Anm. d. Red.: Im Englischen wird zwischen einer Lese- und einer Schreibstörung unterschieden. Die deutsche Sprache differenziert hier weniger genau und fasst beides unter dem bekannten Sammelbegriff Legasthenie zusammen.)

Sie sagten, Sie kartieren Gene, die zur Dyslexie beitragen. In den meisten Fällen werden Gene vor allem mit Hilfe von Knockout-Mäusen untersucht, also Tieren, bei denen bestimmte Gene ausgeschaltet wurden, um zu testen, wie sich diese auswirken. Das aber dürfte bei Dyslexie schwierig sein.

Ja, das wäre in der Tat schwierig. Wir haben deshalb einen etwas anderen Ansatz: Wir haben zusammen mit einem Team von Ärzten zunächst viele Kinder für unsere Studie rekrutiert. Gemeinsam haben wir die Kinder verschiedene kognitive Tests machen lassen, die ihre Lesefähigkeiten auf verschiedene Weise messen. Anschließend haben wir sie einem genetischen Screening unterzogen und nach Veränderungen gesucht, von denen bekannt war, dass sie für ein schlechteres Abschneiden in einigen dieser Tests verantwortlich sind.

Diese Veränderungen wiederum können uns dann zu bestimmten Genen leiten. Das ist der Moment, wenn es für mich erst richtig interessant wird, denn dann beginnen wir, Genfunktionen zu untersuchen. Sobald wir diese besonders anfälligen Gene identifiziert haben, können wir auch anfangen, ihre Funktion in Mausmodellen zu testen. Das machen einige meiner Kooperationspartner.

Bringen Sie Mäusen dann das Lesen bei?

Nein, nein (lacht), die Kollegen versuchen nicht, Mäusen das Lesen beizubringen. Sie versuchen eher zu verstehen, wie diese Gene die Entwicklung des Nervensystems der Mäuse beeinflussen. Daraus lässt sich zum Beispiel ablesen, welchen Einfluss sie auf die Gehirnentwicklung bei Gesunden haben. In meinem Labor treten wir einen Schritt zurück: Wir modellieren die Genfunktion erst einmal in Nervenzellen, um herauszufinden, welche Prozesse diese spezifischen Gene in den Zellen beeinflussen. Das heißt, wir schalten die Gene in Zebrafischen aus. Natürlich erwarten wir auch bei den Zebrafischen nicht, dass sie lesen lernen können. Aber so können wir hoffentlich herausfinden, in welchen Entwicklungsphasen diese Gene aktiv sind. Kooperationspartner von uns gehen sogar noch weiter: Sie versuchen Gene zu identifizieren, die eine Rolle für mathematische Fähigkeiten spielen. Dafür werden sie Zebrafische im Zählen trainieren. Im Moment steht das Projekt allerdings noch ganz am Anfang.

Nehmen wir mal an, Sie haben nun Gene gefunden, die etwas mit der Dyslexie zu tun haben. Woher wissen Sie, dass Sie richtigliegen und die Gene nicht nur zufällig bei den Patienten verändert waren?

Genanalysen basieren auf statistischen Assoziationen. Nur sehr selten finden wir genetische Veränderungen, die die Genfunktion direkt unterbrechen. Meistens liegen genetische Veränderungen eher in der Nähe von anderen Genen in der DNA und regulieren die Übersetzung dieser anderen Gene. Das ist ein bisschen wie ein feiner Abstimmungsprozess. Wir können uns nur sicher sein, dass wir nicht zufällig Artefakte gefunden haben, wenn wir unsere Ergebnisse in großen, unabhängigen Proben überprüfen. Das heißt, wir machen die gleiche Analyse noch mal bei einer neuen Kohorte von Menschen mit Dyslexie. Diese Menschen müssen aber den gleichen Phänotyp haben wie die ursprünglich getesteten Patienten.

Suchen Sie dann in einer Gruppe von gesunden Leuten nach den gleichen Mustern, um Ihre Ergebnisse zu bestätigen?

Interessant, dass Sie das fragen. In einem Teil meiner Forschung suche ich wirklich nach Zusammenhängen auf Bevölkerungsniveau. Ich will wissen, was in der allgemeinen Bevölkerung passiert, wenn jemand diese genetische Veränderung hat. Tatsächlich konnten wir bereits bestätigen, dass die genetischen Veränderungen, die wir mit Dyslexie in Verbindung bringen, die Lesefähigkeiten der Allgemeinheit ebenfalls beeinflussen. Wir haben dafür 7000 Menschen untersucht und herausgefunden, dass Personen mit Lesefähigkeiten, die noch im normalen Bereich liegen, die gleichen genetischen Veränderungen aufweisen können wie die Patienten mit Dyslexie. Diese Leute sind zwar nicht dyslexisch, haben aber generell niedrigere Punktezahlen bei Lesetests.

Wie können Ihre Ergebnisse in der Medizin angewendet werden?

Wir machen vor allem Grundlagenforschung. Sie lässt sich nicht direkt in der Medizin anwenden. Wir können zum Beispiel nicht gleich neue Zielstrukturen für Medikamente liefern. Unsere Arbeit hilft aber, die Gehirnentwicklung besser zu verstehen und die Mechanismen zu begreifen, die diese Prozesse beeinflussen. Insgesamt arbeiten wir eher langfristig: Wir müssen erst einmal verstehen, wie sich das Gehirn entwickelt und welche Fehler dabei Dyslexie entstehen lassen. Dann können wir anderes angehen. Wir liefern Ärzten immerhin wertvolle Informationen, die sie wiederum für neue Therapieansätze verwenden können.

Es gab in den letzten Jahren auch mehrere Studien, die eine Verbindung zwischen Dyslexie und Handpräferenz aufzeigten. Kann man so etwas sagen wie: »Rechts- oder Linkshänder leiden eher an Dyslexie?«

Es gab in der Tat viele Studien, die nach Verbindungen zwischen Linkshändigkeit und psychiatrischen Erkrankungen gesucht haben – Dyslexie eingeschlossen. Das basiert auf der Erkenntnis, dass bei diesen Erkrankungen immer wieder untypische Hirnasymmetrien entdeckt wurden. Händigkeit korreliert zum Beispiel teilweise mit diesen Hirnasymmetrien. Es ist aber nicht einfach, daraus etwas abzulesen. Manche Studien sagen auch, man sollte Gemischthändigkeit als Faktor mit einbeziehen – also Menschen, die keine klare Handdominanz haben.

Zeigt sich Händigkeit auch in den Genen?

Bisher ist, soweit ich weiß, noch kein einziges Gen publiziert worden, das Händigkeit codiert. Für mich heißt das, dass es keine klaren genetischen Faktoren für eine Rechts- oder Linkshändigkeit gibt. Wir messen bei uns Händigkeit deshalb als Kontinuum – wir testen, wie stark bei jemandem die eine Hand über die andere dominiert.

Was haben Sie bisher herausgefunden?

Wir haben das allererste Gen gefunden, das mit Händigkeit in Verbindung gebracht werden kann. Interessanterweise ist es das gleiche Gen, das auch für die Entstehung der Rechts-links-Körpersymmetrie verantwortlich ist. Vielleicht eine kleine Erklärung dazu: Unser Körper sieht nur von außen symmetrisch aus. Unsere inneren Organe sind alle unsymmetrisch.

Warum spielt das bei Dyslexie eine Rolle?

Dieser Zusammenhang scheint nur bei Menschen mit Dyslexie zu bestehen – ich behaupte sogar, dass der gleiche Weg, der strukturelle sowie Hirnasymmetrien verursacht, auch für Ungleichmäßigkeiten wie Händigkeit relevant ist. Wir wissen bereits, dass Menschen mit Dyslexie untypische Hirnasymmetrien aufweisen. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass es eine Verbindung zwischen beiden Phänomenen gibt. Es reicht jedoch nicht, sich einfach nur die Anzahl an Linkshändern in einer Gruppe von Probanden anzuschauen. Ich glaube, es gibt eine Verbindung, aber wir müssen auf biologischem Niveau suchen – und es ist sehr wahrscheinlich sehr komplex. Händigkeit ist dabei für uns nur eine Möglichkeit, um in die Entwicklung von Hirnasymmetrien hineinzuschauen.

Also ist es wohl doch nicht einfach so, dass Händigkeit für Dyslexie verantwortlich ist?

Wir alle lieben einfache Ideen. Wenn es allerdings einfach wäre, hätten wir die Lösung schon längst gefunden. Je mehr wir das menschliche Genom und Gehirn erforschen, umso besser verstehen wir, dass alles sogar noch viel komplizierter ist, als wir bisher immer geglaubt haben.

Der Artikel erschien ursprünglich auf AcademiaNet.

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