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Sex: Wechselnde Umweltbedingungen begünstigen geschlechtliche Fortpflanzung

Rädertierchen Brachionus calyciflorus
Der evolutionäre Ursprung des Geschlechtsverkehrs ist nach wie vor ein Rätsel – wer sich ungeschlechtlich fortpflanzt, spart nicht nur den Aufwand der Paarung, sondern auch die für die Befruchtung nötigen unproduktiven Individuen. Weshalb sich bei vielen Arten eben doch zwei Individuen treffen müssen, um Nachwuchs zu produzieren, darüber gibt es zwar reichlich glaubhafte Hypothesen, allerdings nur wenige harte Daten, auf die sich diese Hypothesen stützen können. Bekannt ist, dass Sex evolutionäre Vorteile bringt, einen Organismus aber, der als Reaktion auf einen definierten Selektionsdruck Sexualität bevorzugt, konnten Forscher bislang nicht vorweisen.

Brachionus calyciflorus
Einen solchen Testfall für die Evolution der Zweigeschlechtlichkeit haben zwei Forscher der University of Toronto jetzt beim Rädertierchen Brachionus calyciflorus beschrieben. Diese millimetergroßen Vielzeller können sich sowohl sexuell als auch asexuell fortpflanzen und sind deswegen geeignete Modellorganismen für die Auswirkungen dieser Fortpflanzungsstrategien. Lutz Becks, der auch am Zoologischen Institut der Universität Köln arbeitet, und sein Kollege Aneil Argrawal konzipierten ein Experiment, um die Hypothese zu testen, dass Sexualität einen Vorteil in Lebensräumen mit räumlich unterschiedlichen Bedingungen bietet.

Dazu kombinierten sie Populationen von je etwa 10 000 Tieren paarweise zu drei Experimenten. Jedes einzelne Experiment bestand aus zwei Populationen, die mit einem definierten Nahrungstyp versorgt wurden. In den Kontrollversuchen erhielten die beiden Populationen das gleiche Futter, in einem Experiment Nahrung hoher Qualität, im anderen Nahrung niedriger Qualität. Da sich die Rädertierchen an spezifische Bedingungen anpassen, gediehen Tiere, die an einen Typ Nahrung gewöhnt waren, unter den jeweils anderen Bedingungen schlechter.

Im eigentlichen Versuch erhielt schließlich eine Kolonie die bessere, die andere Kolonie die schlechtere Nahrung. Die Forscher transferierten nun regelmäßig im Verlauf aller drei Experimente einen Teil der Tiere von einer Kolonie in die jeweils andere. In den beiden Kontrollversuchen ändert das nichts an den Umweltbedingungen, während im dritten Fall die Rädertierchen in unregelmäßigen Abständen zwischen guter und schlechter Nahrung wechselten.

Die Rädertierchen ändern ihren Fortpflanzungsmodus auch unter normalen Umständen als Reaktion auf die Umgebung, zum Beispiel bei hohen Populationsdichten. Deswegen hatte in allen drei Experimenten ein Teil der Rädertierchen Sex, allerdings keineswegs überall gleich viele: In den Kontrollexperimenten stammten etwa sieben Prozent des Nachwuchses aus geschlechtlicher Vereinigung. Bei den Rädertierchen, die unfreiwillig zwischen verschiedenen Bedingungen wechselten, war ihr Anteil mit 15 Prozent glatt doppelt so hoch. Neben der naheliegenden Erklärung, dass Sex unter wechselnden Bedingungen einen Vorteil bringt, ist auch die Interpretation möglich, dass der Anteil sexueller Vermehrung unter günstigen Laborbedingungen grundsätzlich abnimmt – nur eben langsamer unter wechselnden Bedingungen. Um zwischen diesen beiden Möglichkeiten zu unterscheiden, durchmischten die Forscher alle Populationen und führten das Experiment noch einmal auf die gleiche Weise durch. Dabei sank der Sex-Anteil unter gleichbleibenden Bedingungen im Lauf der Zeit wieder zum niedrigen Wert hin ab, während er unter wechselnden Bedingungen anstieg, ganz wie man es erwarten würde, wenn Sex in variablen Umgebungen einen Vorteil böte. (lf)

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  • Quellen
Becks, L., Agarwal, A.: Higher rates of sex evolve in spatially heterogeneous environments. In: Nature 10.1038/nature09449, 2010.

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