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Raumfahrt: Weltraumparkplätze der besonderen Art

Auch im All gibt es nicht genug Stellfläche. Die beiden Lagrange-Punkte werden für Weltraumobservatorien daher immer bedeutsamer.
Der Kurs von Planck zum Lagrange-Punkt L2

Was haben Raumsonden und Wanderer gemeinsam? Es ist ihr Ziel: Denn auch wenn sie sich in verschiedenen Umgebungen bewegen, so wollen sie doch ein bestimmtes Objekt aus einer besonderen Perspektive betrachten und dafür einen entsprechenden hoch gelegenen Aussichtspunkt finden.

Für Telekommunikations-, Wetter- und Fernsehsatelliten ist es eine Bahn in rund 36 000 Kilometer Höhe (genau: 35 768 km) über dem Äquator. Hier stehen sie sozusagen still, weil sie genau einen Tag für einen Umlauf brauchen. Deshalb wird dieser Platz zwischen Erde und Mond auch als geosynchrone oder geostationäre Kreisbahn bezeichnet. Die Idee einer solchen "Stillstandsbahn" stammt übrigens von dem britischen Physiker und vor allem Sciencefiction-Schriftsteller Arthur Charles Clarke (1917-2008). Inzwischen ist dieser Orbit quasi zugeparkt, und die großen Weltraumagenturen forschen intensiv nach Methoden, der steigenden Parkraumnot Herr zu werden.

Anders dagegen verhält es sich mit Orten, die unter der Bezeichnung Lagrange-Punkte immer stärker das Interesse von NASA, ESA und der Öffentlichkeit an sich ziehen – Letzteres vor allem, wenn spektakuläre Satellitenmissionen dorthin auf den Weg gebracht werden. Zuletzt war das im Dezember 2013 die Raumsonde Gaia. Dieses Weltraumobservatorium – ein 2030 Kilogramm schwerer Satellit, der rein äußerlich einem Zylinder mit überdimensionaler Goldkrempe ähnelt – soll in den nächsten fünf Jahren das gesamte Firmament äußerst genau im optischen Licht durchmustern und dabei die Position von rund einer Milliarde Sterne der 100 bis 200 Milliarden Sonnen unserer Milchstraße vermessen.

Das "Peace"-Zeichen | Die Lage der Lagrange-Punkte kann man sich mit dem bekannten "Peace"-Symbol gut erschließen. Die Form des Friedenssymbols selbst hat mit dem Sonnensystem übrigens nichts zu tun: Es stellt eine Kombination zweier Zeichen aus dem Winkeralphabet dar (N für "nuclear" und D für "disarmament" (Abrüstung).

Etwas Besonderes ist Gaia auch wegen des speziellen Orts, an dem der Satellit stationiert wurde: Es ist der Lagrange-Punkt 2 – einer von fünf dieser Punkte, die nach ihrem Entdecker, dem italienisch-französischen Mathematiker und Astronomen Joseph-Louis Lagrange (1736-1813) benannt sind (der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) gilt als Koentdecker, ging als Namensgeber aber leer aus).

Anders als Erde, Mond, Planeten und Sonne, die als Bezugspunkte eines Satellitenorbits deutlich zu sehen sind, handelt es sich bei den Lagrange-Punkten – auch Librationspunkte genannt (von lateinisch: librare für "schwanken" oder "im Gleichgewicht halten") – um unsichtbare Orte im All. "Es sind eigentlich keine Punkte, sondern Regionen", erklärt Michael Khan, Ingenieur beim ESA-Raumflugkontrollzentrum ESOC in Darmstadt. "Sie liegen alle in der Bahnebene von Sonne und Erde. Hier befinden sich 1, 2 und 3 auf der direkten Verbindungslinie, während 4 und 5 mit Sonne und Erde die Eckpunkte eines gleichseitigen Dreiecks bilden", beschreibt Khan die Position dieser Punkte im Raum. "Ihre gemeinsame Anordnung dort lässt sich am besten mit dem Zeichen der modernen Friedensbewegung vergleichen."

Beliebte Parkplätze für irdische Beobachter

Der Lagrange-Punkt L1 zwischen Erde und Sonne dient als "Basis" für die Sonnenbeobachtung. Seine Entfernung von uns in Richtung Zentralgestirn beträgt rund 1,5 Millionen Kilometer. Die erste Raumsonde, die hier stationiert wurde, war die von der NASA und ESA betriebene Raumsonde ISEE-3. Sie arbeitete von 1978 bis 1982 und diente außerdem zur Kometenforschung, weshalb sie später auch in ICE (International Cometary Explorer) umgetauft wurde. Ihr folgte 1995 das bis heute aktive Weltraumsonnenobservatorium SOHO. Ebenfalls bis heute in L1 aktiv ist der Advanced Composition Explorer (ACE). Aufgabe dieser NASA-Sonde ist die Erforschung von Partikeln aus allen möglichen Quellen des Universums. Ferner hatte die Raumsonde Genesis zu Erforschung des Sonnenwindes und Einfang seiner Partikel von 2001 bis 2004 hier ihren Platz.

Lagrange-Punkt L2 liegt auf derselben Verbindungslinie, allerdings hinter der Erde und auch wieder in 1,5 Millionen Kilometer Abstand. Er ist für jene Weltraumobservatorien hervorragend geeignet, die sich mit der Erforschung des Sternenhimmels beschäftigen. "Da hier Erde und Sonne in derselben Richtung stehen, kann das Satellitenweltraumteleskop, die Kameras in die Gegenrichtung gewandt, sozusagen mit dem Rücken, ungestört den halben Himmel betrachten, und das wenn nötig wochenlang. Im Verlauf eines Jahres kommt auf diese Weise das ganze Himmelsgewölbe ins Visier", erklärt Khan.

So untersuchte die US-amerikanische WMAP-Raumsonde von 2001 bis 2010 die kosmische Hintergrundstrahlung und verbesserte die vom NASA-Satelliten COBE von 1989 bis 1993 aus dem Erdorbit gewonnenen Ergebnisse entscheidend. Nicht weniger spektakuläre Daten lieferten die im September 2009 gestarteten Weltraumteleskope Herschel und Planck; und mit Spannung wird nun die Himmelsdurchmusterung von Gaia erwartet. Ab 2018 wird sie Gesellschaft vom James Webb Space Telescope, dem Nachfolger Hubbles, erhalten.

Schnelle und schräge Orte im Sonnensystem

Eine Raumsonde in der L2-Region befindet sich in Wirklichkeit in einer Bahn um die Sonne. Der Satellit ist etwas weiter von unserem Zentralgestirn entfernt als die Erde. Nach den keplerschen Gesetzen müsste demnach sein Umlauf dort länger dauern als unser Jahr. Und so würde ihr die Erde schnell davoneilen. "Aber an der Sonde zerrt nicht nur die Schwerkraft der Sonne, sondern auch die der viel kleineren und viel näheren Erde. Beide Kräfte wirken in dieselbe Richtung", führt Khan weiter aus. "Der Gesamteffekt ist für die Sonde so, als würde sie einen Stern mit etwas mehr Masse umkreisen als die der Sonne. Und somit beträgt die Umlaufperiode trotz des größeren Sonnenabstands immer noch genau ein Jahr, weshalb es zum Formationsflug mit der Erde kommt."

Plancks Kurs zum Lagrange-Punkt L2 | Der Kurs des Weltraumobservatoriums Planck zu seinem Arbeits- und Parkplatz, dem Lagrange-Punkt L2. Dieser ist 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt.

Der Lagrange-Punkt L3 liegt auf der Verbindungslinie Erde-Sonne von uns aus gesehen hinter der Sonne und wurde deshalb von Sciencefiction-Autoren als beliebter Platz für eine hypothetische "Gegenerde" genommen, die wegen ihrer Position von uns aus nie sichtbar ist. Dagegen liegen die beiden Lagrange-Punkte L4 und L5 in Bezug zur Verbindungslinie Erde-Sonne im schrägen Winkel von 60 Grad in der Umlaufbahn der Erde: L4 sozusagen in Umlaufrichtung der Erde vor unserem Planeten und L5 dahinter. "Doch L3, 4 und 5 sind zu weit von der Erde entfernt, als dass sie für uns relevant sind", schränkt Michael Khan ein, "so dass für Weltraumobservatorien nur L1 und L2 in Frage kommen, was sich ja an den bisherigen Missionen gezeigt hat."

Besserer Schutz am Standort

Weltraumteleskope sind empfindliche Geräte. Sie dürfen nie zur Erde und schon gar nicht zur Sonne gerichtet werden, denn deren Strahlung würde die Detektoren erheblich schädigen. Beim Hubble-Weltraumteleskop in seiner nur 600 Kilometer hohen Bahn muss deshalb viel Aufwand getrieben werden, um die Detektoren zu schützen. Außerdem ist ihm ständig der Blick auf Großteile des Himmels durch Sonne, Erde und Mond versperrt. Und weil Hubble bei jedem Umlauf in den Erdschatten eintritt, sind schwere Batterien notwendig, damit auch dort die Energieversorgung aufrechterhalten werden kann, sowie eine thermische Isolierung, um die Temperaturgegensätze auszugleichen.

Anders dagegen verhält es sich mit einem im L2-Punkt positionierten Satellitenteleskop. Da hier vom Teleskop aus gesehen Erde und Sonne sozusagen in derselben Richtung stehen, ist die Abschirmung gegen deren Infrarotstrahlung wesentlich einfacher als in der Erdumlaufbahn; es genügt eine einzige Abschirmung.

Wenn die Satelliten die Lagrange-Regionen erreicht haben, werden sie jedoch nicht direkt in den beiden Punkten geparkt. "Ein Parken eines Satelliten direkt in den Lagrange-Punkten ist unmöglich. Die Positionsregelung würde dann Unmengen an Treibstoff erfordern", so Kahn. "Im L2-Punkt wäre der Satellit zudem permanent im Halbschatten der Erde."

Lissajous-Figur | Lissajous-Figuren sieht man bei der Überlagerung zweier harmonischer, rechtwinkelig zueinander stehender Schwingungen. Von der Erde aus betrachtet können um einen Punkt im All kreisende Objekte ähnliche Figuren zeichnen.

Stattdessen umkreisen sie – von kleinen Korrekturdüsen auf Kurs gehalten – diese Punkte auf Bahnen, die für einen Beobachter auf der Erde wie hunderttausende Kilometer weite, blütenförmige Schleifen erscheinen. Diese so genannten Lissajous-Figuren kennt der Elektronikbastler auch vom Oszilloskop. "Im Grunde ist das Ganze ein kosmischer Drahtseilakt, aber wir haben inzwischen den Bogen heraus und wissen, wie man die Balance hält."

So erfordert denn auch der Einschuss dorthin aufwändige Rechenleistungen, die nur mit Hilfe moderner Hochleistungscomputer zu bewerkstelligen sind, "aber das ist heute Tagesgeschäft", versichert Khan. Und noch etwas braucht keine Sorge zu bereiten: der Weltraummüll – denn, so der Fachmann, "sobald man die dort platzierte Raumsonde abschaltet und die Triebwerke nicht mehr funktionieren, wird es über kurz oder lang dazu kommen – und ich rede da von einem Zeitraum von Monaten –, dass diese Raumsonden dann diese Position verlassen und nicht wieder zurückkehren. Die Lagrange-Punkte 1 und 2 reinigen sich also selbst und bleiben somit sauber."

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