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Naturkatastrophen: Wenn der Berg ins Tal stürzt

Die schweren Unwetter in Brasilien bringen eine oft vergessene Naturkatastrophe zurück ins Gedächtnis: tödliche Erdrutsche, die ganze Dörfer begraben. Allein die rechtzeitige Warnung schützt - doch das ist leichter gesagt als getan.
Erdrutsch
Nahezu 700 Todesopfer haben die starken Regenfälle der letzten Woche in Brasilien gefordert, und noch immer werden Menschen vermisst. Doch es sind nicht Wasser und Wind, die den meisten Opfern zum Verhängnis werden, es ist der Boden: Der Großteil der Menschen starb durch Erdrutsche.

Schlammlawinen stürzten die Berghänge hinab, zerstörten unzählige Häuser und vernichteten die Stadt São José do Vale do Rio Preto nahezu völlig. Im Vergleich zu Vulkanausbrüchen, Wirbelstürmen und Fluten vergisst man Erdrutsche allzu leicht, doch der Schaden, den sie anrichten, ist jedes Jahr immens.

Erdrutsch von Saidmareh | Der größte noch an der Erdoberfläche sichtbare Erdrutsch befindet sich im Iran. Vor etwa 10 000 Jahren rutschten hier – möglicherweise durch ein Erdbeben – 20 Kubikkilometer Gestein ab und füllten das benachbarte Tal. Dabei staute die Gesteinsmasse einen See auf, in dem sich 150 Meter dicke Sedimente ablagerten, bevor der Damm brach.
Erdrutsche selbst sind in der Entwicklung von Landschaften ganz normal. Sie sind Teil des großen Massentransports der Erosion, der hohe Bergketten bis auf Meereshöhe schleift und ihre Trümmer als Sedimente in Senken und Becken verteilt. Doch wenn ein großes Stück eines Berghangs auf einmal abrutscht, dann ist die direkte Ursache in den meisten Fällen Wasser – wie dieser Tage in Brasilien. Nach heftigen Regenfällen saugt sich der Boden mit Feuchtigkeit voll und schwimmt auf seinem eigenen Porenwasser quasi auf, bis er entlang einer Schwachstelle abreißt und zu Tal donnert.

In den Jahren 2004 bis 2009 starben weltweit 76 000 Menschen durch Erdrutsche, und die Opferzahlen steigen seit Jahrzehnten an. Als Ursache machen Forscher diverse Effekte aus, unter anderem zunehmende Entwaldung von Berghängen: Vegetation hält mit ihren Wurzeln den Boden fest und lässt Wasser langsamer versickern, so dass bewachsene Hänge nicht so schnell abrutschen. Dazu drängen die Menschen wegen des Bevölkerungswachstums und der sich ausbreitenden Städten zunehmend in gefährdete Gebiete. Sie umzusiedeln in weniger gefährdete Gebiete, wäre die naheliegendste Lösung – sie lässt sich jedoch kaum ohne Zwang umsetzen: Viele Menschen gewichten beispielsweise die praktische Nähe zur städtischen Infrastruktur höher als das eher abstrakte Risiko eines Erdrutsches.

Man könnte auch versuchen, die Hänge durch Stahlbetonkonstruktionen oder Netze zeitweilig zu stabilisieren. Doch auf lange Sicht gilt das unerbittliche Gesetz der Erosion: Runter kommen die Hänge immer – irgendwann. Der einzige wirksame Schutz ist, im richtigen Moment woanders zu sein. Deswegen arbeiten weltweit Forscher an Warnsystemen, die Katastrophen wie in São José verhindern sollen.

Der erste Schritt bei der Vorhersage ist, gefährdete Hänge zu identifizieren und sie nach verschiedenen Kriterien einer Gefahrenklasse zuzuordnen. Dabei spielen Hangneigung, Vegetation und Bodentyp eine Rolle, aber auch die Form des Hangs. Ein konkaver Hang sammelt Regenwasser effektiver als ein konvexer und ist deswegen stärker gefährdet. Wann ein bestimmter Hang versagt, lässt sich aus solchen Parametern allerdings kaum vorhersagen: Zu komplex sind die Vorgänge im Detail.

Zerstörte Straße | Abbrechende Hänge gefährden nicht nur Menschenleben, sondern zerstören auch die Infrastruktur. Hier eine durch einen Erdrutsch zerstörte Straße in Oregon, USA.
Aus empirischen Daten weiß man jedoch, wie viel Wasser solche Böden aufnehmen können, bevor sie zu rutschen beginnen. Deswegen behelfen sich Wissenschaftler meist damit, den Wasserhaushalt gefährdeter Regionen zu beobachten – mit einigem Erfolg. Modelle wie das Antecedent Water Status Model (AWSM) oder das Combined Hydrology And Stability Model (CHASM) nutzen dieses Wissen, indem sie die geologischen Bedingungen, Regenmengen, Wasserabfluss und hydrologischen Modelle in Beziehung setzen und bei kritischen Schwellenwerten für Regenmenge oder Wassergehalt im Boden Alarm schlagen. Dabei verlassen sich die Forscher zunehmend auf Hightechmethoden wie Satellitendaten, Regenradar und immer genauere Modelle von Wetter und Niederschlagsmengen. Anwendung findet die Methode vor allem, um die Gefahr von Erdrutschen über größere Gebiete vorherzusagen.

Einzelne gefährliche Hänge stehen allerdings unter gesonderter Beobachtung. Forscher vermessen dazu Struktur und Aufbau des Hangs und das Fließverhalten von Grundwasser, um Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wann ein Hang tatsächlich instabil wird. Dazu nutzt man Sensoren, die Parameter wie den Druck des Porenwassers, der vor einem Erdrutsch stark ansteigt, oder Scherkräfte im Hang messen. Auch hier warnt man, sobald vorher festgelegte Schwellenwerte erreicht sind.

Diese Schwellenwerte für einen individuellen Berghang zuverlässig festzulegen, erweist sich jedoch als schwierig. Kurz gesagt: Die Daten zu gewinnen ist einfach, sie zu interpretieren nicht. Deswegen suchen Wissenschaftler ständig nach besseren Verfahren, aus den vorhandenen Messwerten brauchbare Aussagen über das Verhalten des Bergs abzuleiten. Einige Forscher schlagen zum Beispiel vor, statt "harter" Schwellenwerte ein statistisches Verfahren zu verwenden, das die Signale aller Sensoren gewichtet und eine Wahrscheinlichkeit für den Erdrutsch angibt.

Erdrutsch in den Alpen | Schuttfächer eines Erdrutsches im Mattertal. Im Hintergrund der Ort Randa.
Gleichzeitig arbeiten Forscher an völlig neuen Methoden, beginnende Erdrutsche direkt zu detektieren. Denn sogar wenn der Erdrutsch bereits begonnen hat und sich die Erdmassen schon in Bewegung befinden, ist es oft noch nicht zu spät für eine Warnung, im Gegenteil: Die Rutschung beginnt an manchen Hängen aus spröden Materialien sehr langsam und folgt einer einfachen mathematischen Beziehung, die man als Saito-Effekt bezeichnet. Diesem Effekt verdanken die Forscher einige neue Verfahren, zum Beispiel eines, das kürzlich in Großbritannien vorgestellt wurde: Der anschwellende Geräuschpegel im Untergrund, so der Plan, soll schon in der frühesten Phase eines Erdrutsches helfen, die Gefahr zu erkennen. Noch ist jedoch unklar, wie das viel versprechende Prinzip im Gelände umgesetzt werden kann.

Allerdings geben Experten inzwischen zu bedenken, dass solche technischen Lösungen grundsätzlich am eigentlichen Problem vorbeigehen. Zum einen geschehen die meisten tödlichen Erdrutsche in ärmeren Regionen, in denen gar nicht die Ressourcen für solche Maßnahmen zur Verfügung stehen, zum anderen ist das Problem so umfangreich und weit verbreitet, dass ingenieurtechnische Lösungen schlicht unrealistisch sind, selbst wenn genug Geld vorhanden wäre.

Auf den Philippinen testet das Städtchen Manito derzeit mit Unterstützung der Weltbank einen ganz anderen Ansatz: Dort soll ein Frühwarnsystem entstehen, das die Einwohner nicht nur selbst einrichten, sondern auch bedienen und erweitern können. Alte Plastikflaschen dienen dort als Regenmesser, und in Lehrgängen lernen die Einheimischen, die umgebenden Hügel zu lesen und die Gefahr einzuschätzen. Droht der Hang abzurutschen, warnen sie das Dorf – mit einer Handglocke.

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