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Hirnforschung: Wie frei ist der Mensch?

Der Mensch ist ein biochemischer Automat, und Willensfreiheit reine Illusion? Das macht uns die moderne Neuroforschung scheinbar glauben. Doch dahinter steckt ein entscheidender Irrtum.
Im Reich der Möglichkeiten

Vor einiger Zeit lag ich nachts wach und zerbrach mir den Kopf darüber, wie ich diesen Text beginnen sollte. Ich stellte mir mehrere Varianten eines ersten Satzes vor, eines nächsten und eines dritten. Dann überlegte ich, wie ich zum darauf folgenden Absatz übergehen könnte und weiter zum übrigen Artikel. Die Vor- und Nachteile jeder dieser Möglichkeiten kreisten in meinem Kopf und hinderten mich am Einschlafen. Währenddessen liefen in den Nervenzellen meines Gehirns komplizierte Prozesse ab. Tatsächlich erklärt die neurale Aktivität, warum ich verschiedene Varianten erwog und warum ich jetzt gerade diese Worte schreibe und keine anderen. Außerdem erklären die Hirnvorgänge, warum ich einen freien Willen besitze.

Allerdings meinen in letzter Zeit viele Neurowissenschaftler, Psychologen und Fernsehautoritäten, dies sei ein Irrtum. Sie berufen sich auf einige oft zitierte Experimente und behaupten, unbewusste Prozesse hätten die Wahl der Worte verursacht, die ich letztlich niederschrieb. Demzufolge entsteht eine bewusste Überlegung und Entscheidung erst, nachdem neurale Weichenstellungen unterhalb der Schwelle unseres Bewusstseins zuvor festgelegt haben, was wir wählen werden. Und da unser Gehirn uns damit quasi die Entscheidung abnimmt, ist Willensfreiheit bloß eine Illusion.

Die Experimente, die als Beweis dafür dienen sollen, dass unser Gehirn hinter den Kulissen die Führung übernimmt, führte der amerikanische Physiologe Benjamin Libet (1916-2007) in den 1980er Jahren an der University of California in San Francisco durch. Er bat Versuchspersonen, auf deren Kopf er Elektroden angebracht hatte, zu einem willkürlich gewählten Zeitpunkt eine Hand zu bewegen. Die von den Elektroden aufgezeichneten Aktivitätsschwankungen zeigten ein so genanntes Bereitschaftspotenzial an, das schon rund eine halbe Sekunde vor der willkürlichen Handbewegung auftrat. Doch den Probanden wurde ihre Absicht, die Hand zu rühren, laut einer parallel laufenden Zeitmessung erst eine Viertelsekunde vor der Ausführung bewusst. Daraus schloss Libet, dass das Gehirn den Entschluss zur Handbewegung bereits gefasst hatte, bevor dieser ins Bewusstsein trat. Das schien zu besagen: Unbewusste Hirnprozesse trafen die Entscheidung.

Nach neueren Untersuchungen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) beginnt die unbewusste Vorbereitung von Entscheidungen sogar noch früher. 2013 legte der Neurologe John-Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience in Berlin Versuchspersonen in einen fMRT-Scanner und ließ ihnen die freie Wahl, zwei Zahlen entweder zu addieren oder zu subtrahieren. Aus den neuralen Aktivitätsmustern ließ sich schon ganze vier Sekunden, bevor den Probanden ihre Entscheidung bewusst wurde, vorhersagen, welchen Rechenweg sie einschlagen würden.

Solche Experimente haben zu der pauschalen Behauptung geführt, der freie Wille sei erledigt. "Unsere Entscheidungen sind, lange bevor unser Bewusstsein ins Spiel kommt, unbewusst vorherbestimmt", kommentierte Haynes 2008 in der Zeitschrift "New Scientist" und fügte hinzu: "Anscheinend trifft das Gehirn die Entscheidung vor der Person." Für den Evolutionsbiologen Jerry Coyne von der University of Chicago ist eine Entscheidung niemals Folge einer bewussten Wahl; es gebe weder Entscheidungsfreiheit noch freien Willen. Der amerikanische Neurowissenschaftler, Philosoph und Debattenredner Sam Harris hält uns alle für "biochemische Marionetten": Wenn man die Entscheidung eines Menschen mit Hilfe eines Gehirnscanners schon mehrere Sekunden früher wissen könne als er selbst – wo bleibe dann der bewusste Akteur, der Herr sei über sein eigenes Innenleben?

Aber zeigt die Forschung wirklich, dass unser bewusstes Überlegen und Planen nur ein Nebenprodukt unbewusster Hirnaktivität ist und auf unser späteres Handeln keinerlei Einfluss ausübt? Nein, ganz und gar nicht. Der Philosoph Alfred R. Mele von der Florida State University in Tallahassee, ich und andere halten die Folgerung, der freie Willen sei eine Fata Morgana, für einen Fehlschluss.

Alles beginnt im Kopf | Bevor der Autor zu schreiben begann, überlegte er sich verschiedene Möglichkeiten für den ersten Satz und entschied sich schließlich für eine davon. Bewusste Planung entspricht dem, was wir landläufig mit freiem Willen meinen.

Stopp! Nicht so schnell!

Diejenigen, die meinen, die Wissenschaft entlarve den freien Willen als Illusion, nenne ich Willusionisten. Es gibt viele Gründe, ihren Argumenten zu misstrauen. Erstens reicht der derzeitige technische Stand der Neurowissenschaft längst nicht für eine Klärung der Frage aus, ob die neurale Aktivität, die unserem Ausdenken und Bewerten zukünftiger Möglichkeiten zu Grunde liegt, irgendwelche Auswirkungen auf die tatsächliche Wahl hat, die wir Minuten, Stunden oder Tage später treffen. Stattdessen verwischt die von den Willusionisten diskutierte Forschung die Grenze zwischen bewussten und unbewussten Handlungen.

Nehmen wir das Libet-Experiment. Eigentlich beginnt es damit, dass die Versuchsteilnehmer sich bewusst darauf vorbereiten, eine Serie von wiederholten und ungeplanten Aktionen auszuführen. Nach dem Start des Experiments bewegen sie die Hand, sobald spontan ein entsprechendes Bedürfnis entsteht. Die am bewussten Planen beteiligte neurale Aktivität beeinflusst wahrscheinlich das spätere unbewusste Auslösen von Bewegungen – und offenbart damit eine Wechselwirkung zwischen bewusster und unbewusster Hirntätigkeit.

Auch Haynes, der seine Probanden in vielen Versuchsreihen immer wieder zufällig zwischen Addieren und Subtrahieren wählen ließ, liefert keine überzeugende Widerlegung der Willensfreiheit. Die schon vier Sekunden vor dem bewussten Willenserlebnis auftretende Hirnaktivität ist wohl eher ein Indiz für eine unbewusste Vorentscheidung in der einen oder anderen Richtung.

Außerdem sagte das frühe Aktivitätsmuster die dann tatsächlich getroffene Wahl nur um zehn Prozent besser voraus als ein Münzwurf. Hirnprozesse können unsere Entscheidung nicht schon vier Sekunden vor der Ausführung ein für alle Mal festlegen, denn wir sind offenbar fähig, auf eine veränderte Situation in viel kürzerer Zeit zu reagieren. Andernfalls wären wir alle längst im Straßenverkehr umgekommen! Ganz im Gegenteil bereitet uns die unbewusste Nerventätigkeit offenbar auf das Handeln in Entscheidungssituationen vor, indem sie uns veranlasst, unser Verhalten bewusst zu steuern und an überraschende Situationen anzupassen.

Die Willusionisten verweisen auch auf psychologische Forschungen, denen zufolge wir weniger bewusste Kontrolle über unsere Handlungen ausüben, als wir meinen. Richtig ist, dass wir oft durch subtile Details unserer Umgebung, emotionale Neigungen oder kognitive Vorurteile unmerklich beeinflusst werden. Solange wir uns dem nicht bewusst sind, können wir nichts dagegen unternehmen. Darum ist unser Wille zwar weniger frei, als es auf den ersten Blick scheint – aber zwischen eingeschränkter Freiheit und völliger Willenlosigkeit besteht ein großer Unterschied.

Bei den Experimenten von Libet und Haynes treffen die Probanden Entscheidungen, ohne zum Zeitpunkt der Handlung eine bewusste Überlegung anzustellen. Häufig wiederholte oder gewohnheitsmäßige Verhaltensweisen sind zwar manchmal recht kompliziert, erfordern aber wenig Nachdenken, da sie durch Lernen automatisiert wurden. Man steckt den Schlüssel ins Schloss. Ein Torhüter wirft sich dem Ball entgegen. Ein Pianist vertieft sich in die Melodie von Beethovens Mondscheinsonate.

Angenommen, Hirnforscher könnten Handlungen anhand der Hirntätigkeit perfekt vorhersagen. Entlarvt dies den freien Willen als Illusion?

Absichtliches Drehen eines Schlüssels, Springen nach einem Ball sowie Niederdrücken weißer und schwarzer Klaviertasten erfordern einen speziellen Typus mentaler Verarbeitung. Was ich in jener schlaflosen Nacht tat – bewusstes Abwägen von Alternativen –, war völlig verschieden vom Ausführen einer eingeübten Routinetätigkeit. Zahlreichen psychologischen Untersuchungen zufolge macht es einen Unterschied, ob wir eine Handlung mit bewusstem, gezieltem Nachdenken ausführen. Demnach erhöhen Intentionen, die wir formulieren, um bestimmte Aufgaben unter speziellen Umständen zu erledigen – Psychologen sprechen von Implementierungsintentionen –, die Wahrscheinlichkeit, dass wir das geplante Verhalten vollenden werden. Wie der Psychologe Peter Gollwitzer von der New York University nachwies, isst ein Diätpatient, der sich bewusst vornimmt, jeden Gedanken an eine verführerische Speise zu ignorieren, davon weniger als jemand, der einfach bloß abnehmen möchte. Allgemein beruht Selbstbeherrschung laut seinem Kollegen Walter Mischel von der Columbia University in New York auf unserer Fähigkeit, uns willentlich von einer Versuchung abzulenken. Und Roy F. Baumeister von der Florida State University demonstrierte, dass bewusstes Überlegen die Ausführung logischer und sprachlicher Aufgaben verbessert; es hilft uns, aus früheren Fehlern zu lernen und impulsives Verhalten zu zügeln.

Wir alle führen tagtäglich Handlungen aus, die wir uns bewusst vorgenommen haben. Es ist zwar prinzipiell möglich, dass die neurale Aktivität, die diese Planung vollzieht, keinerlei Einfluss auf das hat, was wir tun – oder dass sie nur nachträglich Geschichten erfindet, um uns und anderen das Getane zu erklären. Aber evolutionsbiologisch ergäbe das wenig Sinn. Das Gehirn trägt nur 2 Prozent zum Körpergewicht bei, verschlingt aber 20 Prozent der vom Körper aufgewandten Energie. Sollten neurale Prozesse komplizierte bewusste Gedanken ermöglichen, ohne unser Verhalten im Geringsten zu beeinflussen, würden sie unter starken Selektionsdruck geraten. Die Schaltkreise im Gehirn, die mir eine Vorstellung davon vermitteln, wie ich diesen Artikel am besten schreiben soll, bewirken wahrscheinlich auch, wie er am Ende aussieht.

Freiheit im Gehirn?

Doch nach Meinung der Willusionisten kann die geistige Verarbeitung im Gehirn einfach nicht als freier Wille gelten. Oft heißt es, wer an Willensfreiheit glaube, müsse zu den so genannten Dualisten gehören, das heißt den Geist für eine nichtphysikalische Substanz halten, die separat vom Gehirn existiert. "Die Idee des freien Willens besagt, dass wir Entscheidungen treffen und Gedanken haben, ohne dass dabei etwas im Spiel ist, das auch nur entfernt einem physikalischen Vorgang ähnelt", schrieb der Neurowissenschaftler Read Montague 2008. Und Coyne behauptet, dass ein wirklich freier Wille von uns verlangen würde, aus der Struktur unseres Gehirns auszusteigen und seine Arbeitsweise abzuändern.

Tatsächlich stellen sich manche Leute Willensfreiheit so vor – aber ohne guten Grund. Die meisten philosophischen Theorien entwickeln eine Idee vom freien Willen, die sich durchaus mit einer wissenschaftlichen Auffassung der menschlichen Natur vereinbaren lässt. Erhebungen zufolge akzeptieren die meisten Menschen im Gegensatz zu den Behauptungen der Willusionisten, dass wir auch dann einen freien Willen besitzen können, wenn unsere geistige Tätigkeit samt und sonders auf Hirnprozessen beruht. Doch wenn Willensfreiheit und Dualismus nicht notwendig zusammengehören, darf man nicht predigen, der freie Wille sei eine Illusion, weil aus wissenschaftlicher Sicht der Dualismus nicht zutrifft.

Um Einstellungen zur Willensfreiheit zu testen, kann man sich beispielsweise folgende Möglichkeit ausmalen: angenommen, Hirnforscher hätten ein bildgebendes Verfahren entwickelt, das die perfekte Vorhersage einer Handlung anhand der früheren Hirntätigkeit erlaubt. Tatsächlich meint Harris, dieses Szenario "würde das Gefühl der Willensfreiheit als das entlarven, was es ist: eine Illusion".

Gerät der Glaube an die Willensfreiheit ins Wanken, wenn man weiß, dass die teils unbewusste Datenverarbeitung im Gehirn das Verhalten vorherbestimmt? Um diese Frage experimentell zu klären, haben Jason Shepard von der Emory University in Druid Hills (Georgia), Shane Reuter von der Washington University in St. Louis und ich kürzlich Versuchspersonen mit detaillierten Beschreibungen von futuristischen Szenarien im Sinn von Harris konfrontiert.

An der Studie nahmen Hunderte von Studenten der Georgia State University in Atlanta teil. Sie lasen eine Geschichte über eine Frau namens Jill, die in ferner Zukunft einen Monat lang eine bildgebende Sensorkappe trägt. Mit den vom Hirnscanner gelieferten Daten sagen Neurologen sämtliche Gedanken und Taten von Jill voraus – selbst wenn Jill versucht, das System zu täuschen. Das Szenario schloss mit der Folgerung: "Diese Experimente bestätigen, dass die gesamte menschliche Geistestätigkeit nichts ist als Hirnaktivität; deswegen lässt sich alles, was Menschen denken oder tun, aus ihrer früheren Hirntätigkeit vorhersagen."

Zu mehr als 80 Prozent hielten die Teilnehmer eine derartige Zukunftstechnik für möglich, aber zugleich bejahten 87 Prozent die Frage nach Jills Willensfreiheit. Sie wurden auch gefragt, ob die Existenz einer solchen Technik den freien Willen in Frage stelle. Das verneinten rund 75 Prozent. Eine deutliche Mehrheit meinte: Solange die Technik nicht die Möglichkeit schafft, das Gehirn von außen zu manipulieren und zu steuern, werden die Menschen einen freien Willen besitzen und moralisch verantwortlich für ihr Verhalten sein.

Wie die meisten Versuchsteilnehmer offenbar meinten, registriert der hypothetische Scanner einfach die Hirnaktivität, die Jills Nachdenken über die fällige Entscheidung entspricht. Anscheinend fanden sie nicht, dass Jills Gehirn ihr etwas aufzwingt – und sie keinen freien Willen hat –, sondern dass der Hirnscanner einfach nachweist, wie der freie Wille im Gehirn arbeitet. Warum glauben die Willusionisten das Gegenteil? Das könnte mit dem derzeitigen Forschungsstand zu tun haben. Vorläufig kann die Neurowissenschaft das Bewusstsein noch nicht erklären – das heißt eine Theorie entwickeln, die unseren Geist weder auf elementare Hirnvorgänge reduziert noch ganz von ihnen trennt. Vorderhand ist es verführerisch, wie die Willusionisten zu denken: Wenn das Gehirn für alles zuständig ist, gibt es für den bewussten Geist nichts zu tun.

Mit den künftigen Fortschritten der Neurowissenschaft wird sich präziser klären lassen, inwieweit wir bewusste Kontrolle ausüben und in welchem Maß unbewusste Prozesse unsere Aktionen beherrschen. Die Antwort auf diese Frage ist wichtig. Unser Rechtssystem und die moralische Grundlage vieler Institutionen hängen davon ab, wann Menschen für ihre Taten verantwortlich sind – und wann nicht.

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  • Quellen

Baumeister, R. F. et al.: Conscious Thought Is for Facilitating Social and Cultural Interactions: How Mental Simulations Serve the Animal-Culture Interface. In: Psychological Review 117, S. 945–971, 2010

Nahmias, E. et al.: It’s OK if »My Brain Made Me Do It«: People’s Intuitions about Free Will and Neuroscientific Prediction. In: Cognition 133, S. 502–516, 2014

Soon, S. C. et al.: Predicting Free Choices for Abstract Intentions. In: Proceedings of the National Academy of Sciences USA 110, S. 6217–6222, 2013

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