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Digitalisierung: Wie intelligent darf die Stadt der Zukunft sein?

Deutsche Stadtverantwortliche haben häufig ganz andere Ideen, was gut für ihre Stadt ist, als die großen Technologiekonzerne mit ihren globalen Smart-City-Konzepten. Forscher suchen Lösungen für Europa. Ihre erste Erkenntnis: Projekte sollten von unten wachsen.
Dubai

Was für eine Utopie: Sensoren registrieren jede Aktivität der Bürger, Kameras haben alle im Blick, die sich in einer Stadt bewegen, die gesamte öffentliche Infrastruktur ist mit dem Internet verbunden. Intelligente Algorithmen berechnen aus all diesen Daten den effizientesten Ablauf des Lebens: welcher Verkehrsteilnehmer auf welcher Route am schnellsten zum Ziel kommt, welche Mülleimer geleert werden müssen, auf welchen öffentlichen Toiletten das Klopapier aufgefüllt werden und in welchen Gebäuden die Klimaanlage wie viel kühlen muss und welche Jalousien wann heruntergefahren werden. Die Stadtoberen treffen keine irrationalen Entscheidungen mehr, Computer berechnen schließlich, was das Beste für die Gesellschaft ist – und setzen es auch gleich um: Pragmatismus statt Vetternwirtschaft. Und der Stadtbewohner muss sich um vieles nicht mehr selbst kümmern, er hat wieder Zeit für das Wesentliche im Leben.

Für manche ist diese Vision einer Smart City aber auch eine Horrorvision. "Wenn der öffentliche Bereich einem nahtlosen Funktionieren unterworfen wird, hört die Stadt auf, ein Ort der öffentlichen Auseinandersetzung zu sein, und verkommt zu einem banalen Konsumparadies", fürchtet der Züricher Architekturtheoretiker Hans Frei. Ähnlich wie beim autonomen Auto würden dann aus Bürgern Passagiere, für die digitale Assistenten das Steuer übernehmen. "Das öffentliche Leben wird wie der Verkehr auf der Autobahn geregelt." Vielleicht überdecken die europäischen Datenschutzbedenken sogar das wahre Problem: "Letztlich entpuppen sich smarte Städte als eine viel größere Gefahr für die Öffentlichkeit als für die Privatheit", so Frei.

Wer will unter technologischer Kontrolle leben?

Und womöglich geben ihm erste Erfahrungen Recht: Das Bild der Smart City ist geprägt von extremen Beispielen wie der Wüstenstadt Masdar City in Abu Dhabi, die als umweltfreundliche Zukunftsstadt am Reißbrett geplant wurde und an ihrer Riesenhaftigkeit gescheitert ist: Die Kosten für die aus dem Boden gestampfte Stadt, in der die gesamte Infrastruktur mit Hightechzubehör ausgestattet ist, explodierten, die erwartete Nachfrage trat nicht ein, so dass die Stadt heute halb fertig und kaum bewohnt ist. Ähnlich ergeht es New Songdo City in Südkorea. Die Stadt ist zwar seit 2007 bezugsfertig, aber für ein Leben unter technologischer Kontrolle interessieren sich weniger als angenommen: Etwas mehr als 20 000 Menschen leben heute dort und werden von Kameras und Sensoren auf Schritt und Tritt begleitet.

"Letztlich entpuppen sich smarte Städte als eine viel größere Gefahr für die Öffentlichkeit als für die Privatheit"Hans Frei

Erste Ansätze einer solchen Vernetzung gibt es auch in Europa. Vorbild vieler Projekte ist die spanische Stadt Santander, die in den vergangenen vier Jahren zum EU-geförderten Smart-City-Labor wurde: 12 000 Sensoren installierten Forscher der Universität Kantabrien in der 180 000-Einwohner-Stadt. Dort "melden" sich freie Parkplätze bei Autofahrern, der Stadtpark gibt im Rathaus Bescheid, wenn die Erde zu trocken ist, und große Kreuzungen schlagen Alarm, wenn Schadstoffe oder Lärm überhandnehmen. Doch während Medien und Forscher erst begeistert über die neuen Möglichkeiten berichteten, blieb das Interesse der Bürger Santanders an den neuen Technologien gering.

Dies ist der erste Teil unserer neuen Serie zur "Zukunft der Stadt". Ebenfalls erschienen:
  1. Strom aus dem Bunker

Auch in Deutschland wird im aktuellen Wissenschaftsjahr unter dem Motto "Stadt der Zukunft" viel zum Thema intelligente Stadt geforscht. Den Städten ist das beinahe schon zu viel. Sie fühlen sich in eine Richtung gedrängt, die ihnen nicht vernünftig erscheint: "Wir haben ein gewisses Misstrauen gegenüber der Smart City", sagt Hilmar von Lojewski, Beigeordneter des deutschen Städtetags. Denn die Erfahrung in der öffentlichen Praxis zeige: Je ausgeklügelter Technologien sind, desto anfälliger seien sie auch. Von Lojewksi kennt viele Beispiele von Schulen, an denen die hochmoderne Klimatechnik kaputtging und in denen Lehrer und Schüler schließlich je nach Wetterlage Ventilatoren oder Heizlüfter laufen ließen – die so gut gemeinte nachhaltige Klimatisierung schlug ins Gegenteil um. "Wir leiden unter einem Overengineering, einer technischen Überentwicklung", sagt von Lojewski. "Wir erleben derzeit Smart-City-Apologeten, die Bilder erzeugen, die nichts mit der Realität einer Stadt zu tun haben."

Technologische Effizienz versus Bürgerbeteiligung

Schon als die Europäische Union ihre "Smart Cities and Communities"-Initiative gestartet habe, sei kein einziger Stadtvertreter dabei gewesen – und das sei so geblieben: Stattdessen habe sich der damalige EU-Kommissar für Energie, Günther Oettinger, stets in Gesellschaft von Industrievertretern gezeigt: "Da sieht man doch schon, wie der Hase läuft." Während in den lobbyistengeprägten Normierungsverfahren vor allem technologische Effizienz eine Rolle spiele, sei die Identifikation der Bürger mindestens ebenso wichtig für Smartness, sagt Lojewski. "Da sehen wir Deutschen mit unseren langen Planungsverfahren, unserer Demokratie und unserer Bürgerbeteiligung alt aus."

Kunstwelten in Singapur | Die Stadt der Zukunft wird nicht nur architektonisch neue Maßstäbe setzen, sondern auch die Digitalisierung des Lebens vorantreiben. Doch wollen wir das so, wie es gerade abläuft?

Auch Jens Libbe vom Deutschen Institut für Urbanistik findet die Durchsetzung von Standards der Normungsorganisationen für Smart Citys problematisch: "Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global tätiger Konzerne verfolgt." Anstatt die Bedürfnisse deutscher Städte zum Maßstab zu nehmen und jene smarten Prozesse zu integrieren, die sich an die bestehenden Strukturen anpassen, würden Städte "allein als Marktplatz der Technologieanwendung begriffen."

Vor diesem Hintergrund kann man das Beispiel New Songdo City als ein großes Schaufenster des amerikanischen Technologiekonzerns Cisco verstehen, der dort seine gesamte Expertise einbrachte und alles nur Erdenkliche vernetzte: das Internet of Everything, wie Cisco es proklamiert, kristallisierte dort. Hier zu Lande werden die Konzerne von der Realität ausgebremst: Deutschland ist dicht bebaut, hier werden keine Städte am Reißbrett geplant. Es ist viel aufwändiger, intelligente Systeme in bestehende Strukturen einzubauen, als ganze Städte von Anfang an entsprechend auszurüsten.

Hier werden mehr oder weniger unverblümt Interessen global tätiger Konzerne verfolgt"Jens Libbe

Wo in Deutschland neue Quartiere gebaut werden, stehen Smart-City-Konzepte hoch im Kurs – beispielsweise in der neuen Hamburger Hafencity, wo die Bewegungen von Menschen, Schiffen, Containern und Fahrzeugen anhand möglichst vieler Daten perfekt aufeinander abgestimmt werden sollen. Zusammen mit Cisco wollen die Verantwortlichen die Hafencity in einen smarten Stadtteil verwandeln: Sensoren zeigen freie Parkplätze an und schicken die Infos direkt auf die Handys der Autofahrer. Container "wissen" dank GPS-Sensoren, in welcher Reihenfolge sie idealerweise auf welches Schiff in Richtung ihres Bestimmungsorts verladen werden, um die Umschlagmöglichkeiten am Hafen zu erhöhen. 150 Kameras überwachen die Verkehrssituation und sorgen dafür, dass ein drohender Stau verhindert werden kann, bevor er entsteht.

Smart City als lukrativer Zukunftsmarkt

Auch in Berlin will Cisco die intelligente Vernetzung vorantreiben: Auf dem dortigen Euref-Campus in Schöneberg investiert der US-Konzern 21 Millionen Euro in sein neues Innovationszentrum, in dem smarte Prozesse in der Produktion, im Verkehr sowie in der Logistik erforscht und erprobt werden sollen. Nicht zuletzt hofft Berlin auf das zugehörige Wagniskapital, das Cisco in hiesige Start-ups investieren will, die zur Vision der vernetzten Welt beitragen. Dass Cisco dabei keineswegs selbstlos handelt, sondern sich einen Platz in den Märkten der Zukunft sichern will, zeigt seine Prognose: In einer Studie geht der Konzern in den nächsten Jahrzehnten von 14,4 Billionen US-Dollar Mehrwert weltweit durch das Internet der Dinge aus, 900 Milliarden davon in Deutschland.

Aber sind die Milliarden in Deutschland wirklich so einfach zu ernten? Die Vision, alles zu vernetzen, sei stark industriegetrieben, sagt Alanus von Radecki, Leiter der "Morgenstadt"-Initiative der Fraunhofer-Gesellschaft. "Die Städte haben einen anderen Blickwinkel: Wie kann ich die Lebensqualität meiner Bürger steigern?" Das sei häufig mit vielen kleinen Projekten direkter möglich – eine spätere Vernetzung nicht ausgeschlossen. Das Projekt "Morgenstadt" soll helfen, passende und wirtschaftliche Lösungen für Europas Städte zu entwickeln. Die Forscher haben seit 2011 mehr als 100 Beispiele aus aller Welt analysiert. "Jede Stadt ist anders, jede muss selbst ihren Weg finden und passende Lösungen implantieren", sagt von Radecki. Das Haupthindernis seien die noch unbekannten Risiken. "Es fehlen Präzedenzfälle dafür, welche Probleme noch kommen können und ob sich bestimmte Konzepte langfristig lohnen."

"Das ist eine Chance, die die Städte nutzen müssen"Lars Gurow

Gerade im Vergleich verschiedener Städte könne man die unterschiedlichen Entwicklungspfade sehen, die zu einer Smart City führen, so von Radecki. In Eindhoven beispielsweise wird ein Quartier EU-gefördert mit verschiedenen Sensoren ausgestattet, deren Daten an interessierte Start-ups freigegeben werden. 160 Unternehmen sind aktuell dabei, daraus Dienstleistungen zu entwerfen – denkbar sind beispielsweise smarte Parkpreise abhängig von der Nachfrage oder Plattformen für Carsharing-Dienste. Solche sich von unten aufbauenden Projekte seien zukunftsträchtiger als von oben verordnete Riesenprojekte, glaubt von Radecki. Denn zentral müsse die Frage sein: "Wie kann man auf Grund der verfügbaren Daten Mehrwert für den Nutzer schaffen?"

Technologie für die Effizienz, Architektur fürs Gemüt

Auch der Architekt Carlo Rattik vom SENSEable City Laboratory des MIT und Anthony Townsend vom Institute for the Future in Palo Alto raten, den Bürger als kreativen Part auf dem Weg in die urbanen Zentren der Zukunft nicht aus den Augen zu verlieren: "Wie immer die Ziele lauten -ob Nachhaltigkeit oder weniger Staus –, mit der richtigen technischen Umsetzung können die Stadtbewohner effektiver dazu beitragen als bei zentralisierten Konzepten", schreiben die beiden Forscher in "Spektrum der Wissenschaft". Die Gefahr sei groß, dass Technologiekonzerne vor allem in Top-down-Konzepte investieren. Dabei werde häufig vergessen, die Konfiguration an das reale Leben anzupassen. "Ein ausschließlicher Fokus auf effiziente Abläufe ignoriert fundamentale bürgerliche Ziele wie Lebensqualität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit."

Cisco hingegen gibt sich angesichts der Kritik selbstbewusst. Als Technologiekonzern sei man nun mal für Effizienz zuständig, sagt Lars Gurow, Sprecher von Cisco Deutschland. "Eine lebenswerte Stadt und Effizienz schließen sich ja nicht aus." Im Gegenteil: Eine effiziente Infrastruktur steigere die Lebensqualität. Auch wenn neue Projekte in Deutschland klassischerweise "sehr gründlich angegangen würden" und die Kommunen eine gewisse Zeit des Überlegens beanspruchten, sähen immer mehr deutsche Städte Chancen in Smart-City-Konzepten. Angesichts des Wettbewerbs um die zahlungskräftigen jungen Bürger komme keine Stadt darum herum, sich mit den neuen Technologien zu beschäftigen. "Das ist eine Chance, die die Städte nutzen müssen."

Diese Unausweichlichkeit sieht auch der Züricher Architekturtheoretiker Hans Frei: Wenn im Jahr 2030 fünf Milliarden Menschen in Städten leben werden, werde das ohne Smart-City-Technologien nicht möglich sein. "Die Frage ist, ob die Erfolgsgeschichte der Stadt dann weitergeschrieben wird." Denn auch wenn die Technikfirmen nicht vorgeben, etwas von Städtebau zu verstehen, so stellten ihre Konzepte doch eine neue Doktrin des Städtebaus dar. Computer machten dann die Arbeit von Architekten und Stadtplanern überflüssig, fürchtet Frei. "Architektur mag dann noch gut sein fürs Gemüt oder fürs Image." Wobei das ja auch irgendwie wichtig ist.

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