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Reaktorkatastrophe: Wie sieht es im Inneren Fukushimas aus?

Was ist in den Reaktoren von Fukushima passiert? Auch zwei Jahre nach der Katastrophe weiß das noch niemand so recht. Derweil gehen die Aufräumarbeiten mit Hochdruck weiter.
Kernreaktoren von Fukushima-Daiichi

Es muss ein sonderbarer Anblick gewesen sein, damals im Frühling des Jahres 1967. Im Schatten der weltberühmten Pyramiden von Gizeh stapft eine Gruppe Wissenschaftler durch den Wüstensand, beladen mit Kabeln, Kästen und unhandlichen Platten. Sie verschwinden im Inneren der zweithöchsten Pyramide. In einer Kammer stellen sie ihren "Myonen-Detektor" auf. Mit ihm wollen die Forscher dorthin spähen, wo kein Mensch hinschauen kann: ins Innere des Jahrtausende alten Sandsteins. Dort vermuteten die Forscher unentdeckte Pharaonengräber.

2013 zeigt sich ein ähnliches Bild zwischen den zerstörten Reaktorblöcken der aus traurigem Anlass weltberühmten Atomruine Fukushima-Daiichi: Vor zwei Jahren kam es hier zu der zweitschwersten Reaktorkatastrophe der Menschheitsgeschichte nach dem GAU von Tschernobyl. Ein dreizehn Meter hoher Tsunami überflutete die Notstromgeneratoren auf dem Atomkomplex, in den Reaktoren 1, 2 und 3 der Sechs-Blöcke-Anlage kam es in den Tagen darauf zu einer Kernschmelze. Mehrmals entzündete sich außerdem freigesetztes Wasserstoffgas. Die Betonklötze, die die eigentlichen Reaktoren umgeben, flogen vor den Kameras der Weltöffentlichkeit in die Luft.

Aber wie bei den Pyramiden bleibt auch hier manche Stelle unseren Augen bis heute verborgen. Im Inneren der bröckelnden Reaktorgebäude ist die Strahlenbelastung so hoch, dass Menschen sich dort nur wenige Minuten aufhalten dürfen. In den birnenförmigen Sicherheitsbehältern aus Blei, die die Reaktorkerne in Fukushima umschließen, ist die Strahlung gar so stark, dass sie eine Person binnen Minuten töten würde. Aber irgendwo dort müssen die Brennstäbe liegen, die in der Glut der Nachzerfallswärme geschmolzen sind und mittlerweile wohl zu grotesken Klumpen erstarrt sind.

Strahlung macht die Kameras blind

Aber wie soll man sie aufspüren? In Fukushima sind Ingenieure schon mehrfach mit kleinen Sonden ins Innere der Sicherheitsbehälter vorgedrungen. Etwa im vergangenen September, als sie mit einem Spezialbohrer ein kleines Loch in die meterdicke Betonhülle von Block 1 gefräst haben. An einem Kabel schoben sie eine kleine Kamera ins Innere: Das Bild zeigte aufsteigenden Dampf und etwa drei Meter tiefes Wasser am Boden des birnenförmigen Sicherheitsbehälters. Einen Blick auf die Unterseite des Reaktordruckbehälters hat bisher jedoch noch keine der Sonden geworfen. "Bildchips, wie sie in normalen Digitalkameras eingesetzt werden, können bei derart hoher Gamma- und Neutronenstrahlung nach kurzer Zeit erblinden", sagt Sven Dokter, Sprecher der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln. Und allzu große Löcher, durch die leistungsfähige Kameras oder gar kleine Roboter passen würden, will man vermutlich nicht bohren. "Früher oder später möchte man die Sicherheitsbehälter bis oben hin mit Wasser füllen", berichtet Dokter. Nur dann ließen sich die Reaktorbehälter mit Hilfe ferngesteuerter Unterwassersägen zerschneiden und die Tonnen schweren Bruchstücke anschließend mit Kränen von oben herausheben.

Kernreaktoren von Fukushima-Daiichi | Die Aufräumarbeiten an den havarierten Kernkraftblöcken von Fukushima ist in vollem Gange. In die geschmolzenen zentralen Bereiche der Blöcke 1 und 3 konnten die Techniker aber noch keinen Blick werfen.

"Man könnte warten, bis die Strahlungsniveaus weit genug gesunken sind, um eine Kamera in den Reaktor hinabzulassen", entgegnet Christopher Morris vom Los Alamos National Laboratory. Dem Nukleartechniker schwebt indes eine andere Lösung des Problems vor: Er will mit der Methode, mit der Forscher 1967 die Pyramiden durchleuchteten, in die Reaktorruinen von Fukushima schauen. Dazu fängt man mit leinwandgroßen Detektoren sogenannte Myonen auf – Elementarteilchen, die Sekunde für Sekunde aus der Atmosphäre auf die Erde niederprasseln. Sie werden von Materie mit einer geringen Wahrscheinlichkeit abgelenkt. Mit zwei Detektoren, die Myonen auf zwei Seiten des Reaktors auffangen, hoffen die Forscher die Reaktorkerne durchleuchten zu können.

Dass das prinzipiell funktionieren kann, konnten die Wissenschaftler aus Los Alamos bereits mit Handmessgeräten auf der Anlage des Atomkomplexes demonstrieren. Nun warten sie auf den Startschuss für das eigentliche Projekt, das laut Morris etwa zehn Millionen Dollar pro Reaktor kosten soll. "Es gibt Kontakte zwischen den USA und Japan, die darauf abzielen, einen Plan zu entwickeln", gibt sich Morris vorsichtig. Aber da die Regierungen der beiden Ländern involviert sind, sei das Ganze sehr kompliziert. Die Frage ist, ob man die Myonen in Fukushima wirklich braucht. Andere Forschergruppen arbeiten beispielsweise an Methoden, die auf Neutronen- und Gammastrahlen zur Durchleuchtung der Reaktoren setzen. Und früher oder später wird man auch Kameras einsetzen können, die der starken Strahlung gewachsen sind. Aber da der Betreiber Tepco bisher kein detailliertes Bergungskonzept vorgelegt hat, bekommen auch exotischere Ansätze wie die Myonen Aufwind.

Jahrzehntelang eine strahlende Ruine

Allzu eilig hat man es mit dem Projekt ohnehin nicht. Bis Fukushima das wird, was Nukleartechniker eine "grüne Wiese" nennen, werden Schätzungen zufolge 30 bis 40 Jahre vergehen. Zwischen 69 und 94 Tonnen Urandioxid befanden sich während des Betriebs in jedem der Reaktoren. Als Erstes sollen ohnehin die ausgemusterten Brennstäbe aus den Abklingbecken im fünften Stockwerk der Reaktorgebäude geborgen werden.

Welche gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe drohen?

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat kürzlich den Bericht einer unabhängigen Expertenkommission über die möglichen Gesundheitsfolgen der Nuklearkatastrophe veröffentlicht. Einerseits geben die Forscher Entwarnung: Die freigesetzte Radioaktivität werde nicht zu zusätzlichen Fehlgeburten oder Fehlbildungen in der japanischen Bevölkerung führen. Das Ergebnis lege außerdem nahe, dass es zu keiner messbaren Zunahme von Erkrankungen in Folge der Strahlung komme, schreiben die Autoren.

Die japanische Bevölkerung war demnach insgesamt deutlich weniger Radioaktivität ausgesetzt als die Bewohner der Gebiete rund um Tschernobyl: Zum einen gelangte dank der Sicherheitsbehälter in Fukushima wesentlich weniger radioaktives Material ins Freie, zum anderen blies der Wind den Großteil der Freisetzungen aufs Meer hinaus. Auch gelang es den japanischen Behörden, die Gebiete rund um den Atomkomplex zu evakuieren, noch ehe große Mengen radioaktiver Substanzen freigesetzt wurden. Daneben verteilten die Behörden Jodtabletten, die verhindern, dass der Körper jenes radioaktive Jod-131 aufnimmt, von dem in den ersten Wochen einer Reaktorhavarie die größte Bedrohung ausgeht.

An zwei Tagen blies der Wind jedoch radioaktive Wolken aufs Festland, sie hinterließen einen knapp vierzig Kilometer langen Fallout-Streifen in nordwestlicher Richtung. Auch hier werden die Strahlenfolgen laut dem Bericht der WHO gering bleiben. Einzig für Kleinkinder, die in den betroffenen Städten jenseits der 20-Kilometer-Sperrzone geblieben sind, haben die Forscher ein erhöhtes Krebsrisiko errechnet. Basis dafür bildet eine letztjährige Abschätzung darüber, welche Strahlendosis Bewohner verschiedener Orte im ersten Jahr nach der Nuklearkatastrophe angesammelt haben. Für die am stärksten betroffenen Städte Namie und Itate gehen die Forscher von einer Ganzkörperdosis von 10 bis 50 Millisievert aus. Die Schilddrüsendosis, die zur Hälfte von eingeatmetem Jod-131 herrührt, soll in diesen Städten mit 10 bis 100 Millisievert etwas höher liegen.

Für ein am Tag der Katastrophe einjähriges Mädchen, das dieser Dosis ausgesetzt war, haben die WHO-Wissenschaftler nun eine bis zu 70 Prozent höhere Chance errechnet, im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Allerdings sei Schilddrüsenkrebs bei Kindern sehr selten, betonen die Autoren (0,75 Prozent aller Neugeborenen entwickeln diese Krebsart). Aber auch für andere Krebsarten haben Kinder, die als Einjährige hohen Strahlenwerten ausgesetzt waren, eine erhöhte Wahrscheinlichkeit: Ihr Risiko, an Leukämie zu erkranken, steigt um bis zu sieben Prozent. In ähnlichem Maße ist laut des Berichts das Risiko für einjährige Mädchen aus Itate und Maie gestiegen, im Laufe ihres Lebens Brustkrebs zu entwickeln. Wie viele Kleinkinder entsprechenden Strahlendosen ausgesetzt waren, sagt der Bericht nicht.

Auch bei den etwa 20 000 Personen, die bis Ende 2012 auf der Anlage der Atomruine gearbeitet haben, ist die Krebswahrscheinlichkeit leicht erhöht. Das gilt jedoch nur für jenes Drittel der eingesetzten Personen, die eine höhere Dosis als 10 Millisievert abgekommen haben. Von ihnen müssen insbesondere die Jüngeren mit einem um ein Fünftel höheren Risiko rechnen, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Lediglich ein Prozent der Arbeiter wurde laut Aussage des Berichts einer Dosis zwischen 100 und 200 Millisievert ausgesetzt. Bei ihnen vergrößert sich das Gefährdungspotenzial für ein Schilddrüsenkarzinom oder Leukämie um bis zu 28 Prozent. 0,05 Prozent der Beschäftigten wurden noch schlimmer verstrahlt – bei ihnen steige das Risiko noch stärker, schreiben die Autoren.

Bei Block 4 hat man bereits damit begonnen. Das Gebäude hatte am vierten Tag nach dem Tsunami eine Explosion zerrissen, obwohl der Reaktor gar nicht in Betrieb war. In den Wochen nach dem Unglück kursierte die Befürchtung, dass die Brennstäbe in den Lagerbecken geschmolzen seien. Das hat sich jedoch mittlerweile als falsch herausgestellt: Heute erklären Experten die Detonation mit Wasserstoffgas, das durch Abluftrohre aus dem benachbarten Reaktor 3 in das Gebäude von Block 4 gelangte.

Dennoch ist Eile geboten, denn das zerlöcherte Gebäude dieses Reaktors könnte im schlimmsten Fall einstürzen, auch wenn hastig aufgestellte Stahlpfeiler dies verhindern sollen; zusätzlich ist ein Gerüst geplant. Insgesamt arbeiteten nach Angabe der Betreiberfirma Tepco Ende 2012 etwa 6000 Menschen auf der Anlage. Sie räumen Trümmer rund um die Reaktorgebäude mit Kränen weg, fällen Bäume oder tragen die oberste Erdschicht von Freiflächen auf der Anlage ab. Über 100 000 Kubikmeter radioaktiver Schutt wurden bisher gesammelt, sie sollen in mehreren Gruben auf dem Gelände verscharrt werden. In der japanischen Öffentlichkeit wird derweil gestritten, wo ein Zwischenlager eingerichtet werden soll, in das stark kontaminierte Teile der Anlage für 30 Jahre gelagert werden können.

In der Zone |

Die meisten Anwohner und Kraftwerksmitarbeiter in der Region um Fukushima erhielten nur geringe Strahlungsdosen durch den Reaktorunfall. Im April erleichterte die japanische Regierung den Zugang in Teile des Katastrophengebiets. Die Bewohner von Iitate und Namie könnten einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt worden sein.

Den größten Aufwand bereitet indes das notdürftige Kühlsystem, mit dem die Einsatzkräfte die Reaktorkerne bespeisen. Pro Tag werden in die Reaktoren fast 400 000 Liter gepumpt, das Wasser läuft über Lecks in den Keller der benachbarten Turbinengebäude. Trotz intensiver Suche sei es bisher jedoch nicht gelungen, die Lecks zu finden und zu flicken, sagt Sven Dokter. In letzter Zeit wird auch das Grundwasser ein Problem, das von hangaufwärts in die Keller drückt. Zwölf Brunnen auf der Anlage sollen den Pegel senken und bis nächstes Jahr ein gewaltiger Stahlwall radioaktive Abflüsse in den Ozean verhindern.

Problem: das Wasser

Die Pumpen schaffen es aktuell gerade, den steigenden Pegel in den Kellern abzuschöpfen und in Tanks auf dem Gelände zu pressen. Derzeit lagern darin 250 Millionen Liter kontaminiertes Kühlwasser, die mit Filtern nach und nach dekontaminiert werden. Bis 2017 will Tepco das Fassungsvermögen der Tanks mehr als verdoppeln – offenbar erwartet man bei der Lecksuche in nächster Zeit keinen Durchbruch. Dank der Aufräumarbeiten ist die Strahlungsdosis auf dem Gelände mittlerweile immerhin fast überall auf unter ein Millisievert pro Stunde gesunken: Das ist zwar immer noch ein Tausendfaches der natürlichen Strahlenbelastung in Europa, aber Arbeiter können so immerhin einige Wochen auf der Anlage bleiben, ehe sie in die maximal zulässige Höchstdosis von 100 Millisievert angesammelt haben.

Schema des Reaktorstandorts

Früher oder später müssen Arbeiter allerdings einen Blick ins Innere der über dreißig Meter hohen Sicherheitsbehälter werfen, denn es ist für die Bergung sehr wichtig, wie es im Inneren der Reaktorkerne aussieht. "Wenn der eigentliche Druckbehälter bei ein oder zwei der Reaktoren noch intakt ist, kann man ihn vielleicht als Ganzes bergen", sagt Hans-Josef Allelein, Inhaber des Lehrstuhls für Reaktorsicherheit und -technik an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Auch sonst sei denkbar, dass nur ein Teil der Brennstäbe geschmolzen ist, was die Bergung laut Allelein erleichtern würde. Die erstarrte Schmelze müsse man dagegen in handhabbare Segmente zerteilen und diese dann einzeln bergen, was ein beträchtlicher Mehraufwand ist.

Allzu viel Hoffnung, dass die Reaktorbehälter oder Teile der Brennstäbe noch intakt sind, haben Experten indes nicht. "Wir gehen davon aus, dass die Reaktorkerne in allen drei Blöcken mindestens teilweise geschmolzen und auf den Boden des Sicherheitsbehälters gefallen sind", meint Dokter. Das ist bei den in Japan durchgeführten Computersimulationen herauskommen, die für die GRS plausibel aussehen. Hans-Josef Allelein mahnt hingegen zur Geduld: "Auch bei Three-Mile-Island zeigten die damaligen Computersimulationen, dass der Reaktordruckbehälter kaputt sein müsste", sagt er. Erst Jahre nach der Kernschmelze in dem US-amerikanischen Kernkraftwerk habe man verstanden, warum die Schmelze den Reaktordruckbehälter nicht durchdrungen habe. Die Myonen helfen dann vielleicht doch schneller: Nach ein paar Monaten Datennahme konnten die Forscher damals in Ägypten ausschließen, dass sich noch unentdeckte Kammern im Zentrum der Cephren-Pyramide verbargen.

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