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Alternativlose Fakten: Wie wahr sind wissenschaftliche Tatsachen?

"Zu Fakten gibt es keine Alternative!", war einer der Slogans des "March for Science". Was soll das eigentlich heißen? Was sind diese Fakten überhaupt, von denen dauernd die Rede ist?
Wissenschaftsjournalisten präsentieren das Banner des Science March vor dem Gebäude der Uni Bonn.

"Zu Fakten gibt es keine Alternative!" Unter diesem Banner gingen im April 2017 beim "March for Science" weltweit mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße – um die derzeit als bedroht empfundene Stellung von Wissenschaft in der Gesellschaft zu verteidigen. Es ist der Gegenentwurf zu den "alternativen Fakten", auf die sich Trump-Beraterin Kellyanne Conway berief, als sie kurzerhand die Zuschauerzahlen bei der Vereidigungsfeier des US-Präsidenten frisierte. Fakten, so die Botschaft, sind der Wesenskern der Wissenschaft.

Doch die Aussage findet nicht überall Zustimmung. "Habe gerade einen Riesenschrecken bekommen", schrieb der renommierte Sozialwissenschaftler Armin Nassehi angesichts des Slogans. Wissenschaftskitsch sei der Satz und so schludrig formuliert, dass er ihn als Einstieg für seine Vorlesung verwenden werde. Die unterschiedlichen Bewertungen der scheinbar so klaren Aussage deuten auf ein tieferes Problem hin – und zwar mit den Fakten selbst, zu denen es keine Alternative geben soll. Was aber muss man sich unter dem Begriff vorstellen, der vermeintlich so zentral für die Wissenschaft ist?

Die Sache mit den Taten

Man soll zwar nicht den Fehler machen, die Herkunft eines Wortes für die maßgebliche Quelle dafür zu halten, was es heute bedeutet und wie man es heute benutzen soll, aber zumindest einmal darauf schauen kann man. "Fakten" kommt vom lateinischen "factum" (Mehrzahl "facta"), einer Substantivierung des vielseitig einsetzbaren Verbs "facere", das "tun", "machen", aber auch "handeln" oder "bewirken" heißen kann. Im eingedeutschten Synonym "Tatsache" steckt auch die "Tat".

Fakten scheinen also etwas damit zu tun zu haben, dass etwas getan oder gemacht wird oder wurde. So wird das Wort "Tatsache" denn auch juristisch verwendet. Wenn ich etwa den Rasenmäher meines Nachbarn nehme, damit meinen Rasen mähe und ihn vollgetankt wieder dorthin stelle, wo er war, sind das Tatsachen. Das Gericht wird versuchen – falls mein Nachbar mich anzeigt –, sie durch Zeugenaussagen oder andere Beweise festzustellen.

Was Tatsachen eigentlich sind, definiert das Recht nicht. Das ist in der Wissenschaft auch nicht anders – das meiste, was im Alltag von Wissenschaftlerinnen vorkommt, kann man problemlos tun, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Tatsachen eigentlich sind. Wenn man es dennoch tut, kommt man unter anderem auf den entscheidenden Unterschied, dass wissenschaftliche Tatsachenaussagen, wie man sie so kennt ("Spinnen sind keine Insekten", "Alle Gegenstände fallen gleich schnell"), eben nicht beschreiben, was eine Person getan oder gemacht hat, sondern etwas, was personenunabhängig sein soll. Etwas ist Tatsache oder nicht, ganz gleich, welche Menschen damit zu schaffen haben.

Bei Gericht sind die Tatsachen am Ende genau das, was in dem entsprechenden Passus des Urteils festgehalten wird. Dass der Rasenmäher je seinen Platz verlassen hat, mag nicht beweisbar sein; vielleicht haben verschiedene Zeugen oder Gutachterinnen dazu unterschiedliche Ansichten, außerdem ist das Gericht recht frei darin, Beweise zu würdigen. Mit Rechtskraft des Urteils ist der Fall erledigt. In der Wissenschaft dagegen gibt man sich damit nicht zufrieden.

"Eigentlich ist alles ganz anders"

Hier wie da gilt allerdings: Interessant wird es erst, wenn Uneinigkeit zwischen verschiedenen Menschen besteht, wenn es also tatsächlich "alternative" Sichten auf etwas gibt. Dabei ist die Vorstellung beliebt, dass sich auf das, was "Fakt ist", eigentlich alle einigen können müssten, die "gesunden Menschenverstand" und funktionierende Sinnesorgane haben. Dass zum Beispiel der Kölner Dom zwei Türme hat und nicht einen, fünf oder siebzehn, "sieht doch jeder". Natürlich könnte jetzt jemand einwenden, dass es "in Wirklichkeit" drei seien, man müsse den kleinen Turm über der Vierung mitrechnen – aber darauf ließe sich entgegnen, der sei kein Turm, sondern mangels ins Fundament durchgehender Konstruktion "eigentlich", "in Wirklichkeit", bloß ein "Dachreiter."

Mit der Einführung des Ausdrucks "in Wirklichkeit" hat man nun in Anspruch genommen, dass es etwas gibt, was über bloßen Behauptungen von Einzelpersonen steht. Streit über Tatsachen kann dadurch entstehen, dass Wörter durch verschiedene Menschen verschieden verwendet werden; die "Wirklichkeit" selbst steht unverrückbar. Man kann so weit gehen, zu erklären, die Wirklichkeit sei einfach die Summe aller Tatsachen.[1]

Wenn wir nun etwas behaupten, was offensichtlich keine Tatsache wiedergibt, dann ist die Behauptung entweder sinnlos ("Gestern globberte mein Schlonz frupig") oder falsch ("Der Bürgermeister von Berlin hat drei Köpfe"). Bei den falschen Behauptungen kann man dann je nach Intention der Behauptenden wiederum Irrtümer oder Lügen unterscheiden. Was hingegen Tatsachen wiedergibt, ist wahr – die Wahrheit ist das, was die Wirklichkeit abbildet.

Wahr ist, was wirklich ist?

Das ist jene Vorstellung von Fakten, die wir im Alltag am liebsten verwenden – auch beim Science March: Es gibt eine von den Menschen unabhängige Wirklichkeit, die aus Tatsachen besteht, die sich von vernünftigen Menschen mit funktionierender Wahrnehmung alle gleichermaßen klar erkennen lassen; und diese Tatsachen kann man beschreiben, indem man wahre Behauptungen aus sauber definierten Ausdrücken aufstellt. Dann ist es wirklich so, dass es nicht nur "keine Alternative zu Fakten" gibt – es gibt sogar zu keinem Fakt eine Alternative. Es gibt höchstens alternative sprachliche Formulierungen von Fakten ("Der Kölner Dom hat zwei Türme" vs. "Der Kölner Dom hat ein Turmpaar"). Aber zwei Fakten können nie in Konkurrenz zueinander treten: Wenn sie zugleich wahr sein können, sind sie unterschiedliche Fakten; wenn aber nicht, dann ist eines von ihnen eben kein Fakt.

Jenseits der Wahrnehmung | Physikalische Experimente gewähren Zugang zu Faktenwissen jenseits der subjektiven Anschauung – damit wir eine gemeinsame Basis haben, um über die Welt zu reden.

Dieses beliebte Konzept hat leider mehrere große Haken: So können wir gar nicht objektiv feststellen, ob jemand einen funktionierenden Sinnesapparat und gesunden Menschenverstand hat. Um zu beurteilen, ob er die Wirklichkeit korrekt wahrnimmt, bräuchten wir nämlich einen direkten Zugang zur Wirklichkeit. Wir können aber immer nur Abweichungen zwischen den Wahrnehmungen verschiedener Menschen feststellen.

Bestimmte "Sinnestäuschungen" haben alle – zum Beispiel sehen alle Menschen auf Meereshöhe den Horizont gerade, obwohl die Erdoberfläche gekrümmt ist. Manche Phänomene wie Magnetfelder oder Radioaktivität sind überhaupt nicht ohne Hilfsmittel und Messgeräte wahrnehmbar, aber woher wissen wir denn dann, dass diese Geräte tun, was sie sollen? Dann gibt es Wahrheiten, die nicht von Menschen unabhängig sind, aber Tatsachen zu beschreiben scheinen – zum Beispiel dass die Bundesrepublik Deutschland existiert oder dass mein Girokonto derzeit im Plus ist.

Wenn jemand an einem dieser Sätze zweifelt, kann ich ihn nicht vom Gegenteil überzeugen, indem ich ihn auffordere, sich die Brille zu putzen und genau hinzuschauen, sondern ich muss ihn bitten, sich mit anderen Menschen zu unterhalten, die es besser wissen als er, und ihnen zu glauben. Dann gibt es anscheinend auch Wahrheiten, die Tatsachen beschreiben, die sowohl menschenunabhängig als auch nicht durch Beobachtung zu überprüfen sind. Dass es etwa unendlich viele Primzahlen gibt, ist weder eine Sache des Hinschauens noch von Expertengutachten.

Zuletzt scheinen, ganz gleich, welche Tatsachen man beschreiben will, die verschiedenen gleichwertigen Möglichkeiten, dies zu tun, untereinander oft derartig in Konflikt zu stehen, dass unklar wird, was denn nun die "neutrale" Tatsache dahinter sein soll – vor allem, wenn menschliche Absichten oder die nicht mehr zugängliche Vergangenheit ins Spiel kommen. Der legendäre Streit in der deutschsprachigen Wikipedia darum, ob der Wiener Donauturm ein Fernsehturm sei, ist beispielsweise nicht als ein Streit über die korrekte Beschreibung von Form oder Material des Turms erklärbar, sondern involvierte auch die Frage danach, wie der Turm geplant war.

Wenn wir uns also die eben noch so logische Kette "unabhängige Wirklichkeit – Tatsachen – Wahrnehmung – wahre Behauptungen" anschauen, stellen wir fest, dass es überall klemmt: Wir gehen von Tatsachen aus, die weder Sache der Wahrnehmung noch der unabhängigen Wirklichkeit sind ("Mein Konto ist im Plus"); wir hantieren mit Wahrheiten, die wir mehr oder minder uneingestanden über unsere Wahrnehmung stellen ("Der Horizont ist gekrümmt"); wir führen über die korrekte Beschreibung von Tatsachen Streit, bei dem es gar nicht mehr sinnvoll möglich ist, an die Wahrnehmung zu appellieren ("Der Donauturm ist ein Fernsehturm"). Aber wo nehmen wir dann die wahren Behauptungen her? Die Wahrnehmung liefert sie uns offensichtlich nicht, und göttliche Offenbarung ist etwas außer Mode gekommen.

Sachen der Tat

Die andere, weniger bequeme Sicht auf Fakten ist deswegen, zunächst darauf zu schauen, was Menschen (Wissenschaftlerinnen und Nichtwissenschaftler) tun, und weniger darauf, wie sie die Welt beschreiben. Alle Menschen handeln zweckgerichtet: Sie wollen etwas Bestimmtes erreichen und müssen, wenn sie es erreichen wollen, erfahrungsgemäß bestimmte Bedingungen dafür berücksichtigen. Diese lassen sich als bedingte Aufforderungen ("Wenn du willst, dass dein Apfelmus hell bleibt, tu Zitrone dazu") oder als Behauptungen ausdrücken ("Apfelmus bleibt mit Zitrone hell"). Tatsachen sind dann das, was verschiedene Behauptungen, auf deren Basis nach demselben Schema erfolgreich gehandelt werden kann, ausdrücken, und das macht sie davon abhängig, wer da gerade was vorhat: Sie sind "Sachen der Tat"[2]. Umgekehrt gesagt: Wahrheiten werden dadurch wahr, dass man auf ihrer Basis zuverlässig erfolgreich handeln kann. Das ist das so genannte Preißler-Kriterium: "Entscheidend is' auf'm Platz".

Dann kann man sich allerdings darüber, welche Tatsachen wo und für wen gelten, weidlich streiten – ein Bergbewohner mag zum Beispiel behaupten, dass es ausreicht, Wasser auf 85 Grad Celsius zu erhitzen, damit es kocht, eine Talbewohnerin hingegen, dass es 100 Grad Celsius sein müssen. Beide haben Recht, solange sie ihre Messung stets nur am eigenen Herd durchführen. Das heißt aber gerade nicht, dass nun beide ihre eigenen Tatsachen hätten. Wenn sie sich treffen und darüber reden, wie das mit dem Wasserkochen ist und warum auf dem Berg der Tee nicht richtig schmeckt, dann unterstellen sie, dass es irgendwie möglich ist, die beiden widersprüchlichen Erfahrungen unter einen Hut zu bringen – hier durch Berücksichtigung des Luftdrucks. Vielleicht werden die beiden dazu eine Versuchsreihe aufziehen und dann eine Formel für den Siedepunkt entwickeln, die die Höhe über den Meeresspiegel einbezieht und auf deren Basis sie beide gleichermaßen erfolgreich handeln können. Die Vorstellung, dass es eine einheitliche Wirklichkeit gibt, in der unveränderliche und von Einzelpersonen unabhängige Tatsachen existieren, leitet Berg- und Talbewohnerin also in ihrem Sprechen und Tun an: Letztlich führt sie sie dazu hin, wissenschaftlich tätig zu werden.

Um zu unserem Spruchband zurückzukommen: Gerade weil es zu jedem Fakt Alternativen gibt, gibt es keine Alternative zu Fakten – zu der allgemeinen Vorstellung, dass es eine erkundbare Wirklichkeit und dass es Tatsachen gibt oder vielmehr: geben sollte. Dahinter steckt schließlich die Annahme, dass zumindest auf lange Sicht die unterschiedlichen Weltbeschreibungen verschiedener Einzelpersonen, verschiedener Gruppen, verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme, die an verschiedenen Orten, unter verschiedenen Umständen und mit verschiedenen Interessen wirken, versöhnt werden können. Das muss nun nicht unbedingt bedeuten, dass alle Erkenntnisse sich in ein einheitliches, widerspruchsfreies Weltbild einreihen, sondern es kann auch heißen, dass als Tatsache anerkannt wird, dass an bestimmten Punkten Widersprüche, Doppeldeutigkeiten oder Ungenauigkeiten prinzipiell nicht überwunden werden können. Man denke etwa an die Unvollständigkeitssätze in der Mathematik oder die Unschärferelation in der Physik.

Was genau hat sich jetzt geändert? Man kann es so ausdrücken: Unsere Alltagssprache und große Teile unserer philosophischen und naturwissenschaftlichen Tradition gehen davon aus, dass es irgendwo ein Regal voll blank polierter, von Menschen unabhängiger Tatsachen gibt, die wir nur klar erkennen müssen, um zu wissen, was wahr ist. Wenn wir uns genauer mit dieser Vorstellung beschäftigen, sehen wir, dass sie Probleme mit sich bringt, die schier unlösbar sind. Schauen wir aber darauf, wie Menschen (insbesondere in den Wissenschaften) tagtäglich handeln, stellen wir fest, dass wir die Idee des Faktenregals zwar nicht brauchen, um von Tatsachen reden zu können; dass wir aber, wenn wir uns in der Gemeinschaft austauschen, stillschweigend davon ausgehen, dass es das Regal doch geben sollte, nur dass wir es selbst füllen – und dass wir uns bewusst sind, dass manche Fächer vielleicht leer bleiben müssen.

Man könnte den Spruch auf dem Banner umformulieren: "Handelt so, dass es zu Fakten möglichst keine Alternativen geben soll." Das ist zugegebenermaßen weniger griffig, und man fängt sich damit eine Diskussion darum ein, wie genau diese Maxime denn umzusetzen ist. Aber Wissenschaft heißt eben auch, genau solche Diskussionen zu führen. Die Vorstellung, dass die Fakten alle auf der Hand liegen und Wissenschaft dann lediglich heißt, mit ihnen etwas möglichst Cooles anzustellen ("Science, bitch!"), mag populär sein, schadet aber letztlich dem Projekt Wissenschaft selbst.

[1] "Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge" (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, London 1922, § 1.1)

[2] Peter Janich, Handwerk und Mundwerk, München 2015, S. 162

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