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Medizingeschichte: Von Cholera bis Corona

Was machen Pandemien mit unserer Gesellschaft? Historisch betrachtet trieben sie stets den Ausbau der öffentlichen Gesundheitssicherung voran. Heute greifen wir auf die dabei entstandenen Institutionen zurück.
Barbiere und Frisöre mit Mund-Nase-Bedeckung während der Spanischen Grippe 1918

Die aktuelle Covid-19-Pandemie, verursacht vom Virus Sars-CoV-2, beeinflusst das gesellschaftliche und soziale Leben weltweit in außerordentlichem Maße. Schon früh herrschte weitgehend Einigkeit, die Beschränkung sozialer Kontakte sei der richtige Weg, um die Ausbreitung des Virus zumindest so weit zu verlangsamen, dass die medizinischen Infrastrukturen alle ernsthaft Erkrankten auffangen und versorgen können. Wenig später begann allerdings die Stimmung in Teilen der Bevölkerung zu kippen; es machte und macht sich weiterhin Kritik an den seuchenpolitischen Maßnahmen und den dadurch bedingten Freiheitseinschränkungen breit, die nicht als reines Störgeräusch von Verschwörungstheoretikern abgetan werden kann. Da stellt sich unter anderem die Frage, wie die Menschen früher mit Pandemien umgegangen sind – und was daraus zu lernen ist.

Zwar ist Covid-19 fraglos ein neues Phänomen, und unsere Gesellschaft geht die damit verbundenen Herausforderungen mit moderner Technik an, die früher nicht zur Verfügung stand – man denke nur an Homeoffice, Homeschooling und die Corona-Warn-App. Doch die Debatten selbst, der Streit über das richtige Handeln angesichts beschränkten Wissens sowie das Gerangel um die medizinischen und politischen Weichenstellungen hat es in ähnlicher Form bereits bei früheren Epidemien gegeben.

Zu den recht gut dokumentierten Pandemien gehört die Cholera, die sich im Zuge der Industrialisierung und vor allem der Ausbreitung städtischer Lebensformen in den damaligen Industriestaaten verbreitete. Die bakterielle Infektionskrankheit erreichte 1830 erstmals Europa und löste im Lauf des 19. Jahrhunderts mehrere Pandemien aus. Sie beschleunigte eine Entwicklung, die schon zuvor eingesetzt hatte, nämlich dass Gesundheit von staatlicher Seite einen »öffentlichen Werth« (Lorenz von Stein, 1815–1890) zugesprochen bekam und staatliche Institutionen versuchten, eine umfassende Gesundheitssicherung einzurichten. In diesem Zusammenhang formulierten Naturwissenschaftler damals das Konzept einer geschlossenen Hygiene, die vor allem am Lebensumfeld der Menschen ansetzte.

Der führende Vertreter dieser Umgebungs- oder Konditionalhygiene in Deutschland war Max von Pettenkofer (1818–1901), der erste deutsche Professor für Hygiene. Seine thematisch und methodisch äußerst vielfältigen Arbeiten wurden wesentlich durch die Choleraepidemien der 1850er Jahre vorangetrieben. Pettenkofer durchleuchtete mit chemischen und physiologischen, später auch technischen und statistischen Methoden sämtliche Verhältnisse, die sich auf die Gesundheit und das Leben der Menschen auswirken können: Ernährung, Kleidung, Heizung, Lüftung, Licht- und Bodenverhältnisse, Hygiene in Schulen, Krankenhäusern und Massenunterkünften, Wasser und Wasserversorgung, Kanalisation sowie die speziellen Lebensbedingungen in Städten. Pettenkofers Untersuchungen und seine experimentellen Methoden einer verbesserten Hygiene führten zusammen mit dem Problem der Krankheitsverhütung, das sich in großen Städten und neuen Industrieregionen immer schärfer stellte, zu einer modernen Gesundheitspolitik. Gesundheitssicherung wurde zu einem eigenen Politik-, Wirtschafts- und Verwaltungsbereich, und es erfolgten bis dahin unvorstellbar große Investitionen in die gesundheitsrelevante Infrastruktur der Städte. Davon betroffen waren unter anderem Wohnhäuser, Nahrungsmittelversorgung, Straßenbau, Kanalisation, Gewerbehygiene, Schlachthäuser, Markthallen, Müllabfuhr und vieles mehr.

Ursachenforschung | Ein 1895 in Amerika erschienenes Buch bildete diese Grafik ab, mit deren Hilfe der Mediziner Robert Koch einen Choleraausbruch 1892 in Hamburg analysierte. Eingezeichnet sind Wasserleitungen, Straßen, Gebäude, Höfe und Wasserpumpen in einem Hamburger Stadtteil.

Als die Cholera wütete, sah Pettenkofer die Ursachen dafür im Grundwasser und im Boden. Andere Wissenschaftler, etwa der italienische Anatom Filippo Pacini (1812–1883), vertraten die Ansicht, die Krankheit werde durch Bakterien hervorgerufen. Sie konnten sich aber nicht durchsetzen, bis es dem Mediziner Robert Koch (1843–1910) in den 1880er Jahren gelang, Choleraerreger in Reinkultur zu gewinnen. Koch erkannte zudem, dass die Bakterien mit Wasser übertragen werden.

Den Ansatz, bakterielle Keime als Ursache einer Erkrankung nachzuweisen, hatte Koch zunächst am Milzbrand und an Wundinfektionen entwickelt und auf die Tuberkulose angewendet. Er löste damit einen Höhenflug der Bakteriologie aus; zahlreiche Forscher traten in seine Fußstapfen und entdeckten bald einen Infektionserreger nach dem anderen. Für das Gesundheitswesen bedeutete dies einen wichtigen Strategiewechsel: Jetzt ließen sich Erreger spezifisch bekämpfen, etwa durch Isolieren der Keimträger; zudem konnte man Zwischenwirte und Übertragungswege in den Blick nehmen. Therapien, die auf eine Immunisierung der Patienten abzielten, verhießen eine gesündere Zukunft.

Horizontale versus vertikale Sichtweise

Die alternativen Sichtweisen – entweder das Lebensumfeld oder spezifische Erreger als Krankheitsursache – gerieten schon bald in Konflikt miteinander. Pettenkofer versuchte, das Krankheitsgeschehen ganzheitlich zu sehen und daraus Interventionen im öffentlichen Bereich abzuleiten. Aus heutiger Perspektive formuliert, betrachtete er das Seuchengeschehen als einen umfassenden, komplexen Vorgang und griff »horizontal« ein, indem er darauf hinwirkte, das gesamte Umfeld der Betroffenen zu sanieren. Er sah im jeweiligen Keim zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Ursache für den Ausbruch einer Erkrankung.

Koch dagegen ging stets von der spezifischen Wirksamkeit des Keims aus, wie sie sich im Labor nachweisen ließ. Er hatte ausschließlich das Ziel, den bakteriellen Keim zu isolieren und zu vernichten beziehungsweise die Infektionskette zu unterbrechen – sowohl im klinischen Bereich als auch später in seinen öffentlichen Maßnahmen der Seuchenkontrolle. Anders gesagt: Koch griff »vertikal« ein und kümmerte sich nicht oder kaum um die Umgebung der Betroffenen.

Cholerabakterien | Elektronenmikroskopische Aufnahme von Vibrio-cholerae-Bakterien, den Erregern der Cholera. Sie wurden bereits 1854 von dem italienischen Anatomen Filippo Pacini beschrieben.

Dieser Konflikt äußerte sich unter anderem in einem bemerkenswerten medizinhistorischen Geschehnis. Während der Choleraepidemie in Hamburg 1892 verkündete Koch, das krank machende Bakterium und seine Verbreitung über das Trinkwasser sei die alleinige Ursache. Max von Pettenkofer und seinen Schüler Rudolf Emmerich (1852–1914) provozierte das zu einem Selbstversuch. Beide schluckten im Oktober 1892 eine Lösung mit Cholerabakterien (Vibrio cholerae), die sie sich aus Kochs Labor hatten zusenden lassen. Ihre Überlegung: Sollte eine Infektion mit den Mikroben tatsächlich ausreichen, um Cholera zu verursachen, würden sie erkranken – andernfalls nicht.

Pettenkofer bekam nur leichte Symptome, Emmerich hingegen starb fast. Pettenkofer veröffentlichte einen minuziösen Bericht des Selbstversuchs, in dem er resümierte, die Aufnahme von Cholerabakterien allein mache nicht krank, sondern es käme auf die Umweltbedingungen an. Eine keimfreie Wasserversorgung genüge keinesfalls zur Seuchenabwehr, sondern es müssten auch die örtlichen Verhältnisse so gestaltet werden, dass eine Epidemie überhaupt nicht entstehen könnte. Er schloss bissig: »Ich würde ja gerne auch Kontagionist werden, die Ansicht ist ja so bequem und erspart alles weitere Nachdenken.«

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Zu einem weiteren Schlagabtausch zwischen den Schulen Kochs und Pettenkofers kam es infolge der Gelsenkirchener Typhusepidemie von 1901. Rund 3300 Menschen erkrankten, etwa 500 von ihnen starben an dem Infekt. Weil der Sommer trocken und der Wasserverbrauch hoch gewesen war, hatten die Betreiber des lokalen Wasserwerks kurzerhand ein Rohr in die Ruhr gelegt und darüber ungereinigtes Wasser ins Leitungswerk eingespeist. Koch, als Experte hinzugerufen, bemerkte das schnell und betrachtete die Ursache als ermittelt; der ungereinigte Zufluss wurde abgedreht.

1904 gab es dazu einen Gerichtsprozess, in dem Koch und Emmerich als Gutachter auftraten. Der Erste war überzeugt davon, Typhusbakterien im Trinkwasser (die sich nach vielen Versuchen im Labor hatten nachweisen lassen) hätten die Epidemie verursacht. Der Zweite beharrte darauf, die mangelnde Hygiene in der völlig verschmutzten und verwahrlosten Region sei der Grund gewesen. Die Debatte eskalierte, als herauskam, dass die Wasserwerksbetreiber bereits seit mehr als einem Jahr die Ruhr permanent angezapft hatten. Somit war lange Zeit mehr als ein Drittel des eingespeisten Trinkwassers nicht vorgeklärt gewesen, ohne dass es zu einer Seuche gekommen war. Die Richter sahen sich außer Stande, ein Urteil zu fällen. Als Ergebnis des Streits erhielt Leitungswasser jedoch den Status eines Nahrungsmittels, als das es in Deutschland bis heute behandelt und daher streng kontrolliert wird.

Feldhospital | Während der Choleraepidemie 1892 in Hamburg entstand ein Feldhospital, um die Kranken zu isolieren und zu behandeln. Die Seuche forderte zirka 8600 Tote.

Die Cholera forcierte nicht nur eine neue Sichtweise auf Krankheiten und Seuchen, sie zeigte auch deutlich auf, wie sehr internationale Bemühungen zur Gesundheitssicherung notwendig geworden waren. Die Infektionskrankheit verbreitete sich in mehreren Pandemiewellen um den Globus, begünstigt durch den internationalen Schiffsverkehr, der im Zuge von Imperialismus und Industrialisierung erheblich zunahm. 1817 bis 1824 erreichte sie, wohl von Indien ausgehend, Europa; 1826 bis 1841 gelangte sie bis nach Nordamerika. Zwischen 1852 und 1876 flammte sie, unter anderem wegen des Krimkriegs, mehrmals in Europa auf, von wo sie abermals nach Amerika übersprang. Eine weitere Welle zwischen 1882 und 1896 verursachte im Jahr 1892 eine Epidemie in Hamburg, die 8600 Menschen das Leben kostete und bis heute in Erinnerung geblieben ist. An Bord von Schiffen gelangten infizierte Auswanderer von Hamburg nach New York, wo sich die Seuche weiter ausbreitete.

Bei Krankheitsverdacht mit Kreide markiert

Um so etwas künftig zu verhindern, ließ die US-Bundesregierung künstliche Inseln im Hafengebiet bei New York City aufschütten, wo man eintreffende Einwanderer mit ansteckenden Krankheiten in Quarantäne halten konnte. 1892 wurde auf Ellis Island eine Quarantäne-Durchgangsstation gegründet, die bis heute zu besichtigen ist. Dort ging es durchaus rabiat zu: Kranke durften nicht passieren und mussten wieder abreisen, Kinder wurden von ihren Eltern getrennt. Hatten Ankommende das Schiff verlassen, mussten sie eine Treppe nutzen, um sich registrieren zu lassen. Stationsmitarbeiter begutachteten den Gang der Einreisenden bereits auf den Stufen und untersuchten danach deren sonstigen Gesundheitszustand. Verdächtige bekamen ein Kreidezeichen auf den Rücken und mussten längere Zeit in Quarantäne. Im Volksmund bekam die Insel deshalb schon bald den Namen »Isle of Tears«.

Während der Schiffsverkehr der Cholera half, die Ozeane zu überwinden, hing die kontinentale Ausbreitung der Krankheit häufig mit Truppenbewegungen zusammen. Generell zeigte sich, dass der im 19. Jahrhundert ständig zunehmende Strom von Waren und Menschen auf Straßen, Gleisen und Schiffsrouten eine staatenübergreifende Gesundheitssicherung immer nötiger machte. Wegen der nun regelmäßig wiederkehrenden Seuchen fanden seit Mitte des Jahrhunderts sowohl regionale als auch internationale Gesundheitskonferenzen statt, die 1903 in eine internationale Hygiene-Konvention (unterzeichnet im Rahmen der 11. International Sanitary Conference) mündeten. 1920 richtete der Völkerbund gelegentliche Epidemie-Kommissionen ein und gründete 1923 eine Hygiene-Sektion sowie einen Beraterstab. 1948 wurde die Weltgesundheitsorganisation gegründet.

Eine konkrete Folge dieser Bemühungen waren Büros an zentralen Stellen des internationalen Seeverkehrs, die das Seuchengeschehen überwachen, die entsprechenden Meldungen weitergeben und etwaige Quarantänemaßnahmen durchführen sollten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand zunächst die Cholera; nach dem Ausbruch einer Pestwelle im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert trat diese Krankheit ebenfalls in den Fokus sowie das Gelbfieber, das Ende des 19. Jahrhunderts den Bau des Panamakanals mehrfach zum Erliegen brachte.

Die Cholera und die Methoden zu ihrer Bekämpfung waren freilich nicht nur unter Politikern und Medizinern ein Thema. Auch in den öffentlichen Debatten des 19. Jahrhunderts spielte die Seuche eine maßgebliche Rolle. Zeitgenössische Schilderungen erwecken zuweilen den Eindruck, unter dem Druck der Epidemie seien zivilisierte Weltstädte im Chaos versunken. Eindrücklich findet sich das etwa bei dem Dichter Heinrich Heine (1797–1856), der seine Berichte aus Paris 1832 unter dem Titel »Französische Zustände« in der »Augsburger Allgemeinen Zeitung« veröffentlichte. Die Seuche hatte die französische Hauptstadt am 29. März erreicht; die Menschen brachen auf offener Straße zusammen, Entsetzen und Hilflosigkeit machten sich breit. Man mied die Infizierten und ließ Kranke und Sterbende allein, was durchaus gewisse Parallelen zum Umgang mit Covid-19 aufweist. Und genauso wie heute blühten schon damals abstruse Verschwörungsmythen. »Giftmischerei« sollte das große Sterben ausgelöst haben, »Verdächtige« wurden von aufgebrachten Passanten erschlagen, die Aufklärung war vielfach passé, es herrschte blanke Angst.

Ausgrenzung, Stigmatisierung, Verdächtigung und Denunziation waren immer wiederkehrende Begleiterscheinungen der Cholerapandemien. Auch hier lassen sich gewisse Ähnlichkeiten zu heute erkennen: Waren es früher die »französischen Zustände«, so sind es nun ständige Verweise auf Karnevalisten, Skifahrer oder Jugendliche, die sich trotz Kontaktsperre treffen; oder die aufputschende Covid-Berichterstattung in manchen Medien, die dem Publikum am laufenden Band angebliche Skandale und Schauergeschichten liefert.

Empfundene und tatsächliche Gefahr

Aus den Berichten des 19. Jahrhunderts ergibt sich leicht der Eindruck, die Cholera habe an der Spitze der tödlichen Krankheiten gestanden. Bereits ein kurzer Blick in zeitgenössische Kranken- und Todesstatistiken der Zeit zeigt aber etwas anderes. In Berechnungen des deutschen Mediziners Friedrich Oesterlen (1812-1877) zur Sterblichkeit in England zwischen 1850 und 1859 beispielsweise erscheint in der Klasse der »zymotischen Krankheiten« (eine damalige Bezeichnung für Infektionskrankheiten, die deren Ähnlichkeit mit chemischen Gärungsvorgängen betonte) die Cholera erst an achter Stelle der Todesursachen; lediglich während einer Epidemie 1854 rückte sie auf Platz eins. Weit mehr Tote in dieser Erkrankungsgruppe forderten Scharlach, Typhus und Diarrhoe, mit großem Abstand gefolgt von Keuchhusten, Masern, Pseudokrupp und Pocken – und erst dann Cholera.

Das zeigt: Die Wahrnehmung öffentlicher Gesundheitsgefahren ist nicht nur von tatsächlichen Risiken bestimmt. Vielmehr haben wir es im historischen Rückblick oft mit »skandalisierten Krankheiten« zu tun. Mit diesem Begriff bezeichnen wir – rein beschreibend, nicht wertend – Erkrankungen, deren tatsächliche epidemiologische Bedeutung in einem Missverhältnis zu ihrer öffentlichen Wahrnehmung und den daraus folgenden Reaktionen steht. Skandalisierte Krankheiten haben die Maßnahmen öffentlicher Gesundheitssicherung nachhaltig geprägt, wobei das nicht immer auf rational nachvollziehbare Weise geschah. Vielmehr bilde(te)n akute und als bedrohlich empfundene Seuchen wichtige Argumente, um öffentliche Gesundheitsleistungen zu diskutieren und durchzusetzen.

Spanische Grippe | Der Ausbruch der Spanischen Grippe ließ die Todesraten in amerikanischen und europäischen Städten stark ansteigen. Dieses zeitgenössische Diagramm zeigt das für die Jahre 1918 und 1919.

Skandalisierte Krankheiten sind nicht immer vordringliche Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Sie erzeugen aber Furcht, da über sie wenig bis nichts bekannt ist, da sie exotisch erscheinen oder weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Prozesse richten, die häufig bereits im Gang sind – heute etwa die fortschreitende Globalisierung oder die Zerstörung natürlicher Habitate. Der Konflikt zwischen statistischen Erhebungen, Risikoabschätzungen und individueller Wahrnehmung ist hier oft nur schwer zu lösen. Menschen nehmen Krankheitsstatistiken zwar auf einer abstrakten Ebene wahr, beziehen sie aber nicht konkret auf sich: Sie interessieren sich nicht für Fallzahlen, sondern dafür, ob sie selbst krank werden.

Die Cholerapandemien lagen noch nicht lange zurück, als eine neue Seuche auftauchte, die zu weltweiten Verwerfungen führte. In den Jahren 1918 und 1919 verbreitete sich die so genannte Spanische Grippe, eine Influenza, um den Globus und forderte Abermillionen Todesopfer. Politiker und Ärzte standen vor einem Rätsel: Weder war klar, was die Krankheit verursachte, noch wie sich die Pandemie stoppen ließ. Deutsche Mediziner spekulierten, Hilfstruppen der Entente (der Erste Weltkrieg lag in den letzten Zügen) könnten die Krankheit aus dem Fernen Osten eingeschleppt haben. Auch Truppenlager der Amerikaner wurden als Quelle verdächtigt. Auf Seiten der Alliierten kolportierte man das Gerücht, die Deutschen hätten eine biologische Waffe in Umlauf gebracht.

Bis heute wird die Pandemie als Spanische Grippe bezeichnet, da in Spanien, das nicht aktiv am Krieg teilnahm, eine weniger scharfe Pressezensur herrschte als in den Krieg führenden Staaten, weshalb die ersten Nachrichten über die Influenza von dort kamen. Spanische Ärzte hatten als Erste in Europa schärfere Maßnahmen zum Schutz vor der Krankheit eingeleitet. Im Deutschen Reich dagegen war man zögerlich. Ende Mai 1918 erreichte die Pandemie Deutschland; im Juli und im Oktober kam der Reichsgesundheitsrat zusammen, um über die zunehmenden Krankheits- und Todesfälle zu beraten. Obwohl sich die Situation in diesem Zeitraum deutlich zugespitzt hatte, beschloss der Rat weder eine Meldepflicht der Erkrankung noch ein Versammlungsverbot. Zahlreiche Ärzte forderten, Theater zwecks Eindämmung der Seuche zu schließen und Veranstaltungen abzusagen; die Kommunen jedoch versuchten, das so weit wie möglich zu verhindern. Bei politisch Verantwortlichen herrschte die Sorge, derartige Eingriffe könnten die ohnehin bröckelnde »Heimatfront« schwächen. Es wurde lediglich Schulen anheimgestellt, falls nötig zu schließen. Die Bevölkerung erhielt den Rat, sich häufig die Hände zu waschen, mit Salzwasser zu gurgeln und bei Erkrankung im Bett zu bleiben.

Beobachtete Symptome | Zu den besonders häufigen Symptomen der Spanischen Grippe in amerikanischen Militärcamps gehörten plötzliches Erkranken, Erschöpfung und Fieber.

Unterdessen stritten Wissenschaftler darum, was der Auslöser der Spanischen Grippe sei. Da sich kein bakterieller Keim dingfest machen ließ, griffen manche Forscher auf überholte, historisch-geografische Vorstellungen zur Seuchenentstehung zurück. Schließlich kam die Theorie auf, ein Virus (noch nicht in der heutigen Bedeutung, sondern im Sinne eines »Giftes«) sei der Verursacher.

Weit entfernt von diesem theoretischen Diskurs arbeiteten die praktizierenden Ärzte an den Krankenbetten. In ihrem therapeutischen Bemühen waren sie zumeist hilflos. Hausmittel wie Alkohol, Kaffee, Hühnersuppe oder Tee hatten Konjunktur. Die hohen Sterberaten dokumentieren, wie wenig effektiv solche Maßnahmen waren. Mediziner stritten darum, wie wirksam die verschiedenen Ansätze der öffentlichen Gesundheitssicherung gewesen seien – selbst noch, als das Schlimmste bereits vorbei war. Im Jahr nach der Pandemie nahm der Diskurs über »Public Health« in den westlichen Industriestaaten sogar an Fahrt auf und avancierte zum vorherrschenden medizinischen Debattenthema. Die Gesundheitspolitik und -propaganda widmete sich diversen Aspekten: von der körperlichen Verfassung über das soziale Umfeld, die Umweltbedingungen und Ernährung bis hin zur Vererbung. Gesundheitsfürsorge erfasste beinahe alle Bereiche menschlichen Lebens; Krankheitsprävention war das Gebot der Stunde. Der amerikanische Schriftsteller Sinclair Lewis (1885–1951) hat dieses Phänomen in seinem Roman »Arrowsmith« von 1925 gekonnt karikiert und dabei beschrieben, wie Gesundheitspolitiker »Bessere-Babys-Wochen«, »Mehr-Babys-Wochen« und »Anti-Tuberkulose-Wochen« veranstalten, sich für frische Luft, weniger Alkohol- und Nikotinkonsum und gesündere Zähne engagieren und nach dem Nutzen von Gesichtsmasken während einer Influenzapandemie fragen.

Vorsichtsmaßnahmen | Auf diesem Bild von 1918 verweigert ein Straßenbahnschaffner in Seattle (USA) einem Fahrgast die Mitfahrt, weil dieser keine Gesichtsmaske trägt.

Was bedeutet das alles im Hinblick auf Sars-CoV-2? Viele Aspekte der Covid-Pandemie kommen uns von früheren Epidemien her bekannt vor, wenngleich wir uns hüten müssen, die Geschichte nur für Vergleiche mit der Gegenwart zu nutzen. Die Gesellschaften, der Wissens- und Kenntnisstand und die medizinischen Möglichkeiten damals und heute unterscheiden sich dafür zu sehr. Was wir aber mitnehmen können aus medizinhistorischen Betrachtungen: Jede Zeit greift auf vorherige Muster der Gesundheitssicherung zurück, die sie weiterdenkt und weiterentwickelt.

In den 1920er Jahren, kurz nachdem die Spanische Grippe gewütet hatte, bestimmte Krankheitsprävention auf allen Ebenen die gesellschaftlichen Debatten. Da man weder den Erreger kannte noch eine zielgerichtete Therapie existierte, mussten die Menschen auf uralte Mechanismen der Seuchenbekämpfung ausweichen: Händewaschen und Lüften, Gesichtsmasken und Schulschließungen und so weiter. Die anschließende Ausweitung der Präventionsmaßnahmen setzte auf horizontale Eingriffe, also eine umfassende Verbesserung des Lebensumfelds, wie sie Max von Pettenkofer Jahrzehnte zuvor entwickelt hatte.

Auf diesen Pfaden bewegen sich auch die Schritte gegen die aktuelle Pandemie. Während Mediziner und Gesundheitspolitiker letztlich auf die Impfung als möglichst effektiven vertikalen Eingriff hoffen, versuchen sie bis dahin horizontale Ansätze wie Abstandsregeln, allgemeine Hygiene, Maskenpflicht und Versammlungsverbote durchzusetzen. Sie diskutieren Lebensbedingungen von Fabrikarbeitern, das Zusammenleben von Mensch und Tier, klimatische Bedingungen und menschliches Verhalten, Risikofaktoren wie Alter oder Geschlecht und wie sich dem horizontal begegnen lässt, etwa durch Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen. Sie greifen dabei auf internationale Institutionen zurück, die sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt und bewährt haben.

Ebenso reagiert die Bevölkerung auf eine Weise, die historische Parallelen hat. Ob Ausgrenzung, etwa das Einfordern einer Grenzschließung; Stigmatisierung, etwa als »Corona-Leugner«; Verdächtigung, beispielsweise hinsichtlich einer angeblich geplanten staatlichen »Umgestaltung«; Denunziation, heute vielfach über die »sozialen Medien«; bis hin zu grotesken Verschwörungsmythen. Einige Medien versuchen ebenfalls, wie aus der Geschichte vielfach bekannt, mit Skandal-, Angst- und Empörungsgeschichten die Situation für sich auszunutzen. Eine wichtige Frage, die sich wohl erst nach der Pandemie abschließend beantworten lassen wird, ist die, inwiefern es sich bei Covid-19 um eine skandalisierte Krankheit handelt. Die wichtigste aber wird wohl sein, was die heutigen Gesellschaften aus der Erfahrung mit Sars-CoV-2 für ihr künftiges kulturelles Miteinander lernen. Neben einer besseren Prävention sowie einer zügigeren Reaktion auf Seuchen sollte dazu sicherlich zählen, Härten und Ungerechtigkeiten, die aus Schutzmaßnahmen folgen, zu minimieren und auszugleichen.

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  • Quellen

Cochrane, A. L.: Effectiveness and efficiency. Random reflections on health services. London: Nuffield Provincial Hospital Trust, 1972

Lilienfeld, A. M., Lilienfeld, D. E.: Foundations of epidemiology. Oxford University Press, 1980

Lilienfeld, A. M. (Hg.): Times, places, and persons. Aspects of the history of epidemiology. Conference on the history of epidemiology, 1978 (Bulletin of the history of medicine. The Henry E. Sigerist supplements, new series, 4). Johns Hopkins University Press, 1980

Tomkins, S. M.: The failure of expertise: Public health policy in Britain during the 1918–19 Influenza epidemic. Social History of Medicine 5, 1992

Witte, W.: The plague that was not allowed to happen. German medicine and the influenza epidemic of 1918–19 in Baden. In: Phillips, H., Killingray, D. (Hg.): The Spanish Influenza Pandemic 1918–19. New perspectives (Routledge Studies in the Social History of Medicine). Routledge 2003, S. 49–57

Literaturtipp

Fangerau, H., Labisch, A.: Pest und Corona – Pandemien in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Herder, München 2020

Die Autoren nehmen historische Pandemien in den Blick. Sie erörtern, wie Seuchen das öffentliche und private Leben verändert haben, welches ihre natürlichen, sozialen, historischen und kulturellen Hintergründe waren und worauf wir uns künftig einrichten müssen, wenn wir unsere Lebensart bewahren wollen.

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