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Vor 200 Jahren: Wiener Kongress: Die Stunde der Reaktion

1815 endete das erste große Gipfeltreffen der Oberhäupter Europas. Der Wiener Kongress brachte neue Staaten hervor, ein neues Gleichgewicht - und neue Konflikte.
Die Schlussakte des Wiener Kongresses

Im Herbst 1814 kamen in Wien Europas Herrscher zusammen, um nach langem, aber siegreichem Kampf gegen Napoleon den Kontinent neu zu ordnen. Der verhasste »korsische Teufel« war nach Elba verbannt worden. Jetzt galt es, die Konkursmasse seines Imperiums aufzuteilen, Europas Staaten neue Grenzen zu geben, alte Herrschaften neu zu bestätigen oder neue einzusetzen. Etabliert werden sollte die Balance der Kräfte, ein auf die Sicherheitsmaxime des 18. Jahrhunderts zurückgehendes »System des Gleichgewichts in Europa«, die die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden sollte.

Nach den Friedensschlüssen von Münster (1648) und Utrecht (1713), die den Dreißigjährigen Krieg beziehungsweise den Spanischen Erbfolgekrieg beendeten, ist der Wiener Kongress von 1814/15 der dritte ernsthafte Versuch, mit den Waffen der Diplomatie eine gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen. Doch anders als bei seinen Vorgängern im 17. und 18. Jahrhundert nahmen am Wiener Kongress die Staatsoberhäupter Europas persönlich teil.

Das Konzert der Großen

Der Wiener Kongress war ein diplomatisches Großereignis. Niemals zuvor waren so viele Fürsten zusammengekommen, um direkt miteinander zu verhandeln: Rund 300 königliche und fürstliche Delegationen gaben sich vom 18. September 1814 bis zum 9. Juni 1815 in der Donaumetropole die Klinke in die Hand – darunter 33 Vertreter deutscher Kleinstaaten sowie vier freier deutscher Städte. Das Sagen auf dem Kongress aber hatten die vier Siegermächte, bestehend aus Russland, Österreich, Preußen und England, sowie Frankreich, das zunächst nur informell in diesen exklusiven Klub der Großen aufgenommen worden war. Dieser Fünferausschuss bildete als »Zentrum und Sitz aller Geschäfte« das ausschlaggebende Gremium des Kongresses, das über die Geschicke Europas bestimmen sollte, so wie es die vier Siegermächte bereits in einem geheimen Zusatzabkommen des Pariser Friedensvertrags vom 30. Mai 1814 festgelegt hatten.

Der Wiener Kongress | »Le congrès ne marche pas, il danse«, soll Charles Joseph de Ligne einst gesagt haben: »Der Kongress schreitet nicht voran, er tanzt.« Tatsächlich waren gemeinsame Sitzungen aller Delegierten wie auf diesem zeitgenössischen Stich von Jean-Baptiste Isabey die Ausnahme.

Der Wiener Kongress war keine Konferenz im modernen Sinn: keine feierliche Eröffnung mit allen Teilnehmerstaaten, keine geregelten Plenarsitzungen unter der Leitung eines Präsidenten. Dafür wurde hinter den Kulissen in Kabinetten, informellen Besprechungen und vertraulichen Unterredungen verhandelt, oder man traf sich ständig zu gesellschaftlichen Anlässen. Schließlich soll der Kongress nach dem berühmten Bonmot des österreichischen Fürsten Charles-Joseph de Ligne ja ausgiebig getanzt haben. Tatsächlich aber wurde gefeiert und verhandelt, wobei das gesellschaftliche Rahmenprogramm, bestehend aus Hofbällen, Banketten, Konzerten, Theatervorstellungen, Heeresmanövern, Jagden und Spazierfahrten dazu diente, »Kontakte zu knüpfen und Absprachen zu treffen«, so die Kulturwissenschaftlerin Hazel Rosenstrauch über den politischen Wert des festlichen Treibens.

Der Kongress als Ganzes trat nur ein einziges Mal am 9. Juni 1815 zur Unterzeichnung der Schlussakte zu einer öffentlichen Sitzung zusammen, weswegen Talleyrand spöttisch vom »Kongress, der nie stattfand« sprach. Zur Klärung einzelner Problemfelder wurden spezielle Fachkommissionen und Ausschüsse geschaffen: An territorialen Kriterien orientierten sich das Deutsche und das Schweizer Komitee. Andere beschäftigten sich mit dem Verbot des Sklavenhandels, den Rechten der deutschen Juden, der freien Schifffahrt auf europäischen Flüssen, der Neuordnung diplomatischer Spielregeln und – eminent wichtig – mit statistischen Angelegenheiten, da anhand der Bevölkerungszahl die territoriale Neuordnung Europas entschieden wurde.

Regisseure des Kongresses

Die Hauptakteure des Wiener Gipfeltreffens waren der russische Zar Alexander I., ein ebenso zielstrebiger wie kaltschnäuziger politischer Taktiker, der überzeugt war, von Gott zur Erlösung der Welt berufen zu sein; der britische Außenminister Lord Castlereagh, ein etwas unterkühlter, aber kühl kalkulierender Realpolitiker, der in Vertretung des schwer kranken Königs Georg III. in die Donaumonarchie gekommen war; der scheue und melancholische Preußenkönig Friedrich Wilhelm III.; der blitzgescheite Opportunist Charles Maurice de Talleyrand-Périgord, der als Verhandlungsführer des von den Siegermächten wieder eingesetzten Bourbonenkönigs Ludwig XVIII. versuchte, aus den Trümmern des napoleonischen Reiches für Frankreich das Beste herauszuholen – und, last, but not least, der österreichische Außenminister Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich, in dessen Vorstellungswelt die Aristokratie mit jener »Legitimität« regierte, die ihr per Geburtsrecht zustand.

Fürst von Metternich | Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich (1773 – 1859) war Außenminister des Kaisertums Österreich. In seinem Amtssitz, dem Palais am Ballhausplatz, wurde der Kongress abgehalten. Heute befindet sich in dem Gebäude das österreichische Bundeskanzleramt.

Als selbst ernannter »Kutscher Europas« orchestrierte Metternich nicht nur höchst taktvoll die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse des Wiener Mächtekonzerts, sondern wachte als Hüter der alten Ordnung mit Argusaugen darüber, dass nicht einmal der Lufthauch eines »wind of change« durch Europa wehte. Für ihn, der als Student in Straßburg miterlebte, wie 1789 ein »entfesselter Mob« das Rathaus mit Beilen und Eisenstangen stürmte, war Revolution seitdem der Inbegriff von Chaos, Anarchie und Krieg.

Architektur Europas

Fast zwei Jahrzehnte lang hatte Napoleon ganz Europa mit Krieg überzogen und weite Teile des Kontinents unter seine Herrschaft gebracht. Nach seiner Abdankung im April 1814 entschieden sich die vier großen Siegermächte – England, Preußen, Österreich und Russland – die Landkarte Europas neu zu ordnen.

Das Hauptproblem war zunächst, wie man mit Frankreich, dem Urheber allen Übels (Revolution und kriegerische Expansion) umgehen sollte. Und da fanden die »Großen Vier« eine für die damalige Zeit höchst weitsichtige Lösung: Denn im Gegensatz zum Versailler Vertrag von 1919 ließen sich die Siegermächte nicht zu einer von Rachegedanken geleiteten Siegerjustiz hinreißen, sondern akzeptierten den besiegten Gegner als gleichrangigen Verhandlungspartner. Freilich erst, nachdem mit Ludwig XVIII. ein Vertreter jenes Hauses zum König von Frankreich berufen wurde, das 1789 durch die Revolution hinweggefegt worden war.

Unter der Leitung des österreichischen Außenministers Fürst von Metternich wurde in Wien über eine neue Sicherheitsarchitektur debattiert, in der für hegemoniales Bestreben kein Platz sein sollte. Das Bemerkenswerte daran war, dass man »gemeinsame Interessen definierte, um zu einer gemeinsamen europäischen Verständigung zu kommen«, so der französische Historiker Thierry Lentz. Leitmotiv war die Schaffung eines neuen Systems kollektiver Sicherheit für Europa, das auf dem Gleichgewicht der Kräfte beruhen sollte. Gleichgewicht bedeutete, dass niemand in Europa die Vorherrschaft haben sollte, damit der Frieden bewahrt blieb. Doch so innovativ der Gedanke eines kollektiven Sicherheitssystems auch war, so repressiv waren die Mittel, deren man sich bediente, um dieses zu »verordnen«. Denn das »System Metternich« war gleichzeitig auch eine Allianz gegen liberale Ideen, gegen das Gedankengut der Französischen Revolution.

Frankreichs Unterhändler Talleyrand-Périgord | Charles Maurice de Talleyrand-Périgord (1754-1838) war Frankreichs Chefdiplomat auf dem Wiener Kongress und vertrat damit die von den Siegermächten wiederhergestellte Monarchie. Zuvor hatte er sich jedoch auch in der Französischen Revolution engagiert.

Die Architektur der Wiener Friedensordnung beruhte auf drei politischen Prinzipien: der Restauration, also der Wiederherstellung des politischen Zustands vor der Französischen Revolution 1789; der Legitimität, der Rechtfertigung der alten monarchischen Herrschaftsverhältnisse; und der Solidarität, der gemeinsamen Interessenpolitik legitimer Fürsten zur Abwehr revolutionärer Ideen oder Bewegungen.

Kein Wunder, dass schon damals Kritik an der Vorgehensweise der Großmächte laut wurde, weil diese die politische Landkarte Europas über die Köpfe der Bewohner hinweg verändert und einen Kontinent der Monarchen, nicht der Völker geschaffen hätten. Nur wenige Monate nach der Unterzeichnung der Wiener Schlussakte ging der Metternich-Vertraute Friedrich Gentz mit den Signatarmächten hart ins Gericht: Erreicht habe die feierliche Zusammenkunft »nur Vereinbarungen zwischen den Großmächten […] und einige recht willkürliche Veränderungen im jeweiligen Besitzstand der kleineren Mächte«. Gentz’ Fazit: »Im Grunde waren sich die Großmächte nur einig, wenn es darum ging, anderen das Recht vorzuschreiben.« Und der polnische Historiker Adam Zamoyski urteilt im Abstand von 200 Jahren: »Dieses Entscheidungskartell hat schlichtweg beschlossen, Europa im gegenseitigen Einverständnis zu reorganisieren und zu lenken, ohne die kleineren Mächte, geschweige denn die öffentliche Meinung, zu beachten«.

Disharmonisches Miteinander

Trotz der glänzenden Fassade und aller nach außen hin zur Schau gestellten Solidarität blieb das »Konzert der Mächte« disharmonisch, weil Europas gekrönte Häupter nationale Machtinteressen verfochten. Schon vor Beginn der Verhandlungen hatte sich abgezeichnet, dass die grundsätzlichen Positionen der Mächte erheblich differieren. »Ehrliche Makler« saßen in Wien nicht am Verhandlungstisch, erklärt der Historiker Paul W. Schroeder. Vielmehr tobte hinter den Kulissen, in Kabinetten, informellen Besprechungen und vertraulichen Unterredungen eine erbitterte diplomatische Schlacht um Einfluss und Macht – und um eine möglichst günstige Ausgangsposition für die Zeit nach dem Kongress. Ein Musterbeispiel dafür ist die Garantieerklärung einer »immerwährenden Neutralität« für die Schweiz, die den Eidgenossen auf Betreiben Metternichs zugesprochen wurde. Für Paul Widmer ein geschickter Schachzug. Schließlich habe »Habsburgs Chefdiplomat in der Neutralität der Schweiz bloß ein Mittel gesehen, diese dem Einfluss Frankreichs zu entziehen und Österreich die Möglichkeit der Intervention zu geben«, so der an der Universität St. Gallen lehrende Historiker.

Russland: Zar Alexander I. | Alexander I. von Russland (1777-1825) war ein enger Freund von Friedrich Wilhelm III. von Preußen.

Gleich zu Beginn der Verhandlungen erhitzen sich die Gemüter an der Frage, wie und in welchem Umfang die Territorien aus der napoleonischen Konkursmasse unter den Siegermächten aufgeteilt werden sollten. Besonders heftig gerieten Österreichs Staatskanzler Metternich und der russische Zar Alexander I. aneinander. Ihr Streit drehte sich um einen jungen Staat auf dem Boden einer alten Nation, den die Befreiungskriege herrenlos gemacht hatten: das Herzogtum Warschau. Das zwischen 1772 und 1795 dreimal von Österreich, Russland und Preußen geteilte und von Napoleon ab 1807 unter Abtretung preußischen und österreichischen Territoriums geschaffene Herzogtum war seit der Niederlage des Franzosenkaisers von russischen Truppen besetzt.

»Im Grunde waren sich die Großmächte nur einig, wenn es darum ging, anderen das Recht vorzuschreiben«
Friedrich Gentz

Der Zar machte seinen Anspruch auf Polen geltend und schlug vor, Preußen als Kompensation für den Verlust seiner polnischen Gebiete mit Sachsen zu entschädigen. Dies wiederum stieß auf erbitterten Widerstand Österreichs und Englands, die durch ein Erstarken Russlands und Preußens das Gleichgewicht der Kräfte in Europa bedroht sahen. Zwar konnte der monatelang schwelende Konflikt am Ende dank einer Reihe geschickter Kompromisse beigelegt werden: Polen wird zum vierten Mal in nicht einmal 50 Jahren geteilt. Der größte Teil des nun aufgelösten Herzogtums Warschau geht an Russland, kleinere Gebiete fallen an Preußen und Österreich. Preußen erhält den nördlichen Teil Sachsens und weite Gebiete Westfalens und des Rheinlands. Doch gerade die Polen-Sachsen-Frage zeigt, wie brüchig die viel beschworene Solidarität der Allianz war, wenn es um Territorialfragen in Europa ging.

Zukunft Deutschlands

Als nicht minder heikel erwies sich die deutsche Frage, die von den europäischen Themen abgetrennt und in einem eigenen »Deutschen Komitee« beraten wurde. Dieses verstrickte sich in endlose Verhandlungen und kam erst zu einer abschließenden Lösung, als am 7. März 1815 in Wien die Nachricht eintraf, dass Napoleon die Insel Elba verlassen hatte und Richtung Paris marschierte. Die zentrale Frage war: Welches Band sollte die deutschen Staaten künftig zusammenhalten, nachdem sich das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1806 auf Druck Napoleons auflösen musste? Ein deutscher Nationalstaat kam für Metternich nicht in Frage, würde ein solcher doch auch andere Völker Europas, Ungarn, Tschechen, Slowaken, Kroaten, Serben, im habsburgischen Imperium ermutigen, eigene Staaten zu gründen – mit verheerenden Folgen für das österreichische Vielvölkerreich.

Schlacht von Waterloo | Noch während des Kongresses floh Napoleon von der Insel Elba und marschierte auf Paris, wo er in einer Art Putsch seine »Herrschaft der Hundert Tage« antrat. Sie endete mit der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815, als eine Koalition von Großbritannien, Preußen, Russland und Österreich den Franzosen endgültig niederrang.

Deshalb implementierte man im Herzen Europas den »Deutschen Bund«, einen lockeren Zusammenschluss von 38 unabhängigen Staaten und Städten ohne gemeinsames Oberhaupt oder ein Parlament aus gewählten Volksvertretern. Das einzige Verfassungsorgan dieses föderativen Gebildes war ein Gremium von Gesandten, die Bundesversammlung in Frankfurt am Main, die unter dem ständigen Vorsitz Österreichs stand. Damit wurden auch die in den Befreiungskriegen aufkeimenden Hoffnungen auf ein »Deutschland einig Vaterland« enttäuscht.

Bund von Thron und Altar

Die diffuse Idee, alle demokratischen und nationalen Bestrebungen schon im Keim zu ersticken, mündet am 26. September 1815 in die Gründung der »Heiligen Allianz«. Das Bündnis war zwar nicht Bestandteil der offiziellen Verhandlungsergebnisse des Kongresses, steht aber inhaltlich in einem engen Zusammenhang mit diesem und bildet einen entscheidenden Bestandteil des sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierenden »Systems Metternich«.

Zur »Heiligen Allianz« gehörten zunächst Preußen, Österreich und Russland. Dieses Manifest rief zur christlichen Brüderlichkeit auf und stand damit in direktem Gegensatz zur revolutionären Brüderlichkeit der Völker. Die drei Monarchen erklärten darin ihre Entschlossenheit, »sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort Beistand, Hilfe und Unterstützung zu gewähren«. Dies galt ebenso für die Bekämpfung von liberalen und anderen »umstürzlerischen Bestrebungen« wie für den Fall, dass einer der Vertragspartner in Gefahr geriet, seinen Thron zu verlieren. Die Herrscher von Gottes Gnaden beriefen sich auf ihre Verantwortung, die Kirche zu schützen und das Volk »gemäß den Worten der Heiligen Schrift« zu regieren.

Der englische Außenminister Castlereagh, der sich auf dem Wiener Kongress als ein kühler, aber kompetenter Sachwalter der Wiederherstellung des europäischen Gleichgewichts ausgewiesen hatte, nannte das Gründungsdekret ein »Stück sublimen Mystizismus und Unsinns«. Nichtsdestotrotz traten der »Heiligen Allianz« alle Monarchen des Kontinents und selbst die republikanische Schweizerische Eidgenossenschaft bei. Nur der durch den Kongress wiederhergestellte Kirchenstaat stellte sich quer, weil Papst Pius VII. sich weigerte, in »protestantischen und byzantinischen Ketzern« gleichwertige Vertragspartner anzuerkennen.

Multilaterale Diplomatie

Noch im Bann der Ereignisse von der Rückkehr Napoleons forcierten die Alliierten im November 1815 ihre Anstrengungen für die Schaffung eines neuen Systems kollektiver Sicherheit für Europa. Sie versuchten sich an einem ehrgeizigen Projekt, das heute als Kongresssystem bezeichnet wird und bis 1822 operierte. Bei diesen »Kongressen« handelte es sich um regelmäßige Treffen, die in verschiedenen europäischen Städten stattfanden (Aachen, 1818; Troppau, 1820; Laibach, 1821; Verona, 1822) – heute würden wir von »Gipfeln« sprechen. Hier wurde ein neues völkerrechtlich-politisches Instrument aus der Taufe gehoben, auf das in seiner Funktion als »Clearingstelle des Mächtekonzerts« in der Folgezeit immer wieder zurückgegriffen werden sollte, so der Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta zum Versuch der Schaffung einer permanenten multilateralen Diplomatie.

Allerdings scheiterte der Wille zur europäischen Verständigung zunehmend an nationalen Egoismen und an Meinungsverschiedenheiten über den wirklichen Zweck der Allianz. Kaum war die napoleonische Gefahr nach Waterloo endgültig gebannt, schwand auch der Fundus an Gemeinsamkeiten und mit ihm die Mechanik des Gleichgewichts der Kräfte. Erste Risse im europäischen Mächtekonzert traten 1819 mit den so genannten Karlsbader Beschlüssen auf, als im Geist der »Heiligen Allianz« eine Reihe von antirevolutionären Gesetzen den Deutschen Bund in ein repressives politisches Gebilde verwandelte. Die Bewegungsfreiheit wurde eingeschränkt, die Polizei erhielt weit reichende Sondervollmachten, die Zensur wurde in grotesker Weise verschärft: Jede Universität bekam einen staatlichen Kurator, jeder Hörsaal seine Spitzel. Selbst Predigten in den Kirchen wurden mitstenografiert.

»Der Wiener Kongress hat gezeigt, dass es leichter ist, sich Seelen anzueignen, als Herzen zu gewinnen«
Abbé Dominique-Dufour de Pradt

Um Europa vor liberalen und nationalen Bewegungen zu schützen, wurde im Troppauer Protokoll das Interventionsprinzip völkerrechtlich festgeschrieben. Aufstände, die das System der fürstlichen Legitimität gefährdeten, sollten bereits im Keim erstickt werden. Hierzu schlug Metternich den Aufbau einer europäischen Polizeizentrale vor, ein supranationales Informationszentrum, wo Erkenntnisse der politischen Polizei aus allen Ländern gesammelt, ausgewertet und ausgetauscht werden können. Dies ging den Briten dann doch zu weit. In England, wo in der Folge der industriellen Revolution das aufstrebende liberale Bürgertum zuerst zu politischem Einfluss gelangte, lehnte man nicht nur dieses frühe »Europol-Projekt« ab, sondern auch den auf Repression gründenden europäischen Ordnungsentwurf. Dies zeigte sich 1822 auf der Konferenz von Verona, als die Briten im Zuge des Freiheitskampfs der Griechen (1821) die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker unterstützten.

Die Bilanz des Versuchs, Europa nach Napoleons Abtritt von der Bühne der Geschichte neu zu ordnen, fällt zwiespältig aus: Einerseits implementierte die neue Wiener Ordnung ein Mächtesystem, das auf Kooperation statt auf Konfrontation setzte – und so dem von Kriegen geschundenen Europa ein Gleichgewicht der Kräfte und eine recht friedfertige Zeit bescherte. »Erstmals in der Geschichte«, so der Mainzer Historiker Heinz Duchhardt, »kam es zu einer Art von politischer Vertrauensbildung unter den Großmächten, weshalb man heute den Wiener Kongress als Geburtsstunde der modernen Diplomatie bezeichnet.«

Andererseits aber gründete die Wiener Friedensordnung auf den althergebrachten Prinzipien der Legitimität, welche die Privilegien des Adels festigte und liberale Ideen unterdrückte, aber auch vielen Nationen eine politische Existenz absprach. Es war dieses starre Festhalten an längst überkommenen Maximen, das den französischen Abbé Dominique-Dufour de Pradt (1759-1837), einen der Baumeister der Bourbonen-Restauration, zu der Bemerkung veranlasste: »Der Wiener Kongress hat gezeigt, dass es leichter ist, sich Seelen anzueignen, als Herzen zu gewinnen.«

Der Wiener Kongress zeigt aber auch, dass Friedensschlüsse auf Dauer keine Garantie dafür sind, dass alle Schwerter in Pflugscharen verwandelt werden. Rund 50 Jahre gelang es den europäischen Staatsmännern recht gut, mit Hilfe der Diplomatie Krisenmanagement zu betreiben. Doch dann versagte die Diplomatie zusehends. Die nationalistischen Kräfte gewannen die Oberhand, und die europäischen Staatsmänner schlitterten sehenden Auges in die »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« (George F. Kennan).

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