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Dunkle Materie: WIMP, wo bist du?

Seit Jahrzehnten versuchen Physiker, die Dunkle Materie zu entschlüsseln. Doch widersprüchliche Messergebnisse lassen die Forscher zweifeln, ob sie auf der richtigen Spur sind.
Xenon100-Experiment

Manchmal fragt er sich, wie oft eines der Teilchen schon mit seinem Körper kollidiert ist. Wie oft es in eine Zelle eingedrungen ist und den Atomkern herausgeschlagen hat. Wie oft es eine Spur hinterlassen hat in unserer Welt. "WIMPs durchdringen uns die ganze Zeit", sagt Alfredo Ferella. WIMPs, die "Weakly Interacting Massive Particles", die Teilchen der Dunklen Materie. Bisher sind sie nur eine Vermutung.

"Vielleicht gibt es WIMPs auch gar nicht", sagt der italienische Physiker. Vielleicht sind die Teilchen, die er seit neun Jahren sucht, nur ein Hirngespinst. Manchmal denkt er das, wenn er seinen Sohn ins Bett bringt, in Konferenzsälen sitzt, in die Kirche geht. Um es endlich herauszufinden, verschwindet er 70 Tage im Jahr in einem Tunnellabyrinth unter dem Gran Sasso, einem Felsmassiv zwei Autostunden östlich von Rom.

Im einem der größten Untergrundlabore der Welt, den Laboratori Nazionali del Gran Sasso, wollen Physiker die unsichtbaren Elementarteilchen endlich aufspüren. Damit möchten sie eines der größten Rätsel der modernen Physik lösen: Sterne, Planeten, Schwarze Löcher und Gasnebel erzeugen nicht genügend Schwerkraft, um die Bewegungen der Gestirne zu erklären. Die spiralförmigen Arme von Galaxien drehen sich schneller, als sie sollten. Gruppen aus Galaxien halten zusammen, obwohl sie viel zu leicht sind.

Gewichtsprobleme

Und nicht erst seit gestern plagen den Kosmos Gewichtsprobleme: Bereits kurz nach dem Urknall fehlte Masse. Da klumpte Materie an vielen Stellen zusammen, dabei reichte die Schwerkraft der durchs All schießenden Atomkerne dafür bei Weitem nicht aus. Seit 80 Jahren haben Physiker eine Vermutung, was dieses Rätsel lösen könnte: ein unsichtbarer Stoff, der den Raum zwischen den Sternen füllt. Die Schwerkraft dieser "Dunklen Materie" könnte die Bewegungen der Gestirne erklären. 26,8 Prozent des Universums soll sie ausmachen, haben Forscher aus den Daten des ESA-Satelliten Planck vor einigen Monaten gefolgert [1]. Die uns vertraute, sichtbare Materie kommt dagegen gerade mal auf 4,9 Prozent.

Verteilung der Dunklen Materie | 26,8 Prozent des Universums bestehen aus Dunkler Materie, schließen Forscher aus Daten des Satelliten Planck. Die dunkelblauen Regionen sind dichter als ihre Umgebung, die am wenigsten dichten Regionen sind hell eingefärbt. Grau gekennzeichnet sind Abschnitte, in denen störende Emissionen zu stark sind, um verlässliche Daten zu bekommen.

Doch woraus besteht der Dunkelstoff? Lichtschwache Objekte aus konventioneller Materie wie Schwarze Löcher oder Braune Zwerge scheiden aus. Das zeigen große Durchmusterungen des Kosmos wie das "MACHO"-Projekt [2]. Und auch Neutrinos – lange Zeit ein heißer Kandidat – lösen das Rätsel vermutlich nicht. Zumindest kann man aus den Planck-Daten herauslesen, dass es nur die drei bekannten Neutrino-Generationen gibt, die allesamt zu leicht sind. "So außergewöhnlich das klingen mag, aber die konservativste Erklärung ist eine neue Art der Materie", sagt der Kosmologe Michael Turner von der Chicago University.

Turner und viele andere Physiker gehen davon aus, dass die Dunkle Materie aus Elementarteilchen besteht, die nicht im Standardmodell der Teilchenphysik vorkommen. Der populärste Kandidat sind die "Weakly Interacting Massive Particles". WIMPs sollen nur über die Schwerkraft und die schwache Kernkraft mit sichtbarer Materie wechselwirken. Zwischen 10- und 1000-mal so schwer wie ein Wasserstoffkern müssten die Partikel sein, schätzen Theoretiker.

Tatsächlich sagen ambitionierte Erweiterungen des Standardmodells just solch ein Teilchen voraus: Unterliegt die Natur einer Eigenschaft, die Physiker "Supersymmetrie" nennen, müsste es zu jedem bekannten Teilchen ein bisher unbekanntes Partnerteilchen geben. Das leichteste von ihnen wäre das so genannte Neutralino, das viele Eigenschaften mit dem Teilchen der Dunklen Materie teilen würde. Am Superbeschleuniger LHC am Genfer Kernforschungszentrum CERN sind zwar bisher keine "Susy"-Teilchen aufgetaucht [3], aber die Forscher haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben.

"WIMPs passen zu allem, was wir wissen"
Alfredo Ferella

"WIMPs passen zu allem, was wir wissen", sagt Alfredo Ferella. Er führt den Besucher durch die drei dröhnenden Haupthallen der Laboratori Nazionali del Gran Sasso. Kurz darauf steht Ferella vor einer Hydra aus mattem Metall und setzt einen Schraubenschlüssel an eines der Rohre. "Jetzt können wir den Detektor spülen", ruft er zwei Kollegen zu. Das Zischen übertönt kurz selbst das rhythmische Quietschen der Pumpen im Hintergrund. Gespült werden soll ein bierfassgroßer Behälter, der wenige Meter von den wild schlängelnden Rohren entfernt steht, abgeschirmt hinter Bleiblöcken und Wassercontainern.

Störsignale

Der Xenon100-Detektor hält während des Betriebs nach einem extrem seltenen Ereignis Ausschau: dem Zusammenstoß eines WIMPs mit einem Xenonatomkern. Unser Sonnensystem müsste auf seinem Weg um das Zentrum unserer Galaxie pausenlos durch einen Nebel der Dunkelteilchen tauchen, vermuten die Physiker. Hunderttausende der Teilchen würden pro Sekunde jeden Quadratzentimeter der Erde durchdringen. Allerdings soll nur einmal pro Jahr ein WIMP in einem Kilogramm Erdmaterie hängen bleiben.

Passiert das, blinken am Rand des Xenon100-Detektors ein paar grüne Lämpchen auf. Zur Zeit des Besuchs im November ist der Detektor gerade abgeschaltet, im Normalbetrieb blinke es aber im Sekundentakt, erzählt Ferella. "Nein, das sind nicht alles WIMPs", ergänzt er schnell. Im Gegenteil: An 225 Messtagen im Jahr 2011 und 2012 haben die Forscher kein einziges Signal aufgefangen, das sie zweifelsfrei WIMPs zuschreiben können [4]. Was blinkt, sind Störsignale. Von der Radioaktivität im Fels, von Teilchen der kosmischen Strahlung, die durch den Fels dringen, von verirrten Neutronen. Oder von radioaktiven Kryptonatomen, die vereinzelt in dem Xenongas im Inneren des Detektors schwimmen.

Manchem Dunkle-Materie-Jäger dürfte das Negativ-Ergebnis von Xenon ein paar graue Haare beschert haben. Denn keine 200 Meter von dem kleinen Bierfass entfernt sieht man sich schon länger auf der Zielgraden. Die Natriumjodidkristalle des italienischen Experiments Dama zeichnen seit zehn Jahren im Juni besonders viele potenzielle WIMP-Signale auf, im Dezember dagegen stets deutlich weniger. Mit solch einem periodischen Signal müsste sich die Dunkle Materie bemerkbar machen, glauben die Forscher, wenn die Erde auf ihrem Weg um die Sonne mal mit dem stetigen Strom aus WIMPs fliegt und mal in Gegenrichtung.

Ein ähnlich schwankendes Signal fängt auch der Germanium-Detektor CoGeNT im amerikanischen Soudan Underground Laboratory in Minnesota auf [5]. Allerdings detektieren die Forscher Höhe- und Tiefpunkte des Signals in anderen Monaten als das Dama-Team. Grund zur Hoffnung geben indes noch zwei weitere Teams, die rätselhafte Signale in ihren Detektoren aufgespürt haben. Die Forschergruppe um CRESST – ein Detektor, der ebenfalls unter dem Gran Sasso steht – hat in den letzten Jahren 67 Ereignisse aufgefangen [6], von denen jedoch nicht alle durch Störquellen erklärt werden können. Und jüngst präsentierte die Forschergruppe vom amerikanischen Detektor CDMS-II drei vermeintliche Zusammenstöße von WIMPs und Atomen in den Siliziumkristallen des Experiments, die sich keiner Störquelle zuordnen lassen [7].

Das Kühlgehäuse von CDMS | Drei Detektoren von CDMS, installiert in ihrer Kryokammer. Die Detektoren befinden sich tief unter der Erde und werden fast bis zum absoluten Nullpunkt gekühlt, um die schwachen Stöße der Dunklen Materie zu messen.

Und auch im Weltraum knistert es. Der NASA-Satellit Fermi hat einen Überschuss an Photonen mit einer Energie von 135 Gigaelektronvolt aus der Richtung des galaktischen Zentrums aufgefangen – dort würde man besonders viel Dunkle Materie erwarten [8]. Handelt es sich bei WIMPs um die von der Supersymmetrie vorhergesagten Neutralinos, würden sie sich gegenseitig auslöschen, wenn sie sich im All begegnen (denn Neutralinos wären so genannte Majorana-Partikel, die ihre eigenen Antiteilchen sind). Bei solch einer Annihilation könnten zwei energiereiche Photonen entstehen.

Und auch andere Ergebnisse von Weltraumdetektoren bringen der Dunklen-Materie-Debatte Schlagzeilen. Der Satellit Pamela hat im Jahr 2008 einen Überschuss an Positronen im Weltall vermeldet – sie könnten wie Photonen aus WIMP-Annihilatonen in Dunkle-Materie-Wolken stammen [9]. Im April bestätigte die Kollaboration des an der Internationalen Raumstation montierten AMS-02-Detektors den Überschuss [10].

Allerdings ist es aus Sicht fast aller beteiligten Forscher zu früh, diese Ergebnisse auf WIMPs zurückzuführen. Denn für die meisten vermeintlichen Positivresultate gibt es andere Erklärungen, die zum Teil plausibler sind. So sieht Fermi auch einen Überschuss an Photonen, wenn der auf dem Satelliten installierte Detektor in Richtung Erde ausgerichtet ist. Und die zusätzlichen Positronen im Weltall haben ganz verschiedene Energien – wenn sie von WIMPs stammten, würde man nach Einschätzung vieler Physiker eher erwarten, dass sie alle dieselbe Energie haben.

Erklärungsnot

So scheint die wahrscheinlichere Erklärung eine andere zu sein: dass die Positronen aus einem oder mehreren erdnahen Pulsaren stammen und nichts mit Dunkler Materie zu tun haben. Und auch die Positivresultate der Untergrundlabore sind umstritten. Nicht nur, dass sie auf ein viel leichteres Dunkle-Materie-Teilchen verweisen als die Ergebnisse aus dem Weltall. Mit einer Masse im unteren Gigaelektronvoltbereich seien sie auch gerade in der Region, die sehr anfällig für nicht verstandene Störeffekte sei, kommentierte jüngst der renommierte theoretische Physiker Matt Strassler in seinem Blog. Und untereinander kompatibel sind die Ergebnisse von Dama, Cresst, CoGeNT und CDMS auch nicht wirklich: Die Spuren führen zu verschiedenen Teilchen mit jeweils anderer Masse und Kollisionswahrscheinlichkeit. "WIMPs sind beliebter, als sie es verdienen", schreibt Strassler.

"WIMPs sind beliebter, als sie es verdienen"
Matt Strassler

Liegen keine Messfehler vor, ließen sich die widersprüchlichen Beobachtungen wohl am ehesten mit ausgefuchsten Modellen erklären, etwa mit mehreren unterschiedlichen Dunkle-Materie-Teilchen, wie die Harvard-Theoretikerin Lisa Randall vor Kurzem vorschlug. Aber auch solche Überlegungen stehen im Widerspruch zum Ergebnis des Xenon100-Teams. "Wir bereiten den anderen Teams Kopfschmerzen", sagt Elena Aprile, die Leiterin der Xenon-Kollaboration. Dass etwa das Dama-Team WIMPs sehe, sei nur mit den Ergebnissen ihres Teams kompatibel, wenn WIMPs nicht mit den Atomkernen des Elements Xenon wechselwirken.

Ob das so ist oder sich in die Analysen einiger der Untergrundexperimente Fehler eingeschlichen haben, sollen neue Detektoren klären. In China und Amerika starten dieses Jahr weitere auf Xenon basierende Untergrundexperimente. Und in der Antarktis ist ein Detektor nach dem Vorbild von Dama geplant. Ab 2015 werden Alfredo Ferella und das Xenon100-Team dann einen tonnenschweren Nachfolgedetektor aufstellen, der die WIMP-Frage ein für alle Mal klären soll. Geht auch er leer aus, wird etwas wahrscheinlich, was viele Physiker fürchten: dass es WIMPs einfach nicht gibt.

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  • Quellen
[1] Planck Collaboration: Planck 2013 results. XVI. Cosmological parameters. arXiv:1303.5076v1 [astro-ph.CO], 2013.
[2] Alcock, C, et al.: The MACHO Project: Microlensing Results from 5.7 Years of LMC Observations. In: Astrophysical Journal 542, S. 281–307, 2000.
[3] Mitsou, V.A. et al.: Highlights from SUSY searches with ATLAS. arXiv:1210.1679v1 [hep-ex], 2012.
[4] Lavina, L.S. et al.: Latest results from XENON100 data. arXiv:1305.0224v1 [hep-ex], 2012.
[5] Aalseth, C.E. et al.: CoGeNT: A Search for Low-Mass Dark Matter using p-type Point Contact Germanium Detectors. arXiv:1208.5737v3 [astro-ph.CO], 2013.
[6] Angloher, G. et al.: Results from 730 kg days of the CRESST-II Dark Matter search. In: The European Physical Journal C 72, 1971, 2012.
[7] Agnese, R. et al.: Dark Matter Search Results Using the Silicon Detectors of CDMS II. arXiv:1304.4279v2 [hep-ex], 2013.
[8] Weniger, C.: A tentative gamma-ray line from Dark Matter annihilation at the Fermi Large Area Telescope. In: Journal of Cosmology and Astroparticle Physics 10.1088/1475–7516/2012/08/007, 2012.
[9] Cholis, I. et al.: The PAMELA positron excess from annihilations into a light boson. In: Journal of Cosmology and Astroparticle Physics 10.1088/1475–7516/2009/12/007, 2009.
[10] Aguilar, M. et al.: First Result from the Alpha Magnetic Spectrometer on the International Space Station: Precision Measurement of the Positron Fraction in Primary Cosmic Rays of 0.5–350 GeV. In: Physical Review Letters 110, 141102, 2013.

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