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Des Lebens goldner Baum

Aquarell von Goethe mit Frau

"Als ich gegen Abend in ein Wirtshaus eintrat und ein wohlgewachsenes Mächen mit blendendweißem Gesicht, schwarzen Haaren und einem scharlachroten Mieder zu mir ins Zimmer trat, blickte ich sie, die in einiger Entfernung vor mir stand, in der Halbdämmerung scharf an. Indem sie sich nun darauf hinwegbewegte, sah ich auf der mir entgegenstehenden Wand ein schwarzes Gesicht, mit einem hellen Schein umgeben, und die übrige Bekleidung der völlig deutlichen Figur erschien in einem schönen Meergrün."

Wer hat dieses physiologische Experiment am lebenden Objekt (und in anregender Umgebung!) beschrieben? Der gleiche Autor hat auch das obige Aquarell gemalt.

Wenn Sie etwa eine Minute lang möglichst starr auf die Nasenwurzel der dargestellten Dame starren und dann gegen eine weiße Wand, sehen Sie, wie sie wirklich aussieht.

Bei dem Text handelt sich um den § 52 aus Goethes Didaktischem Teil der Farbenlehre.

Es ist tatsächlich die erste Beschreibung des farbnegativen Nachbildes, bei dem die Zapfen der Netzhaut vorübergehend durch die Dauer-Exposition an Empfindlichkeit nachlassen, so dass die davon betroffenen Farbauszüge (Rot / Grün / Blau) bei der weißen Wand dann zu schwach erscheinen: Man sieht dann ein farbnegatives Bild an der weißen Wand. Dieses Bild wandert auch mit dem Blick mit und wird an verschieden weit entfernten Wänden als verschieden groß aufgefasst, und zwar umso größer, je weiter die Wand weg ist, denn das Gehirn versucht die bekannte Entfernung einzukalkulieren.

Ein mit der Computergrafik erzeugtes Farbnegativ sieht so aus, wie – weniger fein aufgelöst – auch Ihr Nachbild aussehen sollte:

Zu Goethes Farbenlehre wäre sehr viel zu sagen. Er selbst hat außer dem Faust keines seiner Werke wichtiger genommen als diese. Er war sicher nicht nur ein Dichter, der nebenbei mehr schlecht als recht in den Naturwissenschaften herum-dilettiert hat, sondern er war sehr vielseitig tätig: im bezahlten Hauptberuf Minister in Weimar, sein Hauptinteresse galt der Natur, die Mineralogie gehörte wegen der Bergwerke zu seinem Geschäftsbereich. Außerdem hat er den Zwischenkiefer des Menschen (der beim Erwachsenen nicht mehr getrennt zu sehen ist) entdeckt und einiges – insbesondere Physiologisches – im Bereich des Farbensehens.

Seine Art der Naturforschung war ausdrücklich unprofessionell (Ablehnung von technischen und mathematischen Mitteln) und von einer (zu) starken Voreingenommenheit im Sinne eines dogmatischen Pantheismus geprägt ("Gott und die Welt sind eins"). Damit geriet er in echte und vermeintliche Widersprüche zur Physik, vor allem in Bezug auf die Farben (eigentlich die Spektralbereiche: Viele der Diskrepanzen beruhen auf einer kurzschlüssigen Gleichsetzung). Außerdem veranlasste ihn seine Ideologie zu einer schon krankhaften Beschimpfungstirade gegen Newton, konzentriert in dem – von ihm selbst so bezeichneten – "Polemischen Teil" der Farbenlehre, der in manchen mehrbändigen Goethe-Ausgaben dezenterweise fehlt.

Auch wenn wir nicht der Meinung sind, dass dem Licht beim Zwingen durch einen engen Spalt Gewalt angetan wird, so kann für uns der Respekt vor der Natur trotzdem ein wertvolles Korrektiv zu einer hemmungslosen Ausbeutung und rücksichtslosen Ausforschung sein. Wenn man verschiedene Religionen und Weltanschauungen auch unter dem Aspekt der Tierversuche oder der Naturausbeutung miteinander vergleicht, so erweist sich Goethes Pantheismus dabei als sehr human, und zwar in einem modernen Sinne, der den Menschen als Glied der Natur und nicht als bedingungslosen Herrscher sieht.

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