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Nichts Genaues weiß man nicht

Treitz-Rätsel

Jemand berichtet von einer Glaskugel, deren Radius zwischen 1 cm und 4 cm liegt. Wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass er kleiner als 2 cm ist? Eddy sagt: 1/3, denn das Intervall von 1 bis 4 ist dreimal so groß wie das von 1 bis 2. Aber Freddy sagt: Das ist ja Blödsinn, die Volumina und vermutlich auch die Massen verhalten sich wie 1 : 8 : 64, die Intervalle also wie 7 : 63, also wie 1 : 9. Wer hat Recht? Oder ist die ganze Betrachtung sinnlos?

Man kann sehr wohl aus dem Dilemma folgern, dass eine Schätzung der Wahrscheinlichkeit sinnlos sei. Ich finde aber, dass man mit einiger Vorsicht doch etwas machen kann: Denken Sie sich unsere Glaskugel aus einem Sortiment von ganz vielen verschieden großen – und auch sehr verschieden großen – Kugeln per Zufall herausgegriffen.

Wenn man sich ganz viele sehr verschieden große Kugeln vorstellt, so ist es sinnvoll, sich eine Abstufung so vorzustellen: Jede Kugel ist im Mittel um etwa den gleichen Faktor größer als die nächstkleinere, vielleicht 1,001 oder 1,000036 oder so ähnlich. Entscheidend ist nun die Annahme, dass dieser Faktor bei kleinen Kugeln nicht wesentlich anders ist als bei großen.

Eddys Argumentation entspricht der Vorstellung, dass der Radius von einer Kugel zur nächstgrößeren immer um eine bestimmte Differenz zunimmt, vielleicht 0,3 mm oder 0,004 mm oder etwas in dieser Art. Dann kommen aber Kugeln, die kleiner als 0,004 mm sind, überhaupt nicht vor: Das wird aber durch nichts nahe gelegt. Freddy meint Entsprechendes über Volumendifferenzen: Auch dabei wird irgend ein Limit nicht unterschritten, aber bei den großen Kugeln gibt es ganz viele, die sich nur (relativ gesehen!) minimal unterscheiden.

Mein Lösungsvorschlag ist nun, dass ich mir eine Abstufung im Sinne einer geometrischen Folge (sozusagen "exponentiell" oder bei umgekehrter Sichtweise "logarithmisch"), also mit gleichen relativen Unterschieden zwischen ihnen als vernünftig vorstelle. Zwischen 1 mm und 1,001 mm Radius vermute ich also (etwa) so viele Kugeln wie zwischen 10 mm und 10,01 mm Radius.

Das Schöne ist nun, dass sich daran nichts ändert, wenn ich statt der Radien die Volumina betrachte: Zu diesen vier Radien (1;1,001;10 und 10,01) gehören Volumina, die sich wie 1 : 1,003 : 1000 : 1003 verhalten.

Als Wahrscheinlichkeit bekomme ich nun 1/2, denn von 1 nach 2 ist es eine Verdopplung, von 1 nach 4 sind es 2 Verdopplungen. Und bei den Volumina sind es von 1 nach 8 drei Verdopplungen und von 1 nach 64 deren sechs, also wieder doppelt so viele.

Es bleibt natürlich die Einsicht, dass eine derartige Abschätzung einer Wahrscheinlichkeit bestenfalls besser als nichts ist, aber nur wenig Anspruch auf allgemeine Anerkennung hat. Andererseits gibt es lebenswichtige Entscheidungen, die Mediziner oder Politiker mit Risikoabschätzungen treffen müssen, ohne hinreichend sicheres Wissen zu haben.

Martin Gardner diskutiert das Problem im Dezember-Heft 1970 des Scientific American, allerdings mit seiner Schlussfolgerung, dass die Mehrdeutigkeit des Begriffs "Größe" einer Kugel (Radius versus Volumen) überhaupt keine sinnvollen Vermutungen über Wahrscheinlichkeiten zulässt. Die Idee zu meinem (positiven) Lösungsvorschlag stammt natürlich vom Satz von Benford ab, an den Gardner in diesem Zusammenhang offenbar nicht gedacht hat.

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