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Potenzmengen

Register einer Orgel

In wie vielen verschiedenen Klangfarben kann man eine bestimmte Note auf einer Orgel spielen, die zehn Register hat (die Kombinationsregister sind bei diesen 10 noch nicht mitgezählt)? Wir nehmen an, dass alle Register auch wirklich diese Note erfassen, und zählen wegen der mathematischen Vollständigkeit auch den Fall mit, in dem alle Register ausgeschaltet sind.

Jedes einzelne Register verdoppelt durch die beiden Stellungen "Ein" und "Aus" die Zahl der Möglichkeiten, die alle anderen Register liefern.

\(n\) Register erlauben – einschließlich der Stille – \(2^n\) Klangfarben. Bei \(n = 10\) Registern also über 1000, da \(2^{10}= 1024\).

Mathematisch verallgemeinert, lässt sich sagen: Zu einer Menge aus \(n\) Elementen gibt es \(2^n\) verschiedene Teilmengen – wobei die beiden uneigentlichen Teilmengen mitgezählt werden, in denen entweder gar keine oder alle Elemente enthalten sind. Die Menge dieser Teilmengen heißt "Potenzmenge".

Bisher haben wir \(n\) als endliche positive Zahl angenommen. Wie ist es aber, wenn die Orgel abzählbar unendlich viele Register hat? Kann man dann die Klangfarben abzählen – also mit unendlich vielen natürlichen Zahlen durchnummerieren? Oder brauchen wir dafür eine noch größere Zahl (überabzählbar unendlich)?

Wir können die Klangfarben nicht mehr abzählen. Zum Beweis schreiben wir der Reihe nach für jedes Register eine 0 oder ein 1, je nach Stellung der Schalter. Nun denken wir uns einen Menschen, der behauptet, man könnte die Kombinationen aus unendlich vielen Registern durchnummerieren. Er muss uns dann eine Liste vorlegen: in jeder mit einer natürlichen Zahl nummerierten Zeile eine Möglichkeit; in jeder Spalte mit dem Schaltzustand jeweils eines Registers (0 oder 1). Diese Liste muss in keiner Weise geordnet sein (kann sie auch gar nicht), aber sie soll nach Möglichkeit vollständig sein.

1 0 0 1 1 0 0 0 0 1 1 ...
0 1 0 1 0 0 1 0 0 0 1 ...
1 1 0 0 0 0 0 1 1 1 1 ...
1 0 1 1 1 1 0 0 0 1 0 ...
0 0 0 0 0 0 0 1 0 1 1 ...
...

Wir zeigen nun, dass diese Liste unvollständig sein muss, indem wir eine Klangfarbe so zusammenbasteln: Das erste Register schalten wir anders (also Ein statt Aus oder Aus statt Ein), als in der ersten Zeile der Liste steht, das zweite Register anders als in der zweiten Zeile und so weiter: das Register Nr. \(n\) anders als in Zeile Nr. \(n\).

0 0 1 0 1 ...

Da sich die neue Zahlenfolge von allen übrigen unterscheidet, kann die Liste nicht vollständig gewesen sein. Na schön, sagen Sie vielleicht: es gibt also eine Klangfarbe mehr als die abzählbar vielen der Liste, aber es bleibt nicht bei dieser einen, sondern es kommt heraus, dass die überabzählbar große Zahl der Klangfarben gewissermaßen ungeheuer viel zahlreicher sind als die abzählbar vielen Zeilen (oder auch der Spalten) der Liste.

Das kann man so einsehen: Wir stellen eine Liste auf, bei der in jeder Zeile ab einer endlichen (für jede Zeilennummer wählbaren) Spaltennummer \(m\) nur noch Nullen kommen. Diese Liste von Zeilen kann man duchnummerieren, denn für jedes \(m\) gibt es endlich viele Möglichkeiten, aber \(m\) darf alle natürlichen Zahlen durchlaufen, es gibt also eine Summe aus abzählbar unendlich vielen endlichen Zahlen, die selbst abzählbar unendlich ist.

Die Wahrscheinlichkeit jedoch, durch zufälliges Schalten der einzelnen Register eine Zeile dieser Liste zu treffen, ist außerordentlich klein, nämlich kleiner als jede positive (reelle) Zahl. Die abzählbare Menge ist also nur eine winzige Teilmenge der überabzählbaren Menge der Klangfarben mit abzählbar unendlich vielen Registern.

Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass es eine solche Orgel gar nicht gibt und die (Nicht-)Abzählbarkeit ihrer Klangfarben daher eine reichlich akademische Angelegenheit ist. Tatsächlich wird in der Mathematik die Sache nicht mit Orgeln, sondern mit Zahlen und Koordinaten diskutiert: Reelle Zahlen sind Ketten von abzählbar unendlich vielen Ziffern (0 bis 1 oder auch 0 bis 9), und die Menge der reellen Zahlen ist überabzählbar. Der Beweis dazu erfolgt im Sinne des oben benutzten Diagonalverfahren von Georg Cantor. Dabei muss man allerdings beachten, dass zum Beispiel 0,5 und 0,4999… zwei verschiedene Darstellungen derselben reellen Zahl sind, und gewisse Vorsorge treffen. Nicht nur die rationalen Zahlen (Quotienten ganzer Zahlen und damit auch geordnete Paare ganzer Zahlen) bilden eine abzählbare Teilmenge der reellen Zahlen, sondern auch die algebraischen Zahlen (zu denen zum Beispiel \(\sqrt{2}\) gehört). Das sind alle Lösungen von algebraischen Gleichungen mit ganzzahligen Koeffizienten und natürlichen Exponenten.

Wie kann man zeigen, dass es nur abzählbar viele algebraische Zahlen gibt? Tipp: Weisen Sie jeder denkbaren Gleichung eine geeignete natürliche Zahl zu.

Wir weisen jeder Gleichung als "Höhe" die Summe aus dem höchsten Exponenten und den Beträgen aller (nach Voraussetzung beziehungsweise nach entsprechender "Erweiterung" ganzzahligen) Koeffizienten zu. Damit gibt es zu jeder solchen Höhe nur endlich viele verschiedene Gleichungen mit jeweils endlich vielen Lösungen. Die Gesamtzahl dieser Lösungen – also unserer algebraischen Zahlen – ist somit die Summe aus abzählbar vielen endlichen Zahlen und somit abzählbar. Die rationalen Zahlen sind darin locker enthalten (obwohl sie selbst schon abzählbar unendlich viele sind: man kann sie eben beide nummerieren), denn auch eine Gleichung vom Typ \(3x = 4\) gehört zu den algebraischen Gleichungen und eine rationale Zahl wie 4/3 somit zu den algebraischen Zahlen.

Die reellen Zahlen, die dann noch "übrig" bleiben, also fast alle, werden "transzendent" genannt. Die prominentesten von ihnen sind die Kreiszahl \(\pi\) und die Eulersche Zahl e.

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