Direkt zum Inhalt

Unendlich viele Schritte vor dem ersten?

Treitz-Rätsel

Unter den Paradoxa Zenons ist vielleicht das schlimmste, das Aristoteles unter dem Stichwort "Dichotomie" ("Zweiteilung") als das erste referiert: Eine Bewegung kann gar nicht stattfinden, weil sie nicht (in endlicher Zeit) in Gang kommen kann; denn bevor etwas irgendwo ankommt, muß es erst einmal den Mittelpunkt der Strecke erreichen, und bevor es das tut, muß es den Mittelpunkt der ersten Hälfte erreichen, und so weiter ad infinitum.

Ist das stichhaltig?

Für Aristoteles ist das einfach falsch, denn ihm ist völlig klar, dass zu den kleineren Wegstücken auch im selben Verhältnis kleinere Zeitspannen gehören. Für ihn sind Länge und Zeit teilbar, und zwar in Teile von endlicher Größe, aber beliebig oft und daher beliebig fein. Daher kann es nach seiner Meinung auch keine Atome (im Sinne Demokrits) geben.

Nun, wir glauben, dass es Atome gibt, und können sie sogar im Tunnelmikroskop zählen. Das ist aber für den antiken Streit zwischen den Verfechtern des Kontinuums (wie Aristoteles) und denen der Atomtheorie (Leukippos, Demokritos und spätere) nicht relevant, denn wir wissen ja seit 100 Jahren, dass die Bausteine der Chemie, die vor 200 Jahren das Etikett "Atome" angeklebt bekommen haben, mit Sicherheit nicht die kleinsten Bausteine sind. Man könnte fast genau so gut Legosteine als Atome bezeichnen mit der Begründung, dass sie bei angemessener Benutzung nicht zerteilt werden (solange die Kinder keine Kneifzangen nehmen und die Chemiker ihre Atome nicht den Kernphysikern übergeben).

Kehren wir zur Dichotomie zurück: Ob Raum oder Zeit so gequantelt sind (also eine Struktur haben wie die ganzen Zahlen),so wie es ziemlich sicher für die elektrische Ladung und einige andere Größen gilt, ist völlig ungewiss und eigentlich auch unwichtig, da ihre kleinsten Einheiten – wenn es sie gibt, Stichwort: Planck-Länge – um mehrere Größenordnungen kleiner sind als die Zahlenwerte, die in der Atomphysik als Abmessungen vorkommen.

Aber unabhängig davon ist die Dichotomie kein wirkliches Problem. Wenn Raum und Zeit kontinuierlich sind, greift das Argument von Aristoteles: Zum jeweils halben Weg braucht man auch nur die jeweils halbe Zeit, und die unendlich vielen gedachten Schritte, die sozusagen gemacht werden müssen, bevor es wirklich losgeht, benötigen eben nicht unendlich viel Zeit.

Sind Raum und Zeit dagegen "körnig", dann geht es eben mit irgend einem Schritt los, ohne dass ein halber davorzuschalten wäre.

Es ist völlig unklar, ob Zenon mit seinen (ich würde sagen: vermeintlichen) Paradoxien nur provozieren wollte oder ob er ernsthaft glaubte, dass Bewegung und Umwandlung nur Illusionen seien, in der Konsequenz der Lehren seiner Lehrers Parmenides, der nur dem Sein und nicht dem Nicht-Sein Existenz zusprechen wollte und als Folge davon auch nicht dem Werden, Vergehen oder Umwandeln.

Es gibt durchaus auch heute Philosophen, die Zenons Paradoxien (vor allem diese und die mit der Schildkröte) nicht durch die Analysis und die geometrischen Reihen als erledigt ansehen, sondern nach wie vor für ungelöste Probleme halten.

Ich sehe eher einen Sinn in einer Aufforderung, auf die sich die Eleaten (Parmenides und Zenon) und die Atomisten hätten einigen können. Bei aller Umwandlung in den Objekten der Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie) suche man nach dem Bleibenden: Erhaltungsgrößen, Daten und Strukturen.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.