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Kindesentwicklung: Leidet mein Kind unter Trennungsangst?

Fast jedes Kind fremdelt in den ersten zwei Lebensjahren. Kinder mit Trennungsangst zeigen ein solches Verhalten jedoch auch noch im Vorschul- oder Schulalter – und in extremer Ausprägung. Bei einer Trennung von den Eltern reagieren sie panisch. Eine ernst zu nehmende Störung, die behandelt werden sollte.
Kind mit Mutter

Tobias weint bitterlich. Er schreit und klammert sich an seine Mutter. Dabei hält er sich den Bauch vor Schmerzen und ist kreidebleich im Gesicht. Die Eltern sind verzweifelt: Wenn sie den 5-Jährigen nur Minuten allein lassen, scheint Tobias außer sich vor Angst. Tagsüber weigert er sich, ohne Mama oder Papa im Kindergarten zu bleiben, abends kann er nicht ohne sie einschlafen, nachts quälen ihn Albträume, in denen er von den Eltern getrennt wird. Beruhigen kann ihn nur die andauernde Nähe zu ihnen.

Tobias leidet unter Trennungsangst, einer emotionalen Störung des Kindesalters. Sie bezeichnet die übermäßig stark ausgeprägte Furcht davor, von den Eltern oder den engsten Bezugspersonen getrennt zu werden – und wird klar vom frühkindlichen Fremdeln unterschieden.

Fremdelt mein Kind – oder hat es Trennungsangst?

Ängste gehören zunächst zum Großwerden dazu – auch die Angst vorm Alleinsein. Mit etwa acht bis neun Monaten beginnen die meisten Kinder, sich unwohl zu fühlen, sobald sie von ihrer Mutter getrennt sind. Plötzlich werden sie extrem anhänglich, reagieren ängstlich in der Nähe von unvertrauten Personen: Die Kleinen fremdeln. »In diesem Alter stehen Kinder vor der Entwicklungsaufgabe, die Trennung von ihren Eltern zu erproben«, sagt Silvia Schneider, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum. Der Nachwuchs beginnt in dieser Phase auch zu krabbeln und kann sich so erstmals weiter als bisher von Mutter und Vater entfernen. »Lernen die Kinder, die räumliche Trennung auszuhalten, werden sie innerlich gestärkt und erfahren, was sie selbst bewältigen können«, so Schneider. Letztlich lässt das Fremdeln etwa zum Ende des zweiten Lebensjahres in der Regel von selbst wieder nach.

Mama bevorzugt | Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres bleiben viele Kinder am liebsten in der Nähe ihrer Eltern und reagieren Fremden gegenüber ängstlich. Weigern sich die Kleinen aber auch später noch, allein ins Bett oder in die Schule zu gehen, ist ein Besuch beim Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ratsam.

Doch bei etwa zwei bis drei Prozent der 4- bis 13-jährigen Kinder besteht die Angst vor einer Trennung von Mama und Papa weiterhin in extremer Ausprägung: Sie fürchten sich über die typische Altersstufe hinaus davor, ihren Eltern könne etwas Schlimmes zustoßen, so dass sie letztlich allein zurückbleiben würden. Die Betroffenen verbindet zudem die übermäßig stark ausgeprägte Weigerung, ohne ihre Bezugspersonen abends ins Bett zu gehen, im Kindergarten, in der Schule oder zu Hause zu bleiben. Steht eine Trennung bevor, werden diese Kinder sichtlich unglücklich, bekommen Schrei- und Wutanfälle, vielen wird übel, sie klagen über Bauch- und Kopfschmerzen oder erbrechen sogar. Die Ängste können dazu führen, dass das Kind sich in sich zurückzieht. »Wenn die Furcht die normale Entwicklung des Kindes behindert, weil es zum Beispiel wichtige soziale Erfahrungen nicht machen kann, sollte man an ihr arbeiten«, sagt die Psychologin. In diesem Fall liegt eine krankhafte Trennungsangst vor – und ein Kinder- und Jugendpsychotherapeut sollte aufgesucht werden.

Welche Ursachen hat die Trennungsangst?

»Es gibt keinen zuverlässigen Auslöser. Der Störung liegen immer komplexe Wechselwirkungen zwischen dem Temperament des Kindes und seiner Umwelt zu Grunde«, sagt Silvia Schneider. Empfindsame, schüchterne und zurückgezogene Kids haben ein erhöhtes Risiko, extreme Ängste zu entwickeln. Häufig haben diese Kinder bereits im frühkindlichen Alter sehr stark gefremdelt. Überbehütende Eltern wiederum helfen ihren (ängstlichen) Kindern, Furcht einflößende Situationen zu vermeiden, und verhindern dadurch, dass der Nachwuchs das Alleinsein aushalten lernt. Auch traumatische Erfahrungen von Verlust oder Ablehnung im frühen Kindesalter können zu der Entstehung von Trennungsangst betragen.

Was passiert bei einer Therapie?

Als wirkungsvoll haben sich Methoden der kognitiven Verhaltenstherapie erwiesen. In den ersten Gesprächen klären Kinder- und Jugendpsychotherapeuten dabei zunächst Kinder und Eltern über die Störung und ihre Entstehung auf. »Dann wird das Kind Schritt für Schritt an eine Trennung gewöhnt und das Alleinsein geübt«, so die Psychologin. Bisher führte das Vermeiden der Situationen dazu, dass die Ängste der Kinder aufrechterhalten wurden. Durch die Übungen in der Psychotherapiepraxis, aber auch im häuslichen Alltag erfahren die Kleinen nun nach und nach, dass sie stark sind und es schaffen können, ohne Mutter und Vater an einem Ort zu bleiben oder allein einzuschlafen.

Wie gut die Behandlung wirkt, machen mehrere Studien von Silvia Schneider und ihren Mitarbeitern deutlich: Die Forschungsgruppe konnte zeigen, dass etwa drei Viertel der Kinder mit Trennungsangst von der speziellen Therapie langfristig profitieren. »Der Effekt blieb über sechs Jahre nach der Behandlung stabil«, sagt die Wissenschaftlerin. Übrigens: Nach einer weiteren Untersuchung von Silvia Schneider spielt es für den Erfolg der Therapie keine Rolle, ob die Eltern in die Behandlung ihres Kindes mit einbezogen werden oder nicht.

Wie entwickeln sich Kinder mit Trennungsangst als Erwachsene?

Kindliche Trennungsangst hängt mit der Entwicklung von psychischen Erkrankungen im Erwachsenenalter zusammen, insbesondere mit der Entstehung einer Panikstörung, bei der die Betroffenen unter Panikattacken leiden. Eine Arbeitsgruppe um Silvia Schneider konnte in einer Analyse mehrerer Studien zeigen, dass Kinder mit unbehandelter Trennungsangst ein mehr als dreifach erhöhtes Risiko haben, als Erwachsene an einer Panikstörung oder einer anderen Angststörung zu erkranken. »Drei Viertel der Angststörungen beginnen bereits in Kindheit und Jugend«, sagt die Psychologin. Wichtig ist daher, die seelischen Probleme der Kleinen so früh wie möglich zu erkennen. Denn: »Durch eine Therapie in der Kindheit kann das Risiko für eine psychische Erkrankungen im Erwachsenenalter verringert werden«, so Schneider.

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  • Quellen

Kossowsky, J. et al.: The separation anciety hypothesis of panic disorder revisited: a meta-analysis. Am J Psychiatry 170, S. 768–781, 2013

Schneider, S., In-Albon, T.: Die psychotherapeutische Behandlung von Angststörungen im Kindes- und Jugendalter – Was ist evidenzbasiert? Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 34, S. 191–202, 2006

Schneider, S., Lavallee, K. L.: Separation Anxiety Disorder. In: C. A. Essau, T. H. Ollendick (Eds). The Wiley-Blackwell Handbook of The Treatment of Childhood and Adolescent Anxiety. John Wiley & Sons, 2013

Schneider, S. et al: Disorder-specific cognitive-behavioral therapy for separation anxiety disorder in young children: a randomized waiting-list-controlled trial. Psychother Psychosom 80, S. 206–215, 2011

Schneider, S. et al.: The efficacy of a family-based cognitive-behavioral treatment for separation anxiety disorder in children aged 8–13: a randomized comparison with a general anxiety program. Journal of Consulting and Clinical Psychology 81, S. 932–40, 2013

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