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Ein Klassiker ist wieder da

Es gibt Bücher, die darf man guten Gewissens als Standardwerke bezeichnen, und im Bereich deutschsprachiger Astronomieliteratur gehört Hans-Heinrich Voigts "Abriss der Astronomie" mit Sicherheit dazu. Seit dem Erscheinen der Erstausgabe 1969 hat der Abriss mehrere Überarbeitungen erfahren, die letzte Auflage war allerdings bereits mehr als 20 Jahre alt.

Angesichts der rasanten Entwicklung, die Astronomie und Astrophysik in dieser Zeit erfahren haben, ist ein Kompendium wie dieses Werk, das einen Überblick über alle Bereiche der modernen Astronomie geben will, in vielen Bereichen schon lange veraltet. Die jetzt erschienene Neuauflage wurde daher schon viele Jahre sehnsüchtig erwartet.

Der mittlerweile mehr als 90 Jahre alte Erstautor Voigt gab die grundlegende Überarbeitung und Erweiterung des zuvor noch direkt vom maschinengeschriebenen Manuskript reproduzierten Buchs in die Hände von Hermann-Josef Röser und Werner Tscharnuter. Die beiden scharten wiederum ein Team aus insgesamt 38 Autoren um sich, größtenteils Astronomen aus Heidelberg, die sich der einzelnen Abschnitte ihrer jeweiligen Fachgebiete angenommen haben. Das Ergebnis ist ein 1150 Seiten starkes Werk, inklusive eines mit 30 Seiten sehr reichhaltigen Stichwortverzeichnisses und eines 15 Seiten langen deutsch-englischen Fachwörterbuchs.

Die Grundlagen des Buchs waren einst Voigts Skripte zu seiner Astronomie-Einführungsvorlesung. Der Abriss war allerdings nie als ein einführendes Lehrbuch mit ausformulierten Texten und ausführlichen Herleitungen konzipiert. Es ist stattdessen eine stichpunktartige Sammlung von Fakten, Formeln und Begriffsklärungen, die aber dennoch deutlich mehr ist als eine reine Datensammlung wie beispielsweise "Allen's Astrophysical Quantities". Dieses Konzept hat auch die neue Fassung beibehalten, aufgrund des jeweiligen Stils der einzelnen Autoren sind die Textanteile der Kapitel aber unterschiedlich groß ausgefallen und mal mehr, mal weniger stark als Fließtext ausgelegt.

Entscheidend, um sich in einem Nachschlagewerk wie dem Abriss zurechtzufinden, ist die Strukturierung der einzelnen Kapitel und Abschnitte. Es kommen unterschiedliche Schriftgrößen zum Einsatz, die Verwendung einer serifenlosen Schrift für Abschnittsüberschriften verwirrt allerdings aufgrund der geringen Schriftgröße. Zur Hervorhebung einzelner Begriffe stehen sowohl Kursiv- als auch Fettdruck zur Verfügung.

Bei der Kennzeichnung von Schlussfolgerungen und Kernaussagen konnten die Autoren zwischen Einrückungen sowie einfachen oder doppelten seitlichen Markierungen wählen. Listen sind entweder alphabetisch oder nach Zahlen sortiert, verwenden teilweise aber auch Bindestriche, Pfeile oder Punkte zur Kennzeichnung der einzelnen Elemente. Besonders wichtige Formeln sind zudem durch Umrahmungen gekennzeichnet. Die Neuauflage schöpft also dahingehend fast jede typografische Möglichkeit aus, zum Teil wirkt dies aber übertrieben und ist der Übersicht nur bedingt zuträglich.

Die Einteilung der Kapitel folgt der klassischen Strukturierung von der sphärischen Astronomie über unser Sonnensystem, Beobachtungstechniken, Sternen, der Milchstraße und Galaxien zur Kosmologie und orientiert sich damit größtenteils an den vorherigen Auflagen.

Einige Bereiche wurden allerdings geteilt. So erhielt die Sonne, die sonst größtenteils im Rahmen der Sternatmosphären behandelt worden ist, jetzt ein eigenes Kapitel. Auch die Abschnitte zu Galaxien, aktiven galaktischen Kernen und zur Kosmologie, die zuvor in einem Kapitel vereint waren, sind jetzt eigenständig. Hinzugekommen ist außerdem ein kurzer Abriss über die Geschichte der Astronomie.

An anderer Stelle wurden viele Kapitel stark erweitert, beispielsweise im Hinblick auf die Entstehung von Planetensystemen oder Braunen Zwergen. Dennoch wird an dieser Stelle deutlich, dass es häufig nicht ganz einfach ist, die Einteilung der älteren Auflagen um neue Forschungszweige zu ergänzen. So ist die Einordnung des Abschnitts über Exoplaneten in das Kapitel, das sich eigentlich unserem Sonnensystem widmet, noch zu verschmerzen. Gammastrahlenausbrüche wirken im Kapitel über veränderliche und außergewöhnliche Sterne aber klar deplatziert.

Obwohl sich im Umfang der einzelnen Kapitel natürlich größtenteils noch die Vorlieben des Sonnenphysikers und Stellarastronomen Voigt wiederspiegeln, werde ich hier und da das Gefühl nicht los, dass einige der an der Neuauflage beteiligten Autoren etwas mehr Zeit in ihre Aufgabe investiert haben als andere. Ihre persönlichen Vorlieben scheinen nun ebenfalls durch, so ist beispielsweise ein neues (wenn auch kurzes) Kapitel zur Gamma-Astronomie hinzugekommen, während Neutrinos und Gravitationswellen im neu geschaffenen Kapitel zu physikalischen Prozessen versteckt sind. Dieses sammelt Grundlagen und theoretische Aspekte, die zuvor über einzelene Kapitel verstreut waren.

Auch ein so umfangreiches Buch mit mehr als 1000 Seiten kann natürlich nicht vollständig sein, dennoch wird so mancher Leser beispielsweise die Prozesse zur Entstehung der schweren Elemente vermissen. Besonders auffällig ist aber, dass für den Themenkomplex "Entstehung und Expansion des Universums, Dunkle Materie und Dunkle Energie" ganze 38 Seiten gewidmet sind, und damit weniger als beispielsweise dem Kapitel über Sternhaufen mit 44 Seiten.

Für die Neuauflage wurden die vielen handgezeichneten Skizzen und Grafiken der älteren Auflagen neu aufbereitet. Allerdings werden sie meist in recht kleiner Größe wiedergegeben, während einige Abbildungen von einer vergrößerten Darstellung profitiert hätten. Dem Kenner fällt an dieser Stelle auf, dass sich im Konvektionsmuster der bekannten Kippenhahn-Diagramme keine Gesichter mehr wiederfinden lassen. Neu hinzugekommene Grafiken wurden oft ohne Anpassung des Layouts aus anderen Publikationen übernommen. Das gesamte Buch enthält nach wie vor kein einziges Foto.

Neu hinzugekommen sind zusätzlich zu den kapitelweise angegebenen Referenzen mit weiterführender Literatur außerdem Verweise zu ausgewählten Webseiten. Allerdings ist die Sammlung der Links am Ende des Buchs recht umständlich geraten, die Bezeichnungen im laufenden Text sind oft genauso lang wie viele URLs. Zukunftsweisend wäre an dieser Stelle außerdem die Verwendung von QR-Codes gewesen, mit Hilfe derer sich die Webseiten mit mobilen Geräten direkt aufrufen ließen, zumal der Abriss nicht in digitaler Form erscheint.

Mehr oder weniger konsequent haben die Autoren außerdem versucht, das in weiten Bereichen der Astronomie immer noch unübliche SI-Einheitensystem zu verwenden. Hier besteht dementsprechend die Gefahr von Verwechslungen mit den jeweiligen Zahlenwerten in Fachartikeln oder weiterführender Literatur.

Auch wenn das hier Aufgelistete sich vielleicht etwas negativ lesen mag, ist den Autoren eine den vorangegangenen Ausgaben würdige Neuauflage gelungen, die voraussichtlich wieder über viele Jahre hinweg als Repetitorium für Studenten und als Referenz nicht nur für professionelle Astronomen, sondern auch für ambitionierte Amateure dienen wird.

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  • Quellen
Sterne und Weltraum 09/2012

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