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Die Illusion des freien Willens

"Es gibt im Gehirn keinen einzelnen Ort, wo alle Informationen zusammenlaufen, wo aus den verschiedenen Sinnessignalen schlüssige Bilder der Welt gefertigt werden, wo Entscheidungen fallen, wo das Ich ›Ich‹ sagt." Wo im Kopf werden dann Entschlüsse gefasst? Wolf Singer, Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, glaubt: Überall und nirgends – es gibt kein Befehlszentrum, das die Gesamtaktivität des Gehirns steuert.

In seinem Hörbuch "Bindungsprobleme" erläutert Singer folgendes Phänomen: Unser Gehirn kann Gegenstände in der Welt – beispielsweise einen Hund und sein Bellen – als Einheit wahrnehmen, obwohl kein Zentrum zu existieren scheint, in dem unterschiedliche Sinneseindrücke zusammenlaufen. Zudem funktioniert das Gehirn völlig führungslos, ohne einen Dirigenten. Singer argumentiert, dass zwar die Mechanismen dieser Selbstorganisation noch im Dunkeln liegen. Bekanntlich finde aber im denkenden Gehirn eine massive parallele Signalverarbeitung statt, die zielgerichtetes Verhalten produziere.

So sei es auch wahrscheinlich, dass unser Bewusstsein nur die Summe der Aktivitäten einzelner Großhirnareale ist. Diese Bereiche schauen gewissermaßen auf andere hinab, die sich mit der Verarbeitung von Seh-, Hör- oder Tastreizen beschäftigen. Doch wenn freie und unfreie Handlungen aus denselben Hirnprozessen resultieren, inwieweit kann ein Mensch für das verantwortlich sein, was er tut?

Singer denkt diesen Gedanken konsequent zu Ende: Wissenschaftliche Studien hätten bereits gezeigt, unser Gehirn verarbeitet Informationen, bevor sich das Bewusstsein darauf richtet. Demnach folgt unser Verhalten den Hirnprozessen – und löst sie nicht etwa aus. Dürfte es dann sein, dass nur auf Straf-täter mit einer physischen Hirnschädigung mildernde Umstände warten? Andere, die auf Grund ihres sozialen Umfeldes mit dem Gesetz in Konflikt geraten, weil sie beispielsweise Gewalt und Missbrauch ausgesetzt waren, dürften darauf kaum hoffen.

Wolf Singer erzählt seinen Hörern vom Wunder und Rätsel des menschlichen Gehirns: für ihn eine einzige geni-ale Selbstorganisation, die ausschließlich auf der zunehmenden Komplexität der Nervennetze in der Großhirnrinde basiert. Diese beeindruckende Vernetzung macht für Singer auch den Unterschied zum Tier – im Aufbau der Zellen und der Architektur sei das menschliche Gehirn nämlich gleich mit dem anderer Wirbeltiere.

72 Minuten lang dauert der Exkurs über unseren Denkapparat. Die CD steckt voller Hypothesen und provozierender Vermutungen. Doch leider erschließt sich manch komplizierte Problematik dem neurowissenschaftlichen Laien nur schwer. Wünschenswert wären ein einleitendes Kapitel über die Biologie der Nervenzelle und die Lernvorgänge im Gehirn sowie ein Beiheft mit Glossar.Dennoch: Singers Denkanstöße sind unterhaltsam und beschränken sich nicht auf neurobiologische Erkenntnisse. All das macht die "Bindungsprobleme" zu einer lohnenswerten Hörstunde.

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  • Quellen
Gehirn&Geist 5/2004

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