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Vergessene Katastrophe

Womöglich mehr Opfer als beide Weltkriege zusammen forderte die Influenza-Pandemie von 1918. Dieses Buch rekonstruiert die Geschehnisse.

Die Spanische Grippe von 1918 ließ ein Drittel der Weltbevölkerung erkranken und forderte mit 50 bis 100 Millionen Toten mehr Opfer als beide Weltkriege des 20. Jahrhunderts zusammen. Warum wissen wir dennoch so wenig über diese demografische Katastrophe, eine der größten in der Geschichte der Menschheit? Das versucht die preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin und Romanautorin Laura Spinney in diesem Werk zu beantworten. Sie stellt Menschen aus diversen Weltregionen vor und beschreibt an deren Schicksalen sehr anschaulich, wie sich die Grippe auf Gesellschaft, Politik und Kultur auswirkte und warum sie kollektiv weitgehend vergessen wurde. Die Autorin porträtiert Personen aus China, Indien und New York bis hin zum fernen Alaska und erläutert an deren Beispielen, wie verschiedene Länder und Kulturen mit den Folgen der Pandemie umgingen.

Spinney beleuchtet nicht nur die Geschehnisse um 1918, sondern auch, wie die Influenza in die Welt kam, welche Spuren sie bis heute hinterlassen hat und was wir aus ihr für die Zukunft lernen können. Die Pandemie 1918 verlief in drei Wellen, mit der tödlichsten im Herbst. Bei etlichen Infizierten verfärbte sich die Haut blauschwarz, und die Lungen liefen mit austretendem Blut voll, so dass die Patienten letztlich erstickten. Angesichts ratloser Ärzte deuteten viele die Krankheit als eine Strafe Gottes und suchten ihr Heil bei vermeintlich höheren Mächten. In Russland zelebrierten Menschen "schwarze Hochzeiten" auf Friedhöfen, in China versuchte man den "Teufel" mit Drachengöttern zu vertreiben. Vielerorts türmten sich unbestattete Leichen, da die Totengräber nicht mehr hinterherkamen. Der Rauch der Krematorien verdunkelte den Himmel. Nahrungsmangel und Plünderungen waren die Folge, in manchen Städten herrschten postapokalyptische Zustände.

Historisch folgenreiche Infektionswelle

Die Japaner bezeichneten die Krankheit als "Sumo-Grippe", die Inuit nannten sie lediglich "die große Krankheit", in anderen Ländern wurde sie nach Personen benannt. Es gibt drei Thesen dazu, wo die Grippe ihren Ursprung gehabt haben könnte: China, USA oder Frankreich. Keine dieser Vermutungen ist bis heute eindeutig bestätigt, aber eines steht fest, dass nämlich die Pandemie trotz ihres Namens nicht in Spanien begann.

Das Buch zeigt auf, inwiefern die Grippe den Lauf der Geschichte verändert haben könnte. So ist der Autorin zufolge denkbar, dass die medizinische Vernachlässigung der Briten in den indischen Kolonien zur Unabhängigkeitsbewegung beitrug oder dass die Influenza wegen der vielen geschwächten deutschen Soldaten das Ende des Ersten Weltkriegs einläutete. Sicher ist, dass die Pandemie ganze Familien auslöschte und mit all den Witwen und Waisen eine "verlorene Generation" hinterließ. Depression, Verzweiflung und Lethargie mündeten in kollektives Vergessen. So entschieden sich die Indigenen in Alaska zum "nallunguarluku", sinngemäß "so zu tun, als sei es nicht passiert". Das in den zurückliegenden Jahren gestiegene Interesse von Wissenschaftlern, Kunsthistorikern und Romanautoren hat zur Folge, dass die "vergessene Pandemie" allmählich aus dem Schatten des Ersten Weltkriegs tritt, wie die Autorin schreibt.

Lange war es ein Mysterium, warum die Spanische Grippe so tödlich verlief. Mittlerweile, so Spinney, kann die Wissenschaft Antworten darauf liefern. Forscher sind nach Alaska gereist, um im Permafrost konservierten Grippeopfern Lungengewebe zu entnehmen. Wissenschaftler in Atlanta haben 2005 in einem Hochsicherheitslabor das Virus von 1918 rekonstruiert. Solche Arbeiten liefern nicht nur aufschlussreiche Rückblicke, sondern helfen auch einzuschätzen, wann die nächste Pandemie kommen, wie schwer sie sein könnte und wie man sich optimal auf sie vorbereiten kann. In den kommenden 100 Jahren erwarten Experten mindestens vier Pandemien; bei wenigstens einer davon dürfte es sich um eine Influenza handeln.

Spinneys Werk stellt eine gelungene Mischung aus aufwühlenden anekdotischen Schilderungen und detaillierten Hintergrundinformationen dar. Die Autorin verzichtet weitgehend auf Fachjargon und überzeugt mit gut nachvollziehbaren Ausführungen zur Genetik und Biologie des Grippevirus. Zum positiven Gesamteindruck tragen auch die Schwarz-Weiß-Fotos am Beginn jedes Kapitels bei.

Der Autorin gelingt es, die Pandemie aus verschiedenen Blickwinkeln darzustellen und so die diversen historischen Schilderungen zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen. Dabei umreißt sie die Geschichte der Grippe von der Antike bis heute. Teilweise geht allerdings wegen der dicht gedrängten Darstellung verschiedener Charaktere und Ereignisse die Stringenz verloren. Unterm Strich lässt sich das Werk dennoch allen empfehlen, die sich für Geschichte und insbesondere die Spanische Grippe interessieren.

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