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Loblied auf die kalte Jahreszeit

Alle Jahre wieder stellt sich die Frage neu: Wird es weiße Weihnachten geben? Doch das Wetter macht uns ein ums andere Mal einen Strich durch die Rechnung. Die Wintermonate zeichnen sich zunehmend durch Regenwetter und frühlingshafte Temperaturen aus.

Diejenigen von uns, die nicht mehr ganz so jung sind, haben noch andere Erinnerungen, wenn sie an die Winter ihrer Kindheit denken: Eisblumen am Fenster; knirschender Schnee unter den Schuhen; Flockentreiben, das einem die Sicht nahm; eisige Kälte, die Gesichtsmuskeln lähmte; Schlittenfahren in tief verschneiten Landschaften, in denen kein Laut erklang und die Zeit stillzustehen schien. Heute sind das Ausnahmen.

Autor Bernd Brunner, Jahrgang 1964, spürt in diesem Werk auf vielfältige Weise dem Phänomen Winter nach. Hierzu begibt er sich in verschiedene Zeiten und an diverse Orte. Wir erfahren beispielsweise von besonderen Wettererscheinungen des arktischen und antarktischen Winters: Die Farben der Morgen- und Abenddämmerung seien oft stundenlang am Himmel zu sehen, neben Sonnen- und Mondringen und, mit etwas Glück, Polarlichtern.

Spiegels Erhellung

Der Schriftsteller erzählt vom Skiort Rjukan im Süden Norwegens, der im Winterhalbjahr komplett im Dunkeln liegt. 2013 hat man dort riesige Spiegel installiert, um während der kalten Jahreszeit die Sonne in das Bergdorf scheinen zu lassen, was als Jahrhundertereignis gefeiert wurde. Auf der anderen Seite des Globus, in der japanischen Ortschaft Shiramine, gibt es jeden Februar einen Grund zu feiern: Zum "Schneemannfest" platzieren die Menschen Schneemänner mit Kerzen vor den Häusern.

Als Leser(in) staunt man über schneebegeisterte Menschen wie Wilson A. Bently, dem es im Jahr 1885 gelang, die ersten Mikroaufnahmen von Schneeflocken zu machen. Man liest über die Orientierungslosigkeit in Schneewüsten und bekommt Lawinenüberlebende präsentiert. Und man lernt Tiere kennen, die sich gut an Kälte und Eis angepasst haben. Der Zitronenfalter (Gonepteryx rhamni) zum Beispiel lagert selbst produziertes Glyzerin ein und unterbindet so das Erstarren seiner Körperflüssigkeit. Auf diese Weise hält er bis zu minus 20 Grad Celsius aus. Der nordamerikanische Wald- oder Eisfrosch (Rana sylvatica) wiederum stirbt nicht, obwohl sich winters in zwei Dritteln seines Körpers Eiskristalle ausbilden und Herzschlag, Blutfluss und Atmung komplett aussetzen. Er bildet aus Glukose und Harnstoff ein Frostschutzmittel und verhindert damit das völlige Erfrieren.

Als die Flocken fielen

Der Winter stellte früher einen viel stärkeren Einschnitt in den Alltag dar. Häufig kam das Leben regelrecht zum Erliegen. Berghirten zogen sich zurück ins Tal; Ackerbauern fällten Holz, da die Landwirtschaft ruhen musste. Wer nicht unbedingt hinausmusste, blieb in der warmen Stube. Der Winter 1708/1709 gilt als einer der schlimmsten in der Geschichte. Nicht nur Seen und Flüsse, selbst Meere froren zu. Bäume starben, Tiere verendeten jämmerlich und in Massen. An öffentlichen Plätzen entfachte man Feuer, um die Armen zu wärmen; Wohlhabende wurden verpflichtet, Suppenküchen zu unterhalten.

Diesen existenziellen Schrecken lassen die heutigen Winter kaum mehr erahnen. Falls es überhaupt noch nennenswert kalt wird, dreht man die Heizung auf oder zieht dicke Winterkleidung an, die mit modernen Fasern isoliert ist. Manche Wissenschaftler spekulieren, die "chronische Wärme", der wir zwischen Herbst und Frühling ausgesetzt seien, rufe Herzkrankheiten und Übergewicht hervor.

Laut Brunner waren die Winter früher schöner, obwohl oder vielleicht auch weil sie härter waren. Die Kälte war intensiver, der Schutz vor ihr nicht so selbstverständlich wie heute, das Bedürfnis nach Wärme stärker. Vieles war nur vereint möglich, etwa das Beseitigen von Schneeverwehungen, das Freischaufeln von Wegen oder das Anschieben feststeckender Fahrzeuge. Man war stärker aufeinander angewiesen, was vielfach den Zusammenhalt förderte.

Bernd Brunner legt mit seinem Band eine gelungene Kulturgeschichte des Winters vor. Sie zeigt den Reiz "echter" Winter auf und legt dar, was die kalte Jahreszeit jenseits von Weihnachten und Wintersport ausmacht.

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