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Geißel Gottes?

Über das legendäre Reitervolk der Hunnen hat die Geschichte längst ihr Urteil gefällt, so scheint es. Maßlose Grausamkeit und unstillbare Beutegier gelten als Markenzeichen dieser Ethnie, die der römische Historiker Ammianus Marcellinus als "Saat des Verderbens" bezeichnete. Die Autoren des spätantiken Roms sahen in den Reitern die apokalyptischen Vorboten des nahenden Weltuntergangs.

Gerade einmal 100 Jahre hatten die Hunnen gebraucht, sich diesen Ruf zu erwerben. Im 4. Jahrhundert siedelten sie im Steppenraum nördlich und östlich des Schwarzen Meers, ab Mitte der 370er Jahre stießen sie nach Westen vor und brachten eine Völkerlawine ins Rollen, die sich durch halb Europa wälzte. Ihr berüchtigter König Attila, die "Geißel Gottes", ist als "Etzel" im Nibelungenlied verewigt.

Klaus Rosen beleuchtet das Reitervolk aus ungewöhnlicher Perspektive. Für den Bonner Althistoriker waren die Hunnen keine Bestien mit blindwütigem Zerstörer als Anführer, sondern "Global Player" der Völkerwanderungszeit, die sich klug den Gegebenheiten anpassten und Nutzen aus den instabilen politischen Verhältnissen zogen – einmal als Partner, einmal als Gegner Roms.

Auf dem Pferderücken durch Europa

Rosen sichtet Schriftquellen und rezipiert die einschlägige Fachliteratur, um sich dem Thema faktenbasiert zu nähern. Er zeichnet ein differenziertes Porträt von Attila, dem Enormes gelang. Der Hunnenanführer vereinte unterschiedlichste Stammesverbände von Steppenkriegern zu einer schlagkräftigen Kampfgemeinschaft unter seiner Führung. Damit eroberte er auf dem Boden des sich auflösenden Imperium Romanum ein "Hunnenreich". Dessen politisches Zentrum lag in der Ungarischen Tiefebene, von wo aus Attila weitere Gebiete an der mittleren und unteren Donau unter seine Herrschaft brachte, teils mit Waffengewalt, teils mit Verhandlungen. Die Steppenkrieger drohten den Römern militärische Aktionen an und erpressten so gewaltige Tribute und Schutzgelder. Paradox: Zugleich kämpften sie als Söldner in römischen Diensten. Denn die Beweglichkeit ihrer Reiterei, die Zermürbungskraft ihrer Pfeilsalven und die Wucht ihrer Nahkampfangriffe machte die Hunnen zu nützlichen Verbündeten – speziell gegen die ebenfalls hochagilen Germanen.

Ebenso wie andere "barbarische" Heerführer seiner Zeit wollte Attila das Imperium Romanum nicht zerstören. Er wollte dessen verführerische Ressourcen anzapfen. Er wollte integriert werden in die militärischen und administrativen Strukturen des Imperiums, um an den Überschüssen der mediterranen Welt teilzuhaben.

Mit großem analytischem Sachverstand und erzählerischer Kraft schildert Rosen, wie es Attila gelang, seine Gefolgschaft an sich zu binden und seine Macht zu konsolidieren, obwohl die Hunnen weder Reichs- noch Nationalbewusstsein hatten. Der Schlüssel hierzu lag im permanenten Gewinn von Beute und Ansehen, ähnlich wie bei den Germanen. Vom mächtigen Rom als Vertragspartner akzeptiert zu werden, steigerte das Renommee eines barbarischen Anführers vor den eigenen Leuten und sicherte seine Herrschaftsposition.

Zum Beutemachen verdammt

Allerdings konnte diese Stellung sehr leicht auch wieder ins Wanken geraten, wenn Erfolge – vor allem Geld, Waren und Luxusgüter – ausblieben. Dies umso mehr, da Attilas "Königreich" aufgrund seiner rudimentären Organisation keine eigenen Steuereinnahmen generierte. Im Jahr 450, als sowohl der oströmische Kaiser Marcian als auch sein weströmischer Kollege Valentinian ihre Zahlungen einstellten, saßen die Hunnen plötzlich auf dem Trockenen. Zum Beutemachen verdammt, marschierte Attila 451 mit einem großen Heer nach Gallien. Dort stellte sich ihm eine Koalition entgegen aus römischen, westgotischen, fränkischen und burgundischen Truppen unter Führung des römischen Heermeisters Flavius Aëtius (390-454). In einer wahren Völkerschlacht auf den Katalaunischen Feldern wurden die Steppenkrieger entscheidend geschlagen.

Nach dem Tod Attilas zwei Jahre später verschwanden die Hunnen ebenso schnell von der historischen Bühne, wie sie diese betreten hatten. Hundert Jahre nach ihrem Erscheinen zerfiel ihr "Reich", das mehr ein Personenverband als ein fest umgrenztes Staatengebilde war, sehr rasch. Die Überlebenden der multiethnischen Kriegergemeinschaft traten in römischen Reichsdienst, zogen sich nach Osten zurück oder gingen in anderen Stämmen auf. Ihr Schreckensbild aber lebte in der abendländischen Tradition weiter und dient bis heute als Projektionsfläche von Ängsten und Aggressionen.

Stilistische Brillanz und historischer Scharfsinn prägen Rosens ausgezeichnetes Buch. Es erlaubt den Lesern, sich ein fundiertes Urteil über die damaligen Vorgänge zu bilden.

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