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Auf der Suche nach letzten Antworten

"Wo die Wissenschaft an ihre Grenzen gerät" – der Untertitel trifft den Inhalt des Buchs sehr gut. Autor Rolf Heilmann verficht darin den Standpunkt, die Physik sei nicht der Weisheit letzter Schluss. Was in seinem Fall einiges Gewicht hat, denn Heilmann ist selbst Physiker, entwickelte Lasersysteme für Satelliten am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt und lehrt heute Physik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften München.

Auf die Frage, warum Gegenstände nach unten fallen, würden die meisten physikalisch korrekt mit der Gravitationskraft antworten, führt Heilmann beispielhaft an. Doch schon bei der simplen Nachfrage, warum es die Schwerkraft denn gebe, müsse auch ein gestandener Physiker die Segel streichen. Im Prinzip, schreibt der Autor, können alle Warum-Frageketten von Naturwissenschaftlern nicht abschließend beantwortet werden. Schon nach zwei- oder dreimaligem Nachhaken stießen wir an die Grenzen des Verstehbaren.

Gleichgültig gegenüber dem Unfassbaren

Eine Gewissheit über die ersten beziehungsweise letzten Ursachen könne die Naturwissenschaft nicht geben, betont der Physiker. Uns bleibe, über die Welt zu staunen, doch das hätten wir weitgehend verlernt. So nähmen wir ziemlich unbekümmert hin, dass wir auf einer riesigen rotierenden Kugel leben, die durchs leere All rast. Eigentlich sei das ungeheuerlich, doch man habe uns beigebracht, nicht weiter darüber nachzudenken.

In diesem Duktus fährt der Text fort bis vielleicht zum Ende des ersten Buchdrittels. Heilmann gemahnt zum Staunen und betont ein ums andere Mal, dass die Wissenschaft nicht alles erklären kann. Auf Dauer wirkt das ein wenig redundant, und man beginnt sich zu fragen, worauf der Autor eigentlich hinaus will. Zumal er gelegentlich von "Schöpfung" oder "Gott" schreibt und fragt, ob Gott einen Plan habe.

Es lohnt jedoch, die Lektüre durchzuhalten. Denn in den hinteren beiden Dritteln wird das Buch sehr interessant. Heilmann befasst sich hier mit Wissenschaftsgeschichte, physikalischen Theorien und erläutert, wie die heute gängigen Modellvorstellungen entstanden sind. Dabei zeigt sich, in welch großem Ausmaß die Physik auf Konventionen, Vereinfachungen und (wenig treffenden) Vergleichen beruht. So wurde die Richtung des elektrischen Stroms anfangs willkürlich festgelegt, und zwar falsch herum. Verblüffend: Basierend auf dieser irrtümlichen Konvention ließ sich eine gigantische Techniksphäre aufbauen, die sogar funktionierte. Elektrotechniker behalten die falsche Festlegung bis heute bei.

Schiefe Sprachbilder

Überhaupt ist der Begriff "elektrische Ladung" genau betrachtet ziemlich zweifelhaft, wie Heilmann darlegt. Er resultierte ursprünglich aus der Vorstellung, Körper, von denen elektrische Kräfte ausgehen, müssten zuvor mit etwas "beladen" worden sein. Doch wenn man einen Gegenstand elektrisch "lädt", wird er nicht messbar schwerer oder leichter. Wie soll man sich die elektrische "Ladung" also vorstellen? Am besten gar nicht, empfiehlt der Autor: Sie ist ein Modell. Besonders deutlich zeigt sich das, wenn Physiker im Hinblick auf die starke Wechselwirkung von "Farbladungen" sprechen: Diese sind nur noch bildhaftes Abstraktum. Heilmann warnt davor, solche Modelle für die Wirklichkeit selbst zu halten.

Im Lauf seines Buchs streift der Autor die newtonsche Mechanik, die maxwellsche Theorie der elektromagnetischen Felder, die Relativitätstheorie und vieles mehr. Auch auf die Quantenphysik geht er ein. Die Vorstellung des Quantums sei zunächst ein Notbehelf gewesen, mit dem Physiker wie Max Planck (1858-1947) selbst nicht zufrieden waren. Doch sie erlaubte, das Strahlungsspektrum eines Körpers in Abhängigkeit von seiner Temperatur exakt zu berechnen – eine Aufgabe, an der Physiker lange gescheitert waren. Auf dieser Grundlage entwickelte Erwin Schrödinger (1887-1961) eine "Wellenmechanik", die Quanten wie das Elektron mit einem mathematischen Gebilde namens Wellenfunktion beschreibt. Damit konnte man beispielsweise Orbitale ("Elektronenhüllen") von Atomen berechnen und grafisch darstellen. Doch was zeigen diese Bilder eigentlich? Sehen Elektronenhüllen wirklich so aus? "Den Begriff 'Aussehen' gibt es nur in unserer mittleren Welt", schreibt Heilmann, "im Nanobereich hat er keine Bedeutung mehr." Auch die Orbital-Bilder seien demnach nur Hilfskonstrukte.

Entropie, Emergenz, Symmetrie, Information: Der Autor erklärt die wichtigsten Schlüsselkonzepte der Physik. Es gelingt ihm, sie anschaulich zu machen und zugleich zu zeigen, wo sie an Grenzen stoßen. Physik ist demnach ein ungemein mühevolles Ringen darum, die Dinge in der Welt zu beschreiben. Dabei müssen wir mit einem evolutionär entstandenen Denk- und Wahrnehmungsapparat arbeiten, der lediglich an die Domäne der mittleren Abmessungen angepasst ist. Unsere bildhaften Vorstellungen, eingeschränkt vom Filter unserer Sinnesorgane, taugen deshalb nur für einen winzigen Bereich auf der Skala der Naturphänomene; überall sonst versagen sie. Trotzdem gelingt es Menschen, sich Modelle auszudenken, die korrekte Vorhersagen über die Dinge da draußen liefern, sei es in kosmischen Maßstäben oder auf der Ebene der Elementarteilchen. Wir machen uns zu selten klar, welch großes Wunder das ist: So lautet die überzeugende Botschaft dieses empfehlenswerten Buchs.

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